Das Buch Esther
Die große Drangsal und der Überrest
Infolge des Erlasses Ahasveros', der die Juden dem Tod weihte, war Israel in großer Not und Trauer. Zwölf Monate lang befanden sie sich in Zittern, Furcht und Schrecken. Im Grunde war es eine Gnadenfrist, um die Heilspläne Gottes zur Erfüllung reifen zu lassen, andererseits aber auch, um ihre Herzen zur Einkehr und Umkehr zu Gott zu führen. Ganz denselben Zweck wird auch die von den Propheten so vielfach vorausgesagte große „Drangsal Jakobs“ in der Endzeit haben. Es wird eine scharfe Sichtung des Volkes zur Berufung und Absonderung des gläubigen Überrestes und zur Säuberung von aller Spreu des Unglaubens und der Ungerechtigkeit zur Folge haben (Sach 13,8–9; Dan 12,1; Jer 30,4–10; Mt 24,15–22). Diese Drangsal wird, wie diejenige durch Haman, ganz Israel, ob im Land oder noch außerhalb desselben erfassen. Die im Land befindlichen Juden wird es naturgemäß in besonderem Maß treffen.
Zunächst aber berichtet das vierte Kapitel besonders von der Wehklage Mordokais, durch welche er von seinem Dienst im Tor des Königs abgeschnitten erscheint, auch hierin ein schönes Vorbild unseres Herrn (vergl. Ps 102 und 22; Jes 53). Auch Christus kämpfte ja in Gethsemane in großer Angst und Betrübnis: „Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“, aber nicht, weil Er selbst unter dem Todesurteil gestanden hätte, nein, das kam nicht in Frage, denn Er war ja auch als Mensch heilig, sondern weil Er unser Todesurteil auf sich genommen hatte, um uns daraus zu erretten. Das war doch für Ihn ein furchtbarer Entschluss, deren Tragweite Er wohl als Gott ermessen konnte und zugleich als wahrer Mensch hienieden empfand; unendlich schwerer als das, was Mordokai bevorstand. Und Mordokai konnte mit Recht auf die Gnade und die Rettung durch Gottes Hand vertrauen; der Herr Jesus aber musste den Weg des Todes gehen, wenn uns, und ganz ebenso auch Israel, Rettung werden sollte. Für Mordokai wurde durch Esthers Vermittlung ein Ausweg gefunden, aber für den Herrn gab es keinen anderen Weg als den des Todes.
Für die Juden gab es nun nur eine einzige Möglichkeit, vom Tod errettet zu werden, nämlich die, dass Esther vielleicht beim König Gnade finden könnte; denn nur des Königs Gnade konnte das Unglück noch abwenden. Sehen wir hier nicht die wunderbare Liebe und Gnade Gottes! Als heiliger und gerechter Gott kann Er nicht im Geringsten von den heiligen Forderungen Seiner Gebote abgehen. Aber Seine Natur ist Liebe und darum auch voller Gnade; so konnte die göttliche Allweisheit den Weg finden, diese Gnade mit Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit zu verbinden, indem Er durch Seinen eingeborenen Sohn am Kreuz selber der Gerechtigkeit Genüge leistete. Dadurch ist nun der Weg frei geworden, in Gnade mit uns zu handeln und uns vom Tod zu erretten. Auch das Alte Testament ist voll von dieser Gnade Gottes. Wie erhaben ist z. B. die Erfahrung, welche Mose von dieser Gnade machte, als er für das Volk wegen der Sünde des goldenen Kalbes einstand (2. Mo 30 – 32)! Empfangen wir beim Studium der Propheten nicht einen tiefen Eindruck von der wunderbaren Gnade Gottes? Immer wieder findet Gott in den bittersten Anklagen und Gerichtsandrohungen gegen das rebellische Volk die innigsten und gewichtigsten Worte der Gnade und Liebe (vergl. z. B. Jes 42 und 43).
Auf diese Gnade des Königs setzt nun Mordokai seine Hoffnung, darum gebietet er Esther, diesen Weg zu beschreiten, wobei er nach Vers 14 völlig auf Gott vertraut, obgleich er dessen Namen nicht nennt. Zwar war damals dieser Weg nach menschlichem Urteil verschlossen, weil niemand ungerufen zum König hintreten durfte und Ahasveros Esther vergessen zu haben schien, so dass alles einzig und allein von der Gnade des Königs abhing. Denn wenn auch Esther als Königin unter des Königs Schutz und Schirm stand, so hing doch auch über ihr das Schwert des Todes, das sie treffen würde, sobald ihre Zugehörigkeit zum Volk der Juden bekannt würde. Sie ist auch hierin ein Vorbild des treuen Überrestes aus Israel, der zwar in Offenbarung 7 von Gott für sich versiegelt, d. h. sichergestellt wird, dennoch die ganzen Schrecken der große Drangsal durchmachen muss, aber am Ende bewahrt aus derselben hervorgehen wird.
Auch Esther stand mit Mordokai wie das ganze Volk unter dem Todesurteil, auch ihre hohe Stellung konnte sie nicht schützen, wenn nicht die Gnade des Königs sie befreit. So sind alle Menschen ohne Ausnahme der Sünde wegen dem Tod verfallen; selbst der nach menschlichem Maß Gerechteste. Denken wir an den frommen und gerechten Nikodemus, auch er kann nicht anders als durch die Wiedergeburt aus Gott die Seligkeit erlangen; denn „der Tod ist von Adam her zu allen Menschen durchgedrungen“ (Rö 5,12). Nur durch die Gnade in Christus ist ein Weg zur Errettung geöffnet, vermittelst Seines stellvertretenden Todes für uns. Auch der gläubige Überrest Israels bei seiner Wiederannahme wird es lernen, dass er nur durch diese Gnade in der großen Drangsalszeit erhalten und bewahrt bleiben kann.
Ganz ebenso wie die Lage der Juden zu Hamans Zeit ist die Israels während der großen „Drangsal Jakobs“, wo alle Nationen in tiefem Hass gegen dasselbe andringen werden und sich kein einziger Freund unter ihnen mehr finden wird. Erleben wir es nicht schon heute, wie bisherige Freunde wie England sich von den Juden abwenden, oder sie doch im Stich lassen? Auch das ist Gottes Führung, damit das Volk verstehen lerne, dass es von Gott allein, bzw. von Seinem Gesalbten, dem Messias, Jesus Christus, zu seinem erstrebten Ziel geführt werden kann, und dass es daher zuerst zu Ihm umkehren und Seine Gnade erbitten muss. Aber bis heute hat es den Zugang zu Gott noch nicht gefunden. Es pocht auf seine Gesetzesgerechtigkeit und auf sein Anrecht als Abrahams Nachkomme, dass Gott ihm helfen müsse. Gerade dem frommen Juden fällt nichts schwerer als von der Gnade Gottes Gebrauch zu machen, Buße zu tun und auf seine Vorzüge Verzicht zu leisten. Aber solange er dieses nicht lernt, bleibt ihm der Zugang zu Gott verschlossen. Das gilt nicht nur für Israel, sondern auch für uns.
Was nun Mordokai der Esther sagen lässt, ist sehr schön und bedeutungsvoll. Dass Gott, obwohl er Dessen Namen nicht nennt „von einem anderen Ort her“, den Juden helfen werde, daran zweifelt er nicht, aber Esther lässt er wissen, dass sie, wenn sie den Weg der Anrufung der Gnade des Königs, der ihr allein offen stand, nicht gehen werde, sie auch als Königin umkommen werde, um ihres Ungehorsams willen. Zweitens weist er sie darauf hin, dass Gott sie sicherlich gerade deshalb auf ihren hohen Platz geführt habe, damit sie zu Gunsten ihres Volkes davon Gebrauch mache. Esther zeigt nun ihrerseits ihre Glaubenskraft und ihr Verständnis darin, dass sie bereit ist, den Weg des Gehorsams zu gehen, ihr Leben einzusetzen und andererseits Mordokai und die Juden in Susan auffordert zuvor mit ihr drei Tage lang in Buße und Fasten, in Flehen und Gebet vor Gott zuzubringen. Welch gottgemäße Zubereitung zur Ausführung dieser schweren Aufgabe! Auch für uns Christen ist wahres Fasten nicht überflüssig. Stehen wir vor großen Aufgaben, so erfordert dies die unbedingte Beiseitelegung alles dessen, was die Konzentration auf den direkten und innigen Umgang mit dem Herrn irgendwie stören und ablenken könnte. Für Esther war nun der Augenblick gekommen, die schwere Aufgabe zu erfüllen, nämlich die Kundgabe ihrer jüdischen Abstammung.
Kapitel 5 beginnt mit den Worten: „Und es geschah“, nämlich Esthers erfolgreicher Gang zum König. Ja, dass Esther diesen schweren Gang tun konnte und die gewünschte Hilfe erreicht wurde, das hing einzig davon ab, dass Esther, Mordokai und die Juden dem Fasten und Beten den ihm gehörenden Platz gaben, und drei Tage lang, d. h. in vollkommener Weise, ausharrten, bis Gottes Stunde gekommen war. Auch der treue Überrest des Endes wird in ernstem Flehen zu Gott ausharren und anhalten müssen, bis der Augenblick der Errettung gekommen sein wird. Auch für uns ist dies die Regel. Bevor wir irgendein Werk unternehmen, Evangelisation usw., oder vor schweren Entscheidungen stehen, wozu wir Gottes Eingreifen, die Kraft und die Leitung des Heiligen Geistes besonders bedürfen, muss ernstliches Flehen und geistliches Fasten voraus gehen, wenn „etwas danach geschehen“, d. h. Gott für uns handeln und unserem Tun Gelingen und Gedeihen geben soll. Ermangeln wir der Antwort Gottes, so liegt es vor allem daran, dass es am eifrigen Flehen und gottgemäßem Fasten gefehlt hat.
Alles dieses ist bedeutsam auch für die kommende Endzeit, in welcher der treue Überrest erst kundwerden und hervortreten muss, um sein Zeugnis auszurichten. Schon heute gibt es, auch in Palästina einen solchen Überrest, christusgläubige Juden, welche den Glauben an Jesus noch verbergen, und sich an die jüdischen Ordnungen halten, weil sie Juden bleiben und nicht, wie sie sagen, „in den Heidenchristen aufgehen wollen“. In der großen Drangsalszeit, nach der Entrückung der Brautgemeinde (Kirche) wird dieser Überrest die Aufgabe haben, Gottes Zeugnis vom Königreich des Messias auszurichten. Es ist dies der einzige Weg zum Ziel; Israel muss zu Jehova umkehren und zwar in tiefer Trauer und Buße den Gekreuzigten erkennen, damit es Gott wieder finden kann. Dieser Überrest wird darüber belehrt sein, dass es ihm nicht durch Menschenkraft und Menschenarm gelingen kann. Es wird sein Land einzig und allein aus der Hand seines Messias empfangen und zwar nur auf dem Weg der Gnade. Nach den Schriften kann dieser Messias kein anderer sein, als der Sohn des Menschen, Jesus Christus, den es einst verworfen hat. Das Bild der zwei Zeugen in Offenbarung 1 zeigt etwas von der Kraft, mit der Gott dieses Zeugnis versehen wird. Jener Überrest wird auch wie Esther unter dem furchtbaren Druck der Drangsal stehen, z. T. auch den Tod erleiden müssen, aber in kurzer Frist wieder auferweckt und in den Himmel entrückt werden. Er gehört noch zur ersten Auferstehung (vergl. Off 20,4–6).
Was Esther richtig erfasst hatte, nämlich dass der Weg der Erfahrung der Gnade mit vorausgehendem Gebet, Fasten und Buße verbunden ist, das muss auch der treue Überrest Israels in jener Drangsalszeit lernen. Er muss auch zuerst, bevor er seinen Messias als König und Befreier begrüßen kann, Ihn als den einstmals Verworfenen und Gekreuzigten erkennen und annehmen. Sacharja 12,10–14 beschreibt dies eingehend. Auch der Herr selbst sagt es in Matthäus 24,29–31, dass der Überrest den Messias aus dem Himmel kommen sehen wird und Ihn an den am Kreuz empfangenen Wunden erkennen und darüber wehklagen wird. Gott wird ihm den Geist „der Gnade und des Flehens“ geben, d. h. Israel wird zugleich die unendliche Gnade des Herrn erfassen und in tiefster Buße über das Verkennen und die Behandlung seines Messias klagen und weinen.