Das Buch Esther
Mordokai und Esther
Hier treten nun die beiden eigentlichen Hauptpersonen der Erzählung Mordokai, der Jude, und Esther, die neue Königin in den Vordergrund, wobei die wunderbare Lenkung der Ereignisse durch Gottes Hand unverkennbar ist. Nach der Verstoßung Vastis müssen aus allen Provinzen des Reiches die schönsten und besten Mädchen ausgesucht und nach Susan gebracht werden, damit der König sich aus ihnen eine neue Königin erwähle. Nach orientalischer Gepflogenheit und der Vorschrift gemäß mussten diese sich ein Jahr lang einer sorgfältigen Schönheitspflege vermittelst allerlei Reinigungsprozeduren unterziehen. Im Lauf dieser Zeit wurde dann eine nach der anderen dem König zur Besichtigung vorgestellt, wobei sie sich nach bestem Wissen und Können zu schmücken hatten (Verse 12–14). Wenn der König sie nicht erwählte, blieb sie im Frauenhaus als Nebenfrau, ohne wieder zum König zu kommen.
Unter diesen Mädchen befand sich nun auch Hadassa – später Esther genannt – eine junge Jüdin, die aber ihre Abstammung auf den weisen Rat ihres Erziehers Mordokai verschwieg. Sie war eine Waise und von ihrem ziemlich älteren Vetter Mordokai erzogen worden und war wie er eigentlich eine Gefangene der Nationen. Diese Hadassa fand schon beim Aufseher des Frauenhauses besondere Gunst, der ein Übriges tat und ihr das Nötige zu ihrer Pflege, sowie sieben Dienerinnen zur Verfügung stellte. Als dann die Reihe an Esther kam, um dem König vorgestellt zu werden, fasste dieser zu ihr, die in einfacher demütiger Natürlichkeit kam, sogleich eine tiefe Zuneigung, so dass er sie durch Aufsetzen der Krone zur Königin machte. Vers 18 schildert seine Freude an ihr, indem er ihr zu Ehren ein großes Gastmahl veranstaltete.
Mordokai und Esther sind Vorbilder von allergrößter Bedeutung, Mordokai das des Herrn Jesus Christus als Messias Israels und dessen endlicher Befreier, und Esther, das der Wohnstätte Gottes auf Erden, Jerusalems, bzw. des gläubigen Überrestes in derselben, der dereinst das Reich erben wird. Zunächst aber ist noch Einiges über die historischen Personen zu bemerken. Beide gehörten, obwohl sie augenscheinlich fromme gläubige Personen waren, zu den Juden, die auch nach dem Erlass des Königs Kores (Esra 1) in Persien, ja am Königshof geblieben waren. Das mag auf den ersten Blick befremden, ein Blick auf die Zeitrechnung jedoch erklärt dies vollkommen. Denn Xerxes war erst der vierte König nach Kores 485–465 v. Chr., die Berufung Esthers zur Königin ist in das Jahr 479 v. Chr. zu setzen, das sind siebenundfünfzig Jahre nach der Rückkehr unter Serubbabel 536 v. Chr. Da nun die Mädchen nach orientalischer Gepflogenheit noch in jugendlichem Alter sein mussten, war auch Esther damals noch minderjährig, damit mag auch Mordokai, wenn auch erheblich älter als seine Cousine im besten Alter gewesen sein; denn sonst wäre der Altersunterschied unnatürlich groß. Auch er konnte somit im Jahre 536 nur ein Kind in den ersten Lebensjahren gewesen, vielleicht noch gar nicht geboren sein. Daher kann auch Vers 6 nur bedeuten, dass nicht er selber, sondern sein Großvater, wenn nicht Urgroßvater, mit Jechonia in die Gefangenschaft geführt worden ist; denn sonst wäre Mordokai zur Zeit des Buches Esther schon ein Greis von wenigstens 130 Jahren gewesen! Er bekleidete ein wichtiges Amt am Hof des Königs; denn ihm war die persönliche Bewachung des Königs anvertraut (vergI. Vers 19: „im Tor des Königs“.) Dennoch war er völlig unfreier Untertan des heidnischen Königs. Die Lage der Juden im persischen Weltreich war ähnlich derjenigen der neueren Zeit; sie waren über die ganze Welt zerstreut, ungern gesehen, verfehmt, doch scheinen einige wie Mordokai zu wichtigen Posten gelangt zu sein. So auch die Juden in Europa seit der Emanzipation im 19. Jahrhundert, wo sie infolge ihrer Intelligenz den bekannten Platz in der Finanz- und Geschäftswelt und den geistigen Berufen erlangt haben. Die Einzelheiten über Mordokai und Esther ergeben nun weitere prophetische Vorbilder.
Mordokai ist also ein Abbild des Herrn Jesus als Messias Israels. Sein Name bedeutet „Bitterer“ und zugleich „Zerreiber“. Die erstere Bedeutung weist hin auf die Erscheinung des Messias in Niedrigkeit, auf Den, der mit Verwerfung und Leiden vertraut war (Jes 53), die zweite kündet, dass Er, wenn Er in Herrlichkeit wiederkommt, alle seine Feinde vernichten und beseitigen wird. Der Name seines Vaters war Jair, d. h. „Erleuchteter“, der seines Großvaters Simei, d. h. „Hörer, der erhört“. Weisen diese Namen nicht hin auf den Messias als den Sohn Gottes, denn wer anders ist Licht und Hörer des Gebets als Gott? Als solcher war der Herr Jesus völlig eins mit dem Vater, handelte in gänzlicher Abhängigkeit vom Vater, gleichwie Mordokai in vollem Gehorsam, in Treue und Demut dem König Ahasveros unterworfen war. Obwohl Vetter der Königin Esther, tat er seinen Dienst ruhig nach wie vor, wenn auch seine rettende Tat unbelohnt blieb. Dabei war er ein aufrechter Bekenner zum Recht und zur Wahrheit, schämte sich seiner Brüder, seines Volkes auch in gefährlicher Zeit nicht (Kapitel 3,4) und trat unbeirrt gegen das Böse auf (Kapitel 2,22). War er damit nicht auch eine schwache Vorschattung des Herrn in Seiner Niedrigkeit? Ferner war er es, der seine elternlose Cousine erzog, und zwar in Weisheit und Gottesfurcht, in aller Sorgfalt; und auch nachher, als Esther als Königin von ihm getrennt war, ließ er nicht ab, für sie besorgt zu sein; sein Herz blieb bei ihr, auch wenn er ihr nicht mehr nahen durfte. Nun, ist eben dies nicht auch die Stellung des Herrn, des Sohnes Gottes, Jehovas selbst gegenüber Seinem Volk Israel, im weiteren Sinn ja gegenüber all den Seinen? Er allein hat ja Israel berufen aus seiner Sklavenlage in Ägypten; Er hat es als Sein Volk zubereitet (Hosea 11), es war wie eine verlassene Waise, der Er sich angenommen hat (Psalm 27,10). Wenn Er nun das Volk infolge seiner Abtrünnigkeit beiseite setzen musste und sich nicht mit ihm beschäftigen konnte, so hat Er es doch niemals aus dem Auge gelassen, um im gegebenen Augenblick wieder einzugreifen. Welch ein schönes Vorbild ist Mordokai von der Sorgfalt des Herrn gegenüber den Seinen! Christus hat ja auch uns erkauft und durch Sein Werk sind wir zu Gottes Kindern gemacht; und da Er uns noch allein inmitten dieser bösen Welt gelassen hat, ist Er dennoch um uns her und unablässig mit uns beschäftigt. Er trägt und stärkt uns und bittet beim Vater für uns. In diesem Kapitel ist Mordokai vor allem ein Vorbild des demütigen Christus, der in Niedrigkeit und Abhängigkeit hienieden war. Die folgenden Kapitel zeigen ihn als den zuerst verborgenen Kämpfer für Sein Volk und nachher als den Sieger und Befreier, als das Vorbild des Sein Königreich aufrichtenden Messias.
Esther, deren jüdischer Name Hadassa war, ist also das Vorbild Jerusalems, des von Gott geliebten Zions (Psalm 87), bzw. des darin wohnenden gläubigen Überrestes am Ende der Zeit. Beide Namen sind sehr bezeichnend. Hadassa bedeutet „Myrte“, ein schwacher aber in seiner Blüte sehr schöner, wohlriechender Strauch, in Gottes Wort das Symbol des Wiederaufblühens Israels. So ist z. B. im Buch des Propheten Sacharja, das besonders Jerusalem zum Gegenstand hat, der Ausgangspunkt der Befreiung des gefangenen und unterjochten Jerusalems ein Tal mit Myrten (Sach 1,8); vergl. auch Jes 55,13; 41,19, das Bild redet also vom Brautschmuck, die Öde gehört nun der Geschichte an. Esther, ihr persischer Name, den sie als Königin trug, bedeutet „Glücksstern!“ das wird die Stellung des Überrestes und Jerusalems durch seinen Messias Jesus Christus sein. Gott wird ihm Seine Huld wieder zuwenden.
Es ist offensichtlich, dass Esther als Königin ein Vorbild des gläubigen Überrestes aus Israel ist, den wir in Offenbarung 7 finden und der auf das Geheiß Gottes versiegelt wird, damit er, trotzdem er durch die ganze Drangsalszeit hindurchgehen muss, dennoch durch Gottes Gnade und Kraft bewahrt und errettet wird. „Versiegeln“ bedeutet im Wort Gottes hier wie anderswo (2. Kor 1 und 5 und Eph 1), dass Gott der Herr die Betreffenden für Sich sichergestellt und damit für jeden anderen unantastbar gemacht hat, so wie es im Grunde auch Esther für jeden anderen außer dem König geworden ist.
Esther war eine Waise, von ihrem Vetter Mordokai erzogen. Dies ist das Volk Israel heute noch, fern von seinem Gott, der sich wegen seiner Halsstarrigkeit von ihm abgewandt hat. Aber hinter der Szene, für Israel selber noch nicht offenbar, beginnt sich der Herr doch mit ihm zu beschäftigen, gleich Mordokai, der keinen Zutritt mehr zu Esther hatte, seitdem sie in dem königlichen Frauenhaus war, sich dennoch aber um sie kümmerte. Esther ist also Königin, des Königs Geliebte geworden; aber es durfte nicht offenbar werden, dass sie aus dem Volk der Juden stammte, das geschah erst, als der König für sie eintreten musste (Kap. 7). So ist auch der Überrest Israels schon von seinem Gott zum voraus bekannt und nach Seinem Ratschluss zu seinem herrlichen Los bestimmt. Erinnert dies nicht auch daran, dass auch wir, die zur himmlischen Braut gehören, heute noch nicht wissen können, was wir dereinst sein werden im Vaterhaus? Wer könnte sich eine Vorstellung davon machen? (1. Joh 3,2). Esther verzichtete zum Erscheinen vor dem König auf alle Ausschmückung und Schönheitskünste, außer dem, was sie vom Haus des Königs erhalten hatte; ihre Schönheit sollte gleichsam nur die Herrlichkeit des Königs selber sein. So muss auch jeder Mensch gerade so, wie er ist, vor Gott treten, sich zu dem bekennen, was er ist, d. h. verloren, und von Ihm, durch die Wiedergeburt aus Gott – alles empfangen: das ewige Leben und alle Schönheit und Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Dies wird auch bei dem gläubigen Überrest Israels so sein. Auch er muss seinen Messias zuerst als den für ihn Gekreuzigten erkennen und annehmen, bevor er die ihm zugedachte Herrlichkeit empfängt (Sach 12,10–14; Mt 24,29–30). Erst danach wird er die Majestät des Königs schauen und selber erhöht werden und erfahren, wie Gott in Liebe seiner gedacht hat (Ps 87; 110,2; 122; 132,17). Dann auch wird er von seinem Gott die neuen kostbaren Namen erhalten, von denen in den Propheten mehrmals die Rede ist (z. B. Jes 1,26; 62,12 usw.).
Nach Gottes Ratschluss und unsichtbarer Fügung war Esther allein dazu bestimmt, Vastis Nachfolgerin als Königin zu sein. So ist auch Israel schon in den Ratschlüssen Gottes allein dazu bestimmt, dereinst das erste Volk der Erde, das Haupt der Nationen zu sein, indem sein König, Jesus Christus, auch Herr und König über die ganze Erde sein wird. Schon Mose hat dies vorausgesagt (5. Mo 28), dass Israel zu diesem Haupt ausersehen sei, aber ebenso, dass es im Fall der Untreue der Schwanz der Völker sein werde, d. h. gering geachtet, verstoßen und sogar verfolgt.
Die Mächte der Welt haben die Herrschaft der Welt an sich reißen wollen, aber keiner ist es wirklich gelungen, weil es gegen Gottes Willen ist, und es wird auch keiner gelingen; denn Gott allein wird die Herrschaft dem geben, den Er dazu bestimmt hat, das wird Christus inmitten Seines erneuerten und wiedergeborenen Volkes Israel sein.
Wie schön ist der Charakter Esthers, wie er uns hier vor Augen tritt! Gegenüber dem König zeigt sie einerseits die ihm gebührende Ehrfurcht und Achtung; andererseits aber auch gehorsame Abhängigkeit von der Leitung ihres Erziehers Mordokai – „sie tat, was Mordokai sagte, wie zur Zeit, als sie bei ihm erzogen wurde“ - auch noch als Königin, verbunden mit der Wahrheit, die in allem das Geziemende zu unterscheiden weiß und mit der Klugheit, die weder ihren Vetter noch ihr Volk unvorsichtig bloßstellt. In der Gefahr weiß sie mit Geduld den rechten Augenblick abzuwarten und zu benutzen, um dann mit Entschiedenheit die Gelegenheit zu ergreifen, aber auch sich zu dem zu bekennen, was sie ist, alles in vollem Vertrauen auf die Unterweisungen Mordokais, die für sie so bestimmend waren, wie es für uns das Wort Gottes ist. Dies ist auch das Charakterbild, das Mordokai auszeichnet und jedes Kind Gottes kennzeichnen soll.
Die letzten Verse berichten noch von einer Verschwörung zweier Kämmerer gegen den König, welche Mordokai aufdeckte und verhütete, etwas, dessen Bedeutung für Esthers Geschichte erst später ans Licht kommen sollte. Vorläufig hatte Mordokai keinen Lohn für seinen so wichtigen Dienst und er nahm gleichmütig nach wie vor seinen Platz am Tor des Königs ein. Ging es Mordokais Gegenbild, unserem Herrn Jesus Christus, nicht ganz ebenso? Er wollte den Menschen die Gnade Gottes und ewiges Leben bringen, aber man nahm Ihn nicht an, hatte für Ihn nichts weiter übrig als die Dornenkrone und das Kreuz.