Der erste Brief an die Korinther
Kapitel 13
In Kapitel 12 betont der Apostel die souveränen Rechte des Heiligen Geistes, Gnadengaben in dem Leib Christi auszuteilen, „einem jeden insbesondere austeilend, wie er will“ (Vers 11). In Kapitel 14 werden wir dann bezüglich der Ausübung dieser Gnadengaben zur Auferbauung unterwiesen. In diesem dazwischenliegenden Kapitel werden wir daran erinnert, dass es ohne Liebe keine Auferbauung geben kann. Im Brief an die Epheser lesen wir, dass der Leib sich selbst auferbaut 'in Liebe' (Kap 4,16). Der wahre Geist eines jeden Dienstes ist die Liebe. Jemand hat gesagt: „Die Liebe ist der Beweggrund, nicht einfach nur etwas zu tun, sondern darin auch zu dienen“. Liebe zueinander ist der Grundsatz, der alles, was in der Versammlung geschieht, regulieren sollte.
Aus diesem Grund gibt uns der Apostel diese wunderschöne kleine Abhandlung über die Liebe. Er zeigt darin nicht, was wir sind, sondern was die Liebe ist. Mehr noch, hier wird uns die Liebe in ihrem Wesen, ihrer Natur, vorgestellt; nicht direkt Liebe in ihren Tätigkeiten. Liebe ist tätig und muss auch tätig sein; doch was hier dargestellt wird, ist passive Liebe - das, was Liebe ist, und weniger das, was Liebe tut.
Der Apostel hatte von den Gnadengaben gesprochen, und dabei gibt es Steigerungen, denn er hatte von den größeren Gnadengaben gesprochen. Nach diesen sollen wir streben, und trotzdem gibt es einen noch weit vortrefflicheren Weg. Durch unsere Gnadengaben können wir einander dienen, doch der vorzüglichere Weg ist der Weg der Liebe.
Zuerst betont der Apostel eindringlich die Bedeutung und den Wert der Liebe (Verse 1-3); als zweites wird uns das Wesen der Liebe vorgestellt, wie es sich in all ihren schönen Eigenschaften entfaltet (Verse 4-7); und schließlich stellt er uns die Unvergänglichkeit der Liebe vor - sie wird im Lauf der Zeit nie versagen und in Ewigkeit nicht vergehen (Verse 8-13).
Die überragende Bedeutung der Liebe
Um diese unendlich hohe Bedeutung der Liebe unter Beweis zu stellen, spricht der Apostel von drei Dingen, deren sich die Gläubigen in Korinth rühmten: ihre wohl formulierten Ausdrucksweisen, ihre geistlichen Besitztümer, und ihre Tätigkeiten. Wenn die Korinther auch danach trachten mochten, sich selbst durch diese Dinge zu erhöhen, so zeigt der Apostel doch, dass sie in den Augen Gottes ohne Bedeutung waren, wenn der Beweggrund für ihre Ausübung nicht Liebe war.
Vers 1
„Wenn ich mit den Sprachen der Menschen und der Engel rede, aber nicht Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz geworden oder eine schallende Zimbel.“
Die Gläubigen in Korinth maßen der Gabe des Zungenredens und der natürlichen Redegewandtheit große Bedeutung bei. Der Apostel macht uns nun darauf aufmerksam, dass es möglich ist, mit den Sprachen der Menschen und der Engel zu reden, und doch nicht Liebe zu haben. Wo das geschieht, würde der Redende trotz Redegewandtheit und engelsgleichen Worten zu einem tönenden Erz oder einer schallenden Zimbel werden.
Vers 2
„Und wenn ich Weissagung habe und alle Geheimnisse und alle Erkenntnis weiß, und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetze, aber nicht Liebe habe, so bin ich nichts.“
Außerdem rühmten sich diese Gläubigen ihrer geistlichen Besitztümer. Sie waren im Besitz sämtlicher Gnadengaben und hatten Einsicht in alle Geheimnisse und besaßen alle Erkenntnis. Vielleicht hatten sie auch Glauben, durch den sie große Dinge zu tun vermochten; aber, sagt der Apostel, wir können wohl reiche Begabungen haben, aber wenn wir nicht Liebe haben, so sind wir nichts. Er sagt nicht, dass diese Gnadengaben, Prophezeiung und Erkenntnis und Glauben, nichts seien, sondern dass derjenige, der diese Gnadengaben ausübt, ohne Liebe zu haben, nichts ist.
Der Apostel spricht an dieser Stelle nicht von dem Glauben an Christus, denn dieser Glaube wirkt durch Liebe; er spricht vielmehr von dem Glauben, der den einzelnen befähigt, große Hindernisse zu überwinden und große Taten zu tun; und er sagt, dass es durchaus möglich ist, solchen Glauben ohne Liebe zu haben.
Vers 3
„Und wenn ich all meine Habe zur Speisung der Armen austeile, und wenn ich meinen Leib hingebe, damit ich verbrannt werde, aber nicht Liebe habe, so nützt es mir nichts.“
Wir mögen ohne weiteres zugeben, dass es für einen Menschen möglich ist, schön zu reden, ohne Liebe zu haben; auch mögen wir uns vorstellen können, dass man sich seiner geistlichen Erkenntnis rühmen kann, ohne Liebe zu haben. Solchen Menschen würden wir dann wohl empfehlen, etwas weniger zu reden und stattdessen etwas mehr zu tun. Doch der Apostel warnt uns nun weiter davor, dass es ebenso möglich ist, etwas zu tun, ohne Liebe zu haben. Er sagt, dass sich die wohltätigen Handlungen eines Menschen zu einer solchen Qualität erheben können, dass er all seine Habe zur Speisung der Armen austeilt, oder dass er seinen Leib als Märtyrer zum Verbrennen hingibt; und doch könnte es sein, dass der Beweggrund dazu nicht Liebe ist - dann würden ihm all seine Handlungen nichts nützen.
Wenn auch einerseits Gott solche Worte ohne Liebe, Erkenntnis ohne Liebe, oder Handlungen ohne Liebe wohl zum Erreichen Seiner Ziele benutzen kann, werden sie doch andererseits demjenigen, der so redet oder handelt, nichts einbringen. Ohne Liebe ist er nichts und gewinnt auch nichts - ungeachtet all seiner Worte, seines Besitzes und seiner Tätigkeiten.
Das Wesen der Liebe
Verse 4-7
„Die Liebe ist langmütig, ist gütig; die Liebe neidet nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie gebärdet sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern sie freut sich mit der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.“
Nachdem der Apostel die einzigartige Bedeutung der Liebe betont hat, entfaltet er nun den wahren Charakter der Liebe. Es ist schon darauf aufmerksam gemacht worden, wie die ersten acht Merkmale der Liebe zeigen, dass die Auswirkungen des Wesens der Liebe zur völligen Aufgabe des eigenen Ichs mit seiner Ungeduld, Rücksichtslosigkeit, Eifersucht, Aufdringlichkeit, eigenen Wichtigkeit, Unanständigkeit, Ichbezogenheit und Streitsucht führen.
- die Liebe ist langmütig: Das Fleisch ist immer ungeduldig, aber die Liebe kann lange aushalten und auf die Zeit Gottes warten. Fleischliche Ausdauer hat sich schnell erschöpft - Liebe verschleißt sich nie.
- die Liebe ist gütig: Wenn das Fleisch abwarten muss, geschieht dies oft in einem besorgten und ärgerlichen Geist; die Liebe jedoch vermag selbst im Ausharren eine gütige Gesinnung beizubehalten, in der sie auch auf andere Rücksicht nimmt.
- die Liebe neidet nicht: Das Fleisch trachtet immer nach einer Stellung vor oder über anderen, und es ist neidisch auf andere, wenn ihnen mehr Gunst oder eine bevorzugtere Stellung zuteil wird. Die Liebe kann sich ohne einen Anflug von Neid an der Ehre erfreuen, die anderen erwiesen wird.
- die Liebe tut nicht groß (ist nicht unverschämt und vorschnell): Das Fleisch ist aufdringlich und drängt sich schnell in den Vordergrund; die Liebe ist nicht von sich eingenommen, sondern vielmehr zurückhaltend und bescheiden.
- die Liebe bläht sich nicht auf: Das Fleisch ist oft eingebildet und von der eigenen Wichtigkeit erfüllt; die Liebe nimmt im Dienst für andere einen niedrigen Platz ein.
- die Liebe gebärdet sich nicht unanständig: Das Fleisch kann selbst auf einer hohen sozialen Stufe noch unanständig und ungesittet sein. Die Liebe wird sowohl den Vornehmen als auch den Niedrigen zur Liebenswürdigkeit und Höflichkeit anleiten.
- die Liebe sucht nicht das Ihre: Das Fleisch ist immer selbstsüchtig und trachtet nach den eigenen Interessen. Die Liebe ist selbstlos und unvoreingenommen; sie sucht das Wohl des anderen.
- die Liebe lässt sich nicht erbittern (nicht schnell reizen): Das Fleisch ist immer empfindlich und schnell beleidigt, und es nimmt Beleidigungen übel. Die Liebe ist langsam zum Zorn und lässt sich nicht leicht reizen. Die Liebe kann zwar gereizt werden, denn wir werden gerade in diesem Brief darauf hingewiesen, dass es möglich ist, den Herrn zu reizen (Kap 10,22); aber der Herr ist langsam zum Zorn, Er ist nicht schnell gereizt.
In den nun folgenden drei Merkmalen lernen wir, dass die Liebe nicht nur zur Aufgabe des eigenen Ichs führt, sondern dass sie eine positive Freude an allem hat, was wahr und echt ist.
- die Liebe rechnet Böses nicht zu: Das Fleisch ist schnell dazu bereit, etwas Böses zu vermuten und falsche Beweggründe zu unterstellen. Die Liebe rechnet nicht eher mit dem Vorhandensein von Bösem, bis ein positiver Beweis dafür vorliegt.
- die Liebe freut sich nicht mit der Ungerechtigkeit: Leider gefällt es dem Fleisch, mit dem Bösen beschäftigt zu sein. Die Liebe hat kein Gefallen daran, Böses zu entdecken oder ans Licht zu bringen.
- die Liebe freut sich mit der Wahrheit: Das Fleisch ist unheilig und kann sich an dem Beschäftigen mit Bösem freuen. Die Liebe ist heilig; sie findet ihre Freude daran, sich mit der Wahrheit zu befassen. Die Liebe ist deshalb nicht blind, denn sie kennt die Wahrheit und weiß sie zu schätzen.
Die vier letzten Merkmale stellen die positive Energie der Liebe vor; wer sie besitzt, wird durch sie inmitten einer feindlich gesinnten Welt aufrechterhalten.
- die Liebe erträgt alles: Das Fleisch kann nur sehr wenig ertragen, ohne seine Verärgerung zu zeigen. Die Liebe kann alles ertragen, und oftmals sogar stillschweigend.
- die Liebe glaubt alles: Das Fleisch ist immer misstrauisch. Die Liebe verdächtigt nicht und ist bereit, das Gute anzunehmen, wenn es keinen direkten Beweis für das Gegenteil gibt - selbst angesichts vieler Dinge, die Zweifel zu erwecken vermögen.
- die Liebe hofft alles: Das Fleisch ist immer bereit, Böses zu unterstellen und das Schlechteste anzunehmen. Die Liebe sieht immer eher das Gute als das Böse und hofft immer zum Besten - trotz vieler Dinge, die scheinbar hoffnungslos sind.
- die Liebe erduldet alles: Das Fleisch, das immer das Schlechteste annimmt, hofft nicht mehr; und wo kein Hoffen ist, da ist auch keine Kraft zum Erdulden. Die Liebe, die alles hofft, stärkt ihre Besitzer zum Erdulden - auch angesichts von Widerstand und Entmutigung.
Die Liebe in ihrer Unvergänglichkeit
Verse 8-13:
„Die Liebe vergeht niemals; seien es aber Weissagungen, sie werden weggetan werden; seien es Sprachen, sie werden aufhören; sei es Erkenntnis, sie wird weggetan werden. Denn wir erkennen stückweise, und wir weissagen stückweise; wenn aber das Vollkommene gekommen sein wird, so wird das, was stückweise ist, weggetan werden. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind; als ich ein Mann wurde, tat ich weg, was kindlich war. Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von ihnen ist die Liebe.“
Nachdem der Apostel das Wesen der Liebe beschrieben hat, erklärt er nun ihre Beständigkeit. Die Liebe versagt nie und lässt nie nach. Prophezeiungen werden weggetan werden, sie werden in ihrer Erfüllung ihr Ziel und Ende erreichen. Sprachen werden mit dem Ende des gegenwärtigen zertrennten Zustandes der Nationen aufhören. Erkenntnis - unser derzeitiges stückweises Erkennen - wird weggetan werden. Die Erkenntnis, die wir jetzt schon besitzen, ist nicht die volle Erkenntnis, sondern eher etwas, was wir uns ständig aneignen müssen, und sie ist deshalb nur der Beweis unserer eigentlichen Unkenntnis. Es ist nur stückweises Erkennen. In dem Zustand himmlischer Vollkommenheit wird dieses stückweise Erkennen für immer vorüber sein. In dieser himmlischen Szene wird es gesegnete Entfaltungen von Wahrheiten geben; aber was uns dort auch alles vorgestellt werden wird, wir werden es vollkommen erkennen. Das ist der Gegensatz zu unserem gegenwärtigen Zustand, wo wohl die Wahrheit vollständig offenbart ist, sie aber doch nur teilweise verstanden wird. Wie tief wir auch immer auf dieser Erde in die Wahrheit eindringen mögen, es wird immer eine stückweise Erkenntnis bleiben.
Zur Verdeutlichung unseres gegenwärtigen Zustandes des stückweisen Erkennens gebraucht der Apostel das Bild eines Kindes, welches nur denken, sprechen und urteilen kann wie ein Kind. Wenn das Kind ein Mann geworden ist, ist der kindliche Zustand verlassen. So sind auch wir, so lange wir noch in diesem Leib sind, entsprechend unserem gegenwärtigen Zustand gezwungen, von geistlichen Dingen weitestgehend in natürlichen Begriffen zu denken. Was die Wahrheit betrifft, sehen wir folglich nur wie durch einen Spiegel, undeutlich. Wir gleichen gegenwärtig solchen, die sich Gegenstände durch ein halbdurchsichtiges Medium ansehen - das Bild wird dadurch verdunkelt. Im Zustand der Vollkommenheit werden wir von Angesicht zu Angesicht sehen; dort wird zwischen uns und dem, was wir erblicken, kein Medium stehen. Dann werden wir erkennen, wie wir erkannt worden sind. Wir werden dann die Wahrheit völlig, als Ganzes, erkennen; nicht nur stückweise, sondern so, wie auch wir erkannt worden sind.
„Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe“. In dem vollkommenen Zustand wird der Glaube zum Schauen gelangt sein, folglich wird der Glaube sein Ende haben. Die Hoffnung wird in ihrer Erfüllung und Verwirklichung enden. Allein die Liebe wird bestehen bleiben. Glaube und Hoffnung sind sehr gute Reisegefährten, doch an der Tür zur Herrlichkeit trennen wir uns von ihrer Gesellschaft. Nur mit einer Sache treten wir in den Himmel ein - Liebe! Dennoch spricht dieser Vers von dem gegenwärtigen Zustand und sagt uns, dass auch jetzt die Liebe von größter Qualität ist. Das muss auch so sein, denn die Liebe ist eben die Natur Gottes - und deshalb ist die Liebe ewig.