Das Buch Esther
Mordokais Ehrung und Hamans Fall
Zunächst wird hier gezeigt, wie die Hand Gottes nach außen hin unsichtbar, aber doch mittelst vieler an sich wenig bedeutender Umstände den Gang der Ereignisse Seinem göttlich gewollten Ziel zulenkt. Noch in derselben Nacht, da Haman sich auf dem Gipfel seines Ehrgeizes glaubt, wirft Gott das Steuer in die entgegengesetzte Richtung. Schon die angegebenen Zeitzahlen lassen dies erkennen: Vasti ist im dritten Jahr Ahasveros ungehorsam, Esther wird im siebten Jahr Königin und Hamans Los wird im zwölften Jahr geworfen und bestimmt den zwölften Monat zur Ausrottung Israels. Esther ordnet vor ihrem Gang zum König ein Fasten und Flehen von drei Tagen an und sorgt dafür, dass Ahasveros sein Versprechen dreimal wiederholt, bevor sie hervortritt. Drei, sieben und zwölf sind alles Zahlen der göttlichen Vollkommenheit, welche zeigen, wie die Vorsehung Gottes alles lenkt und die festgesetzte Stunde abwartet. Darum geschieht nichts zu früh und nichts zu spät, sondern alles zur richtigen Zeit nach Gottes Willen. Gott lässt das Böse ausreifen. Es muss in Seiner Hand mithelfen zur Ausführung Seiner Pläne. Gerade Seine Vorsehung tritt in dieser Geschichte so deutlich zutage. Es ist darum auch Gottes Hand, wie Mordokai andeutet, dass Esther gerade in dieser Zeit Königin geworden ist (Kapitel 4,4).
Das gleiche sehen wir in der Geschichte der Drangsal und Befreiung des gläubigen jüdischen Überrestes in der Zeit des Endes; auch dafür sind bestimmte Zeiten zum voraus festgelegt. Nebenbei gesagt, beziehen sich alle biblischen Zeitangaben nur auf Israel, niemals auf die Gläubigen der Jetztzeit, der Kirche oder Versammlung Gottes. Für diese haben wir einzig und allein die Angabe in Römer 11,25: „... bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist“, eine Zahl, die wir unmöglich kennen noch berechnen können. Gott hat sie für sich selbst vorbehalten (vergl. Apg 1,7). Aber für die Wiederannahme und die große Drangsal Israels sind bestimmte und zwar aus leicht verständlichen Gründen eng begrenzte Zahlen gegeben. Nach Daniel 9,24–27 folgt für Israel nach der Entrückung der christlichen Brautgemeinde noch eine „Woche“ von sieben Jahren, die noch nicht erfüllt ist. Sie dient zur notwendigen Sichtung des Volkes vor der Aufrichtung Seines Reiches. Die eigentliche große Drangsal wird dabei auf die Hälfte dieser Zeit beschränkt (dreieinhalb Jahre), eine abgekürzte Zeit, „weil sonst kein Fleisch errettet werden würde“ (Mt 24,22). Beachten wir die Form dieser Zahlenangaben. Für die furchtbare Drangsal sind es kleine Zahlen (halbe Woche = 42 Monate, oder Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit); für das mächtige Zeugnis der beiden Zeugen und die Ernährung Israels ist die gleiche Zeit mit 1260 Tagen angegeben (Off 11,12.13). Gott will damit sagen: „Seht, jeder Tag ist von Mir gezählt“. Welch eine Ermunterung für den leidenden Überrest.
Kapitel 6 zeigt uns zuerst wieder die Führung der göttlichen Vorsehung in einer Kette von Umständen, die sich aneinander reihen, welche der Unglaube Zufall nennt, die aber vielmehr eine wunderbare Folge einer bestimmten Planung sind. Warum fand der König gerade in dieser Nacht keinen Schlaf? Warum kam er gerade jetzt auf den Gedanken, sich die Chronik seiner Regierung vorlesen zu lassen, die doch für ihn wenig Erbauliches in Erinnerung bringen konnte? Warum musste man gerade auf den Bericht der von Mordokai aufgedeckten Verschwörung kommen? Warum fragte Ahasveros jetzt nach dessen Belohnung? Warum war diese damals vergessen worden? Warum musste ausgerechnet Haman gerade in diesem Augenblick in des Königs Hof eintreten? Ohne Zweifel zu einem ungewohnten Zeitpunkt. Es konnte doch nur Gottes Lenkung sein, welche diese an sich doch ungewöhnlichen Umstände so zusammenfügt, dass das gottgewollte Ziel erreicht würde.
Wir haben gesehen, wie Haman allein mit dem König von Esther zum Mahl in ihrem Hause geladen war, wodurch seine Überheblichkeit aufs Höchste gestiegen war, denn es war wirklich etwas Außerordentliches. Ach, wie oft hält der törichte Mensch sein irdisches Gelingen, selbst wenn es böse ist, für einen Beweis von Gottes Bestätigung und Gunst. Wir sehen es auch hier; Gott lässt das Böse zu, aber nur um dem Bösen selbst zum Fallstrick zu werden. Umso größer und schlimmer war dann auch Hamans Zorn und Hass, als er beim Weggehen Mordokai begegnete, der ihm nach wie vor nicht die geringste Ehre erwies. Hier ist Mordokai zugleich auch ein Symbol des treuen jüdischen Überrestes, der auch in der Drangsal treu und unverrückt am Glauben an Gott und Seinen Geboten festhält und sich weigert, das Standbild des „Tieres“ (Off 13,11–18) anzubeten. Mordokai ist dabei sicherlich durch das Gebet und Fasten und das Wissen um Esthers neue Gunst beim König nicht wenig gestärkt worden. So wird auch der Gläubigen Überrest am Ende der Tage nicht ohne Stärkung und Ermunterung sein.
Haman wirft nun alle Rücksicht beiseite und strebt mit Eile danach, diesen verhassten Juden Mordokai zu beseitigen und berät sich mit seinen Gesinnungsfreunden und seiner Frau. Wieder sind die Namen bedeutungsvoll. Haman bedeutet, wie schon gesagt: Empörer, Widersacher, der Name seiner Frau war Seresch = Elendskrone, Elendsbringerin; eine Andeutung des Wesens der Mächte von Satans Gnaden. Sie werden in der Endzeit noch viel ausgesprochener Empörer gegen Gottes Herrschaft sein. Sie bringen scheinbar Herrlichkeit und Wohlfahrt, aber es ist im Grunde nur Zerstörung der Ordnung, Elend und Verderben. Das Ergebnis der infernalen Beratung ist, im Garten Hamans seinen Galgen von fünfzig Ellen (etwa fünfundzwanzig Meter) Höhe zu errichten, um Mordokai dort anzuhängen, einen Galgen, der weit über Susan hinaus sichtbar sein und Mordokai zum allgemeinen Spott und Schauspiel machen würde.
Erinnert uns dies nicht an jenen andern Pfahl, das Kreuz auf Golgatha, an welchem einst unser hoch gelobter Herr und Heiland Jesus Christus genagelt und erhöht wurde. Satanischer Hass hatte für Mordokai diesen Tod der Schande bestimmt, aber Gottes Dazwischenkunft verhinderte das ruchlose Tun. Den Herrn Jesus, seinen eigenen Messias, hat der Hass des jüdischen Volkes an das Kreuz, die schimpflichste aller Todesarten, gebracht, und kein Dazwischentreten verhinderte diese Freveltat. Allerdings, Jesus musste durch diesen Tod gehen, um der ewigen Errettung Israels und unser aller willen. Gott aber wandte das Fluchwürdige in Segen; Er setzte Sein Siegel der vollen Anerkennung auf das vollbrachte Erlösungswerk, indem Er Ihn am dritten Tag auferweckte und zu Seiner Rechten erhob. Wie Haman seine Hand nicht an Mordokai legen konnte, so konnte der Fürst des Lebens nicht vom Tod behalten werden.
Auch darin ist Mordokai seinem herrlichen Gegenbild, Jesus Christus, gleich geworden, dass er auch wegen seiner Treue und seinem Gehorsam gegen die Gebote Gottes dem Hass des Feindes, der tiefsten Erniedrigung, ja dem Tod verfallen war, und dass gerade in dem Augenblick, da der Hass Hamans am Ziel zu sein schien, nicht Mordokais, sondern Hamans eigenes Ende gekommen war. So hat ja auch der Herr Jesus gerade durch Seinen Tod am Kreuz und durch Seine Auferstehung den großen Widersacher, den Teufel mit dessen eigener Waffe – dem Tod – überwunden und entwaffnet, wie einst David den Riesen Goliath mit seinem eigenen Schwert tötete.
Gerade hier griff Gottes Hand in wunderbarster Weise ein! In überbordendem Hass konnte Haman nicht früh genug zum König eilen, er brannte darauf, seinen Mordplan möglichst rasch zur Ausführung zu bringen. Damit muss er ausgerechnet in dem Augenblick vor den König treten, wo dieser den Befehl zur Ehrung von Hamans Todfeind erteilen will; und bevor Haman ein Wort von seinem Begehren sagen kann, muss er dem König den Vorschlag einer großen Ehrung machen. In seinem Eigendünkel und Selbstbewusstsein meint er, es gelte ihm, könne nur ihm gelten, nimmt er nun den Mund möglichst voll und spricht das Ziel seiner eigenen höchsten Wünsche aus. Wie muss er bestürzt gewesen sein, als er des Königs Befehl nun hört, dass er, ausgerechnet er selber, diese Ehrung an seinem Feind Mordokai, den er vernichten wollte, vollziehen muss. Aber es gab da weder Widerspruch gegen den Willen des Königs, noch eine fragende Einwendung; der Befehl musste sofort, eilends und genau ausgeführt werden, ohne dass zu einem Ausweichen noch eine Möglichkeit blieb. So muss er denn, ingrimmig und widerwillig, anstatt die begehrte Vernichtung Mordokais, dessen königliche Ehrung unverzüglich ausführen.
Haman konnte seinen Hass an Mordokai nicht auslassen, ja nicht einmal seinen Plan zur Sprache bringen, vielmehr musste gerade er dem Verhassten königliche Ehre erweisen. Erinnert uns dies nicht an Philipper 2,5–11? Dort steht, wie der Herr Jesus Christus, Gottes Sohn, freiwillig bis in die denkbar tiefste Erniedrigung hinabstieg, um unserer Errettung willen, aber von Gott zur höchsten Ehre und Herrlichkeit erhoben worden ist, Dem sich alles beugen und Ehre geben muss, ob willig oder nicht. Auch die Unterirdischen, d. h. die Verdammten, werden, wenn alles erfüllt sein wird, zähneknirschend dem Namen Jesus, den sie mit Füssen getreten haben, unbedingte Ehre geben müssen. So wie Mordokai bei seiner Erhebung keinen neuen Namen erhielt, sondern mit seinem missachteten Namen geehrt werden musste, so werden dereinst die Verdammten eben diesem verhassten Namen Jesus die höchste Ehre geben müssen.
So ist es immer in der Geschichte der Menschen: die Mächte der Welt und hinter ihnen Satan, der Gott dieser Welt, mögen sich erheben gegen den Höchsten, so hoch sie wollen und große Dinge vollbringen zu ihrem Ruhm, alle, Satan mit eingeschlossen, müssen dennoch tun, was Gott der Allmächtige zulässt und zur Erfüllung Seiner Ratschlüsse dient. Obwohl sie sich dabei selber erhöhen und sogar Gott absetzen wollen, müssen sie das vollbringen, was der Herr letzten Endes zur Erfüllung Seiner herrlichen Absichten benutzen will. Selbst Satan hatte geglaubt, am Kreuz Gottes Sohn beseitigt zu haben, und siehe, es ist seine eigene bittere Niederlage geworden. Der Lauf der Welt ist immer wieder derselbe: Mächte steigen auf und haben Gelingen, aber das Gelingen erzeugt Machthunger und Machtstreben, und dies führt weiter zu Machtgier und Machtrausch, woraus als sichere Folge Machtmissbrauch erwächst, kaum am Ziel angelangt, erfolgt automatisch der jähe Absturz. So wird es auch zur Zeit des Endes sein. All die großen Werkzeuge des Teufels: das Römische Tier (Weltreich), der Antichrist, der „König des Nordens“ usw., werden sich mit großen Worten, mit Lug und Trug gegen Gott, den Höchsten, und die Heiligen erheben und mit diesen Krieg führen, wobei maßlose Gräuel und Ströme von Blut ihren Weg bezeichnen; sie werden alle miteinander auf Gottes Volk losstürmen, aber dabei vom göttlichen Rächer verzehrt werden.
Kehren wir zu Mordokai zurück. Was folgert er aus dieser Ehrung? Gar nichts! Er setzt sich nach wie vor ruhig an seinen Posten und tut seinen Dienst weiter. Auch darin ist er ein Vorbild des Herrn Jesus. Obwohl Er vom Vater zur Rechten Seines Thrones erhoben ist, nimmt Er das Königtum nach außen hin noch nicht ein, wirkt aber weiterhin für die Seinen und verwendet sich für sie durch den Heiligen Geist als Sachwalter droben bei dem Vater (Mk 16,19–20; Sach 3; 1. Joh 2,1). Er ist zwar heute Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks (Heb 5 und 7), aber das dazu gehörige Königtum wird Er erst als Schlussstein Seines Werkes auf Erden nach der Vertilgung alles Bösen antreten. Heute beginnt Er sich wieder mit Seinem Volk Israel zu beschäftigen, da jetzt dessen Zeit, d. h. die letzte Jahrwoche Daniels in nahe Sicht gekommen ist. Schon ist ja dessen Wiederaufleben als eine geeinte Nation Tatsache geworden, dennoch ist es noch fern von Seinem Gott und Messias. Darum kann Er sich auch noch nicht zu Seinem Volk bekennen, das wird erst der Fall sein, wenn der gläubige Überrest wieder zu Ihm umgekehrt ist (Sach 1,3; Mal 3,7) und sich zu Ihm als Seinem Messias bekennt; gerade wie sich Mordokai erst offen zu Esther bekannte, nachdem sie sich vor dem König zu ihm und ihrem Volk bekannt hat. Dann erst wird Er Sein Königtum aufrichten.
Haman aber eilt, nachdem er den königlichen Befehl erfüllt hatte, niedergeschlagen heim, um seiner Frau und seinen Kumpanen zu erzählen, was ihm widerfahren war. Aber wie es immer geht, für den, der im Unglück ist, hat die Welt keinen Trost. Solange seine Sonne strahlte, da sonnten sich seine Freunde mit, jetzt aber wissen sie ihm nichts zu sagen, als ihn zu bedauern. Ja, sie erkennen nun den großen Irrtum Hamans und können ihm nur seinen gänzlichen Fall prophezeien; sie verstanden, dass Mordokai dem von Gott gesegneten Volk, Israel, entstammt und Haman deshalb zur Ohnmacht verurteilt war. Das ist immer die Weise Satans: erst verführt er zur Sünde, stellt sie golden dar, blendet den Menschen, und nachdem dieser in die Schlinge gegangen ist, macht er ihm die Sünde recht düster und unverzeihbar und sagt ihm, dass er nun verloren sei, um ihn zur Verzweiflung zu bringen.