Einführung in das Studium der Prophetie
Einleitung
1. Warum erforschen wir das prophetische Wort?
Die Prophetie nimmt im Worte Gottes einen bedeutenden Platz ein. Von den neununddreissig Büchern des Alten Testaments sind siebzehn prophetisch, und fast alle anderen enthalten viele Stellen, die sich auf die Prophetie beziehen. Auch das Neue Testament enthält zahlreiche Stellen prophetischen Inhalts, sowohl in den Evangelien als auch in den Briefen, und es schliesst mit der Offenbarung, die ganz der Prophetie gewidmet ist. Das zeigt uns, die Wichtigkeit des prophetischen Wortes und wie nötig es ist, dass wir ihm unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. In der Tat, «alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, auf dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt» (2. Tim 3, 16–17). Wir werden auch ermahnt, auf das prophetische Wort zu achten «als auf eine Lampe, welche an einem dunklen Orte leuchtet» (2. Pet 1,19).
Hüten wir uns daher vor der Vernachlässigung des prophetischen Wortes! Wenn uns Gott Seine Pläne in Bezug auf die Zukunft Seines himmlischen Volkes (der Kirche) und Seines irdischen Volkes (Israel) sowie in Bezug auf die Welt (die Nationen) mitgeteilt hat, werden wir es im Gegenteil als unsere Aufgabe und unser Vorrecht betrachten, die Schriften zu erforschen, wo wir diese Pläne niedergeschrieben finden. Wir werden dabei für unsere Seele einen reichen Segen davontragen, denn der grosse Gegenstand der Prophetie ist Christus selbst, Den uns Gott durch die ganze Bibel hindurch vor die Herzen stellt. Petrus bezeugt, dass der Geist Christi in den Propheten war und sie antrieb, «von den Leiden, die auf Christum kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach zuvor» zu zeugen (1. Pet 1,11). Wie könnten uns die Mitteilungen über die zukünftige Machtentfaltung Gottes gleichgültig lassen, die sich zeigen wird, wenn Er Seinen Sohn sendet, um Seine Feinde zu richten und Seine glorreiche Herrschaft aufzurichten?
Für die, welche dem Herrn angehören, gibt es nichts Herrlicheres als die Aussicht auf die Wiederkunft Dessen, der Sein Leben für sie dahingegeben und verheissen hat, dass Er bald kommen würde, um sie zu Sich zu holen, damit sie für immer bei Ihm seien. Seine Wiederkunft wird nicht nur den Prüfungen ein Ende bereiten, die das Teil jedes Kindes Gottes auf dieser Erde sind, sondern sie wird vor allem der Augenblick sein, wo wir endlich mit unseren leiblichen Augen den König in Seiner Schönheit sehen werden (Jes 33,17). In Sein Bild umgestaltet, bekleidet mit einem Leibe, der Seinem Leibe der Herrlichkeit gleichförmig ist, und vereint mit allen glückseligen Erlösten, werden wir mit unbeschreiblicher Freude Gott unser Lob darbringen. Nach der Hochzeit des Lammes werden wir sodann mit Ihm herrschen, «wenn er kommen wird, um an jenem Tage verherrlicht zu werden in seinen Heiligen und bewundert in allen denen, die geglaubt haben» (2. Thes 1,10).
Diese Hoffnung ist gewiss dazu angetan, unsere Herzen zu erfreuen und sie von den Dingen dieser Welt zu lösen, damit wir «die Stadt, welche Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist», mit immer grösserer Wirklichkeit erwarten (Heb 11,10). Das Studium der Prophetie hat also einen praktischen Wert für den Gläubigen, denn es führt ihn dazu, sich von der Welt zu trennen, die Augen empor zu richten und mit denen, die Ihn erwarten, auszurufen: «Amen; komm Herr Jesu!» (Off 22, 20).
Ferner enthält das Wort kostbare Verheissungen für die, welche es am Herzen haben, mit Hilfe des Heiligen Geistes über die Prophetie nachzusinnen. So wird uns in Off 1,3 gesagt: «Glückselig, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung!» Der Herr selbst bezeugt Seinen Jüngern: «Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend finden wird!» (Lk 12,37). Und schliesslich schreibt der Apostel Paulus, am Ende seiner Laufbahn angekommen, in seinem letzten Briefe kurz vor seinem Märtyrertod: «Die Zeit meines Abscheidens ist vorhanden. Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tage; nicht allein aber mir, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieben» (2. Tim 4, 6–8).
Möchten wir nicht auch diese Glückseligkeit kennen, von der diese Stelle spricht, und nicht auch die Krone der Gerechtigkeit empfangen, die denen verheissen ist, die in Treue auf den Herrn warten?
2. Wie sollen wir die Prophetie erforschen?
Wenn wir uns mit dem Studium der Offenbarungen befassen wollen, die uns Gott hinsichtlich der Zukunft Seines Volkes und der Nationen gegeben hat, so müssen wir von der Notwendigkeit durchdrungen sein, dass der Heilige Geist uns dabei leiten und belehren muss. Diese Bedingung erstreckt sich übrigens auf das Studium jeder biblischen Wahrheit. Nur der Heilige Geist vermag uns ein Verständnis für die Schriften zu geben und zu bewirken, dass dieses Studium für unsere Seelen zu einem Nutzen wird. Nur so werden wir vor den Spekulationen des menschlichen Geistes bewahrt bleiben. Da Christus der Mittelpunkt der Prophetie ist, wollen wir vor allem Seine Person darin zu entdecken und zu betrachten suchen. Die Beschäftigung mit Seiner herrlichen Person ist das beste Mittel, um uns vor eitler Neugierde zu bewahren.
Der Apostel Petrus bezeugt, «dass keine Weissagung der Schrift von eigener Auslegung ist» (2. Pet 1,20). Das bedeutet, dass man beim Studium des prophetischen Wortes darauf achten muss, es nicht von der Gesamtheit der Gedanken Gottes zu trennen, die sich alle auf Christum beziehen. Die Prophetie ist somit ein Teil dieses wundervollen Ganzen, das uns im Worte Gottes gegeben ist. Um daher die Gedanken Gottes über einen besonderen Punkt zu verstehen, sollten wir ihn immer mit den Stellen in Verbindung bringen, die den gleichen Gegenstand behandeln, damit wir so die Fundamentalwahrheit, die der Geist uns mitteilen möchte, richtig erfassen. Das wird uns veranlassen, zu untersuchen, wie andere Bücher des Wortes Gottes diese Wahrheit entfalten, wo sie vielleicht von einem anderen Gesichtspunkt aus beleuchtet wird, was jedoch kein Widerspruch ist. Es sei bei dieser Gelegenheit an jene Illustration erinnert, womit man schon oft die Unterschiede zu erklären suchte, die man in den Weissagungen des Alten Testamentes, der Evangelien, der Briefe und der Offenbarung wahrnehmen kann: Bergsteiger haben oft die Feststellung gemacht, dass zwei Gipfel von weitem der gleichen Bergkette anzugehören scheinen. Kommt man aber näher, zeigt es sich, dass sie durch ein tiefes Tal voneinander getrennt und mehrere Kilometer voneinander entfernt sind. Beim weiteren Vordringen kommen noch andere, verschiedenartige Massive zum Vorschein, die man nie vermutet hätte, als man noch am Fusse der ersten Bergkette stand. So stellen uns die Propheten des Alten Testamentes oft eine prophetische Wahrheit vor, ohne ihre verschiedenen aufeinander folgenden Umrisse, aus denen sie zusammengesetzt ist, hervorzuheben, während das Neue Testament die vielfältigen Perspektiven beleuchtet: Es ist noch immer das gleiche Panorama, aber von nahem gesehen, so dass die einzelnen Teile, die vorher verworren schienen, nun besser unterschieden werden können. Das erklärt auch die Schwierigkeit, die wir beim Feststellen der chronologischen Reihenfolge von gewissen prophetischen Tatsachen manchmal empfinden.
Übrigens dürfen wir nicht vergessen, dass das prophetische Wort «eine Lampe ist, die an einem dunklen Orte leuchtet, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen» (2. Pet 1,19). Diese Lampe, welche die Nacht erhellt, gibt uns gerade die Klarheit, die wir brauchen, aber sie ist noch nicht die Sonne, die die Dunkelheit vollständig aufhebt. Es gibt Offenbarungen, die wir nicht erklären können. Wir prophezeien stückweise, weil wir nur stückweise erkennen (1. Kor 13,9). Aber bald wird in uns über alles volles Licht sein und «das, was stückweise ist», wird weggetan werden. Dann werden wir auch erkennen, wie wir erkannt worden sind (V. 12).
In Erwartung dieses glorreichen Tages wollen wir uns damit begnügen, in Demut darüber nachzusinnen, was uns Gott in Seiner Gnade in Seinen herrlichen Plänen offenbaren wollte, indem wir Ihn um den Beistand des Geistes bitten, der alles erforscht, «auch die Tiefen Gottes» (1. Kor 2,10).