Das Evangelium nach Matthäus
Kapitel 16
Die Pharisäer erneuerten jetzt ihren Angriff und verbanden sich zu diesem Zweck mit ihren alten Feinden, den Sadduzäern. Das „Zeichen aus dem Himmel“ war bloß eine Finte, da das etwas war, dem die Sadduzäer bei ihrer materialistischen Geisteshaltung nie zustimmen würden. Als Antwort wies der Herr darauf hin, dass sie die sichtbaren Wettererscheinungen des Himmels ganz gut beurteilen könnten, doch blind seien für die „Zeichen der Zeiten“, die zu ihrem Verständnis eine geistliche Unterscheidungsfähigkeit voraussetzten. Weil sie „böse und ehebrecherisch“ waren, hatten sie kein geistliches Wahmehmungsvermögen, und deshalb blieben solche von Gott gegebenen Zeichen für sie ohne Nutzen. Und wie Er zuvor gesagt hatte (12,39), würde nur „das Zeichen des Propheten Jonas“ übrig bleiben, nämlich Sein eigener Tod und Seine Auferstehung. Und mit diesem Wort verließ Er sie. Als dieses große Zeichen geschah, gebrauchten sie all ihren Scharfsinn und ihr Geld, um es wirkungslos zu machen, wie wir im letzten Kapitel dieses Evangeliums sehen.
Der Herr wandte sich von diesen Menschen ab und richtete sich mit wärmenden Worten an Seine Jünger. Sie sollten sich vor deren „Sauerteig“ hüten. Die Jünger verstanden diese Warnung zuerst in materiellem Sinn. Dieses Missverständnis kam auf, weil sie keine Brote mitgenommen hatten. Doch im Licht der Speisung der Fünftausend und der Viertausend hätten sie keinen Gedanken in dieser Richtung haben sollen. Schließlich ging ihnen auf, dass der Herr mit dem „Sauerteig“ die „Lehre“ meinte. Daher ist offensichtlich, dass, obwohl ein wahrer Jünger niemals Pharisäer oder Sadduzäer sein konnte, er doch von ihren Lehren durchsäuert werden kann, von einer oder auch von beiden.
Der Sauerteig der Pharisäer war jener Typ religiöser Heuchelei, der alles Gewicht auf äußerliche und zeremonielle Verrichtungen legt. Der Sauerteig der Sadduzäer war intellektueller Stolz, der die menschliche Vernunft auf den Stuhl des alleinigen Richters erhebt und die Offenbarung Gottes und den Glauben mit einer Handbewegung abtut. Wie sehr das Christentum von diesen beiden Dingen durchsäuert worden ist, ist heute leider offensichtlich. Der Ritualismus wuchert auf der einen Seite und der Rationalismus oder „Modernismus“ auf der anderen, und nicht selten vermischen sich beide, und das Ergebnis ist der rationalistische Ritualist. Die Warnung des Herrn vor beiden wird von dem Apostel Paulus in Kolosser 2 ergänzt. In Vers 8 jenes Kapitels warnt er vor dem Rationalismus, und in den Versen 16.18.20–22 vor dem Ritualismus verschiedenster Formen, und es wird uns gezeigt, wie diese Dinge uns von Christus ablenken und uns daran hindern, „das Haupt festzuhalten“.
Es ist bezeichnend, dass in unserem Kapitel die Warnung des Herrn vor beidem unmittelbar vor dem Bericht über Seinen Besuch in Cäsarea Philippi steht und damit auch der Frage, die Er Seinen Jüngern dort stellte, vorausgeht. Dort befand Er sich an der äußersten nördlichen Grenze des Landes, so weit wie möglich von den Aufenthaltsorten der Pharisäer und Sadduzäer entfernt. Wer war Er? Das war die entscheidende Frage. Die Antworten der Menschen waren verschieden und verworren, und es fehlte an Interesse zu einer nüchternen Prüfung. Aber als Er dann die Jünger selbst direkter mit der Frage konfrontierte, war Petrus in der Lage, von Gott gelehrt, eine klare Antwort zu geben, die den Felsen ins Licht rückte, auf dem die Versammlung erbaut werden sollte. Kolosser 2 zeigt uns, wie der Sauerteig sowohl der Pharisäer wie der Sadduzäer die Stellung der Kirche und den Glauben untergräbt. In Matthäus 16 warnte der Herr Seine Jünger vor beidem, bevor Er zum ersten Mal die Versammlung ankündigt, die Er bauen würde.
Simon Petrus war ein gesegneter Mann. Gott selbst im Himmel, von dem Jesus als „mein Vater“ sprach, hatte ihm eine Offenbarung gegeben, die niemals von einem Menschen hätte kommen können. Seine Augen waren aufgetan worden, um in Jesus den Christus zu sehen. Das war Seine offizielle Stellung als der Gesalbte Gottes. Aber wer war dieser Gesalbte? Petrus erkannte, dass Er „der Sohn des lebendigen Gottes“ war. Wahrlich, ein erstaunliches Bekenntnis. Gott ist der lebendige Gott, unendlich erhaben über die Macht des Todes. Jesus ist der Sohn in der ewigen Gottheit und steht gleicherweise über der ganzen Macht des Todes. Blitzartig war diese Erleuchtung als göttliche Offenbarung über Petrus gekommen. Er war noch nicht fest gegründet in dieser Einsicht, wie wir wenige Verse später erkennen. Doch er sah, dass es so war, und er bekannte es.
Bekennen wir das ebenfalls? Und verstehen wir wirklich seine Bedeutung? Wenn ja, so haben wir einen unerschütterlichen Felsen gefunden, und auch wir sind gesegnet, wie Petrus es war.
In Seinem Wort an Petrus (Vers 18) bestätigte der Herr ihm den Namen, den Er ihm bei ihrer ersten Begegnung gegeben hatte (Joh 1,42), und enthüllte ihm noch etwas mehr von dessen Bedeutung. Die Bedeutung des Namens „Petrus“ ist „Stein“, aber was ist der tiefere Sinn? Der Name steht im Zusammenhang mit der Versammlung, die Christus als der Sohn des lebendigen Gottes zu bauen im Begriff stand. So war der „Fels“ Christus selbst, und auf diesen Felsen ist die Versammlung gegründet. Petrus war kein Fels. Tatsächlich scheint er der impulsivste und am leichtesten zu beeinflussende Jünger gewesen zu sein -siehe Galater 2,11–13. Er war nur ein Stein, und es gibt keine Entschuldigung für den Irrtum, ihn mit dem Felsen zu verwechseln, denn in der Art, wie der Herr die Worte gebrauchte, war eine Unterscheidung angedeutet, indem Er sagte: „Du bist Petros, und auf diesen petra will Ich meine Versammlung bauen.“
Das Bauen der Versammlung lag damals noch in der Zukunft, denn der Fels war nicht völlig enthüllt, bis der Sohn des lebendigen Gottes Seinen Triumph durch Tod und Auferstehung bestätigt hatte und zum Himmel aufgefahren war. Dann begann die ekklesia oder die „herausgerufene Gemeinschaft“ des Christus, und hier wurde einer der Steine gefunden, der dann auf dem Felsen mit aufgebaut werden sollte. In seinem ersten Brief zeigt uns Petrus, dass sich das nicht ausschließlich auf ihn selbst beschränkte, denn alle, die zu dem lebendigen Stein kommen, sind lebendige Steine, die auf diesem Fundament aufgebaut werden sollen.
In dieser großen Ankündigung sprach der Herr über Seine Versammlung als Seine eigene Schöpfung, die keine Klugheit und Macht des Feindes überwältigen könnten. Nichts vermag anzutasten, was in der Kraft göttlichen Lebens gewirkt wird. Andere Schriftstellen sprechen von der Kirche als der Gemeinschaft derer, die sich als Untertanen zu Christus bekennen und die als Frucht der Bemühungen von Dienern Gottes zu Stande gekommen ist. Unter diesem Gesichtspunkt war jene Gemeinschaft von Anfang an von Versagen gekennzeichnet, und sie verschmilzt mit dem Reich der Himmel, über das wir in Kapitel 13 viel erfahren haben und das der Herr in Vers 19 unseres Kapitels erwähnt. Die Schlüssel dieses Reiches wurden dem Petrus übergeben, nicht etwa die Schlüssel der Versammlung.
Alle, die sich als Untertanen des Königs bekennen, sind im Reich der Himmel, und in Verbindung damit wurde dem Petrus eine besondere Verwaltungsstellung verliehen. Wir sehen ihn bei der Handlung des „Lösens“, wie sie die Juden in Apostelgeschichte 2,37–40 und später die Heiden in Apostelgeschichte 10,44–48 betraf; eine Handlung des „Bindens“ nimmt er in Apostelgeschichte 8,20–23 vor. In diesen Fällen werden seine Handlungen ganz klar auch im Himmel anerkannt. Simon der Zauberer jedoch wurde nie vom Herrn Seiner Versammlung als ein Baustein hinzugefügt, obwohl er als ein bekennender Untertan des Reiches getauft worden war.
Das Reich der Himmel war in den Schriften des Alten Testaments offenbart worden, nicht jedoch seine gegenwärtige, geheimnisvolle Form. Andererseits finden wir hinsichtlich der Versammlung dort keine Mitteilungen, und dieses Wort Jesu enthüllt sie vorbereitend. Nachdem Er die Ankündigung gemacht hatte, zog Er sogleich das besondere Zeugnis zurück, das Seine Jünger gegeben hatten, dass Er der Christus sei, auf die Erde gekommen, um die den Vätern gegebenen Verheißungen zu bestätigen (Röm 15,8). Seine Verwerfung war gewiss, und Sein Tod stand bevor. Nur so würde der eigentliche Grund für die Erfüllung der Verheißungen an Israel gelegt werden und ebenso für die Segnung der Heiden, damit sie Gott verherrlichen möchten für Seine Barmherzigkeit, sie zu Seiner Versammlung gebracht zu haben. Deshalb lenkte Jesus von da an die Gedanken Seiner Jünger auf Seinen Tod und Seine Auferstehung – den großartigen Höhepunkt Seiner irdischen Laufbahn. Das Ziel vor ihnen war die Herrlichkeit Christi in Seiner Auferstehung und nicht so sehr Seine irdische Herrlichkeit.
Petrus verrät hier seinen schwachen und durchaus nicht felsenhaften Charakter und zieht sich einen Tadel zu. Es ist beeindruckend, wie wir ihn in diesen wenigen Versen sehen: erleuchtet von göttlichem Licht, mit dem Vorrecht einer Verwaltungsaufgabe betraut und dann doch in einer Weise sprechend, die den Herrn an Satan und die gefallenen Menschen erinnert! Ein solcher war Petrus, und wir sind nicht besser als er. Seine Erwartung und die Erwartungen der anderen Jünger waren auf Segnungen gerichtet, die auf dieser Erde wahr werden sollten. Der Herr wusste das und fuhr fort, davon zu sprechen, wie sich durch Seinen Tod alles für sie verändern würde: es wurde ihnen klar, dass auch sie ihr Leben in dieser Weit verlieren würden.
Dieser Ausspruch des Herrn (Vers 25) kommt nicht weniger als sechsmal in den vier Evangelien vor, von geringen Abweichungen im Wortlaut abgesehen:. zweimal in diesem Evangelium, zweimal in Lukas und je einmal in Markus und Johannes. Die sechsmalige Erwähnung nimmt, wie wir glauben, Bezug auf vier verschiedene Gelegenheiten. Offensichtlich war es auf den Lippen des Herrn ein häufiger Ausspruch, und darum ist er so bedeutsam. Jeder von uns hat seine Mühe damit, doch er fasst ein erhabenes Prinzip geistlichen Lebens ganz kurz zusammen, das weiter bestehen wird, solange Christus von dieser Welt verworfen und abwesend ist. Erst wenn Er wiederkommt, werden Heilige das Leben auf der Erde in vollem, eigentlichem Sinn genießen. Wer danach strebt, jetzt die Welt zu gewinnen, wird seine Seele verlieren.
Nachdem der Herr Seinen Jüngern gezeigt hat, was vor Ihm und in naher Zukunft auch vor ihnen liegt, stellt Er Sein Kommen in Herrlichkeit vor. Er wird dann das Reich von Seinem Vater empfangen, und die Zeit der Belohnung wird gekommen sein. Einige von ihnen sollten das Vorrecht haben, das Reich in einer Vorausschau zu sehen als ein Muster seiner künftigen Erscheinung. Das war ein Ausdruck Seiner rücksichtsvollen Gnade zu ihnen, damit sie nicht ganz entmutigt würden durch das, was Er ihnen soeben gesagt hatte.