Das Buch Esther
Königin Vasti
Als Höhe- und Glanzpunkt des ganzen Festes wollte Ahasveros am letzten Tag noch seine Königin den Mächtigen seines Volkes und dem Volk selbst vorstellen, etwas ganz Außerordentliches, da bekanntlich sonst im Orient der Anblick der Frauen fremden Männern vorenthalten wird. Sie sollte in ihrer besonderen Schönheit, angetan mit dem ganzen reichen königlichen Schmuck und der edelsteingeschmückten Krone, zugleich den Höhepunkt der Herrlichkeit des Königs ins Licht stellen. Um diesen Eindruck noch recht feierlich zu gestalten und die Leute recht gespannt zu machen, ließ er sie nicht einfach auf gewöhnliche Weise entbieten, sondern ließ sie in einem eigentlichen Staatsakt durch das Gesamtkollegium seiner Kämmerer abholen, womit er der Königin selber auch besondere Ehre antat.
Nun geschah aber etwas völlig Unerwartetes, im Orient ganz Unerhörtes: Vasti weigerte sich kurzerhand, vor dem König und den Festfeiernden zu erscheinen. Eine Begründung ist nicht angegeben, doch lässt sich zweierlei wohl vermuten: In Vers 10 heißt es, dass der König – mit ihm sicherlich auch die Gäste – fröhlich vom Wein war, d. h. wohl betrunken, da wird sich der Stolz der Königin wohl dagegen aufgebäumt haben und es als Erniedrigung empfunden haben, sich vor der trunkenen Menge von Männern zur Schau zu stellen. In Vers 9 hatte Vasti zudem eben ihrerseits gleichzeitig auch den Frauen des königlichen Hauses, des Harems, ein festliches Mahl bereitet sieben Tage lang, so dass ihr der Befehl des Königs sehr ungelegen kam. Hier im Frauenhaus war sie die Erste, die Gefeierte, dort drüben unter den Männern nur der Abglanz des Königs, ihres Mannes. Ach, wie eitel ist das menschliche Herz.
Es ist zu begreifen, dass der Zorn des Königs groß war, denn die Weigerung war für ihn, dessen Willen doch allein gültig war, eine tiefe Demütigung, und dies angesichts aller Grossen und Mächtigen seines ganzen Reiches! So berief er die sieben ersten Fürsten Persiens, um über die Strafe für diesen direkten Ungehorsam einer Frau zu beraten. Aus der Antwort derselben ist zu entnehmen, dass sie nicht mit Unrecht befürchteten, dass diese Haltung Vastis bei andern Frauen Schule machen könnte, und verlangten darum einfach die Absetzung Vastis als Königin und ihre Verbannung von des Königs Gegenwart für immer, und dass dies im ganzen Reich bekannt gemacht werden müsse. Der König stimmte bei; jedoch ist aus Kapitel 2,1 und 16 zu entnehmen, dass der Befehl erst nach etwa drei Jahren völlig durchgeführt wurde. Denn in diese Zwischenzeit fiel der unglückliche Feldzug gegen Griechenland, der Xerxes eine so schmähliche Niederlage brachte. Es war ohne Zweifel der Zorn über diese Schmach, der in Kapitel 2,1 gemeint ist, der ja sicherlich lange andauerte und den König hinderte, an seine Privatsachen zu denken.
Nun, was ist nun die symbolische Bedeutung der Königin Vasti und ihrer Weigerung für die Endzeit? Der Name, zusammen mit den angegebenen Einzelheiten der Geschichte, zeigt es uns. Der Name Vasti bedeutet „Säuferin“, zugleich „schöne Frau“ und soll nach Andern aus dem Sanskrit, der heiligen Sprache der Hindu stammen, wo er „Stadt“ bedeutet. Danach wäre Vasti also eine Ausländerin aus Indien gewesen, was ja schon möglich ist (vergleiche Kapitel 2,3). Wir gehen darum kaum fehl, wenn wir in dieser Vasti die abtrünnige christliche Kirche erkennen, welche ihre herrliche Berufung nicht erfüllt hat und dereinst aus dem heiligen Mund des Herrn ausgespieen und dem Gericht anheim fallen wird.
Gott hatte Sein Volk einst durch Seinen Sohn, Jesus Christus, auserwählt und Ihm als geliebte Braut und als Fülle Seiner Herrlichkeit gegeben (Eph 5,25–27 und 1,23) und sie hienieden gelassen, damit die Welt an ihr Gottes Herrlichkeit sehen könne. Die Kirche hat dieser Berufung nicht entsprochen, hat sich im Gegenteil immer völliger vom Herrn abgewandt. Wir müssen dabei wohl beachten, dass die wahre gläubige Brautgemeinde, welche vor der eigentlichen Zeit des Endes in den Himmel aufgenommen sein wird, hier wie überhaupt in der ganzen alttestamentlichen Prophezeiung völlig außer Betracht fällt; denn das ganze Alte Testament bleibt gänzlich innerhalb des Schauplatzes der Erde, und der Himmel ist – außer als Wohnung Gottes selbst – vollständig außerhalb seines Gesichtsfeldes. Somit hat es die Prophezeiung im Alten Testament ebenfalls in Bezug auf Gottes Volk nur mit dem zu tun, was auf der Erde ist. Wohl werden ja in einzelnen Worten und Vorbildern auch die Nationen eingeführt, aber nur als Teilhaber am Königreich Gottes auf Erden; die himmlische Bestimmung dagegen wird erst im Neuen Testament aufgedeckt.
Nun, die äußere Geschichte der christlichen Kirche entspricht tatsächlich dem Vorbild der Königin Vasti. Sie hätte der Welt die Herrlichkeit Gottes zeigen sollen; diese aber hat diese Herrlichkeit an ihr nicht mehr gesehen, schon seitdem sie zur Pergamus-Zeit aus der Verborgenheit in das Rampenlicht der Welt getreten ist (Off 2,12–17). Sie, die Kirche, ist eigentlich Israel gegenüber auch Ausländerin, die „Ferne“ nach Epheser 2,11–22, auserwählt und gesammelt aus allen Nationen, um mit der Gerechtigkeit und Herrlichkeit Gottes bekleidet zu werden. Sie hätte die Hütte Gottes bei den Menschen sein und der verlornen Welt die himmlische Herrlichkeit des Herrn darstellen sollen. Aber sie hat dem Wunsch ihres Herrn nicht entsprochen, ist ihrem eigenem Stolz und Willen gefolgt und hat lieber ihre eigene Herrlichkeit und die Befriedigung ihrer eigenen Begierden gesucht, gerade wie Vasti, und wird zuletzt (Offenbarung 17) vom Blut der Heiligen trunken gesehen. Ja, anstatt zur Verherrlichung Gottes da zu sein, ist die Kirche zu Seiner Verunehrung geworden, wie Vasti für Ahasveros. Sie hat auch vorgezogen, nach eigener Herrschaft über die Welt zu trachten, als in demütigem Gehorsam dem Herrn Jesus Christus zu folgen und auf das Herrschen mit Ihm in Seinem Königreich zu warten. So kann der Herr sie in ihrer Gesamtheit nicht mehr anerkennen, wie Laodizäa, wo Er draußen steht und die tote Christenheit ausspeien wird aus seinem Mund und dem Gericht durch die Mächte der Welt übergeben wird (Off 17 – 18). Sie muss damit Platz machen für eine andere Königsgemahlin, dem dann wieder hergestellten treuen Überrest Israels.
Nochmals sei betont, dass Vasti nichts mit der wahren himmlischen Brautgemeinde zu tun hat, sondern sie ist nur ein Vorbild der Vielen, welche ja auch zum Glauben und zur Nachfolge des Christus berufen werden, aber wohl den Namen Christen tragen, praktisch aber lieber da stehen bleiben, wo es ihnen passt, im alten diesseitigen Menschen.