Einführender Vortrag zum Römerbrief
Kapitel 2
Am Anfang von Kapitel 2 finden wir den Menschen, wie er vorgibt, gerecht zu sein. Es geht immer noch um den „Menschen“ – genau genommen nicht um den Juden, sondern um den Menschen –, der, so weit möglich, aus allem, was ein Jude besaß, Nutzen gezogen hatte – auf jeden Fall durch die Wirksamkeit seines natürlichen Gewissens. Doch letzteres kann zwar das Böse entdecken, führt indessen niemals zum inneren Besitz und Genuss des Guten; es bringt nie eine Seele zu Gott. Folglich zeigt uns der Heilige Geist im 2. Kapitel den Menschen, wie er sich mit der Verkündigung dessen, was gut und böse ist, zufriedengibt. Er moralisiert für andere, mehr nicht. Gott fordert indessen Wahrheit in dem Menschen selbst. Das Evangelium betrachtet dies keinesfalls als unbedeutend. Es verteidigt ausschließlich Gott in seinen ewigen Wegen hinsichtlich dessen, was in jedem wirken muss, der mit Gott in Verbindung steht. Darum eröffnet uns der Apostel mit göttlicher Weisheit diese Wahrheit, bevor er von der gesegneten Befreiung und Erlösung spricht, die das Evangelium uns enthüllt. Im ernstesten Ton richtet er daher die Frage an den Menschen, ob er vielleicht denke, dass Gott zufrieden auf eine Person blicke, die zwar andere richtet, aber für sich selbst die Ausübung des Bösen erlaubt (V. 1–3). Solch eine sittliche Beurteilung lässt zweifellos den Menschen ohne Entschuldigung. Sie kann niemals Gott genügen oder zufriedenstellen.
Danach führt der Apostel die Grundlage, die Gewissheit und den Charakter des Gerichts Gottes ein (V. 4–16). „Welcher einem jeden vergelten wird nach seinen Werken: denen, die mit Ausharren in gutem Werke Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben; denen aber, die streitsüchtig und der Wahrheit ungehorsam sind, der Ungerechtigkeit aber gehorsam, Zorn und Grimm. Drangsal und Angst über jede Seele eines Menschen, der das Böse vollbringt, sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen“ (V. 6–9).
Es geht hier nicht um die Frage, wie ein Mensch errettet wird, sondern um Gottes unaufgebbares sittliches Urteil, welches das Evangelium, anstatt es abzuschwächen, entsprechend der Heiligkeit und Wahrheit Gottes bestätigt. Wir können infolgedessen feststellen, dass der Apostel in diesem Zusammenhang den Platz sowohl des Gewissens als auch des Gesetzes aufzeigt. Gott wird in der Ausübung seines Gerichts die Umstände und den Zustand jeder Menschenseele vollauf berücksichtigen. Gleichzeitig verbindet Paulus in einer einzigartig interessanten Weise diese Aufdeckung der Grundsätze des ewigen Gerichts Gottes mit dem, was er „mein Evangelium“ (V. 16) nennt. Das ist auch, liebe Geschwister, eine sehr wichtige Wahrheit, welche wir im Gedächtnis behalten sollten. Das Evangelium in seiner Erhabenheit schwächt keineswegs die sittliche Entfaltung dessen, was Gott ist, sondern hält sie vielmehr in voller Kraft aufrecht. Die Einsetzungen des Gesetzes standen in Verbindung mit zeitlichem Gericht. Das Evangelium, wie es jetzt im Neuen Testament offenbart worden ist, steht in Verbindung mit der Enthüllung des göttlichen Zorns vom Himmel her, auch wenn Letzterer nicht zu seinem unmittelbaren Inhalt gehört; und dies geschieht, wie wir bemerken, entsprechend dem Evangelium des Paulus. Es ist folglich offensichtlich, dass Gott in seiner unveränderlichen Wertung von Gut und Böse sich nicht der Stellung des Menschen in einer bestimmten Haushaltung anpasst. Allerdings richtet Er umso strenger dort, wo man sich höherer Vorrechte erfreut.
Damit ist der Weg offen, um auch den Juden ins Blickfeld zu rücken. „Wenn du aber ein Jude genannt wirst ...“ (V. 17). Letzterer hatte nicht nur mehr Licht. Natürlich hatte er dies, und zwar durch eine Offenbarung von Gott. Er besaß das Gesetz; er hatte Propheten; er besaß göttliche Einrichtungen. Ihn kennzeichnete folglich nicht so sehr und ausschließlich größeres Licht in seinem Gewissen; denn dieses gab es auch hin und wieder unter den Nationen, wie die früheren Verse unseres Kapitels voraussetzen. Die Stellung des Juden war hingegen direkt und unbezweifelbar eine der göttlichen Erprobungen in Bezug auf den Zustand des Menschen. Ach, der Jude war diesbezüglich keinesfalls besser als die Übrigen, es sei denn, sein Gewissen unterwarf sich Gott. Eine Zunahme der Vorrechte hat keinen Nutzen ohne Selbstgericht der Seele angesichts der Barmherzigkeit Gottes. Vielmehr vergrößert sie ihre Schuld. So böse ist der Zustand und der Wille des Menschen. Daher zeigt Paulus am Ende des Kapitels, wie dieses Urteil hinsichtlich der sittlichen Beurteilung des Juden sich als vollkommen richtig erweist. Niemand verunehrte Gott so sehr wie ein schlechter Jude. Seine eigenen Schriften bestätigten dies. Die bevorrechtigte Stellung der Juden hatte für sie keinen Wert. Andererseits hob das Fehlen einer solchen Stellung die Gerechtigkeit der Heiden keineswegs auf. Daher würde letztere tatsächlich das viel untreuere Israel verurteilen. Kurz gesagt: Ein Jude musste innerlich ein Jude und am Herzen beschnitten sein – im Geist, nicht im Buchstaben –, damit seine Vorrechte wirklich Nutzen brachten – „dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott ist“ (V. 29).