Philipper 2,1-11
Vers 1-4
Die Gabe der Philipper an Paulus
Nun wollen wir uns den gelesenen Versen zuwenden. Der Apostel sagt in Vers 1: „Wenn es nun irgendeine Ermunterung gibt in Christo, wenn irgendeinen Trost der Liebe, wenn irgend eine Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen.“ Er nennt vier Dinge, die er alle mit dem Wort „wenn“ einleitet: „Wenn es … nun gibt“. Das meint an dieser Stelle nicht: „Wenn es nun mal dahin kommen könnte, dass ich eine Ermunterung erfahre, dann …“. Das Wort „wenn“ hat im Neuen Testament verschiedene Bedeutungen. Hier kann man das Wort „wenn“ auch übersetzen mit „weil es nun so ist…“. Man könnte auch sagen: „Da es nun irgendeine Ermunterung gibt in Christo…“. Er stellt es nicht in Frage, ob es eine geben könnte, sondern er sagt: „Weil es eine gibt“. Um das richtig zu verstehen, lese ich jetzt einige Verse aus Kapitel 4. Der Apostel nimmt in Kapitel 2,1 Bezug auf das, was die Philipper ihm erwiesen hatten, ihm, dem Gefangenen in Rom. Die Philipper hatten nämlich dem gefangenen Apostel eine materielle Gabe übermitteln lassen durch Epaphroditus. Wie Paulus nun diese Gabe einschätzt und wie er darüber denkt, lesen wir in Kapitel 4 ab Vers 14: „Doch habt ihr recht getan, dass ihr an meiner Drangsal teilgenommen habt. Ihr wisst aber auch, ihr Philipper, dass im Anfang des Evangeliums, als ich aus Mazedonien wegging, keine Versammlung mir in Bezug auf Geben und Empfangen mitgeteilt hat, als nur ihr allein. Denn auch in Thessalonich habt ihr mir einmal und zweimal für meinen Bedarf gesandt. Nicht, dass ich die Gabe suche, sondern ich suche die Frucht, die überströmend sei für eure Rechnung. Ich habe aber alles empfangen und habe Überfluss; ich bin erfüllt, da ich von Epaphroditus das von euch Gesandte empfangen habe, einen duftenden Wohlgeruch, ein angenehmes Opfer, Gott wohlgefällig. Mein Gott aber wird euch alles Nötige geben nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus. Unserem Gott und Vater aber sei die Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“ Er bricht am Ende in einen Lobpreis aus angesichts dessen, was die Philipper ihm zugesandt hatten. Diese Gabe nennt Paulus nun hier eine „Ermunterung in Christus“. Er nennt sie einen „Trost der Liebe“, „eine Gemeinschaft des Geistes“ und „innerliche Gefühle und Erbarmungen“. Paulus wusste, dass die Philipper ihn in ihr Herz geschlossen hatten. Das sagt der Philipperbrief: Es gibt keinen Brief im NT, der einer solchen Herzlichkeit und gegenseitigen Zuneigung Ausdruck gibt wie dieser Brief. Paulus hat das als sehr wertvoll empfunden zu einer Zeit, als vielleicht kaum noch jemand nach ihm fragte, in der er sich sehr einsam fühlte. Es gab einen, der ihn fleißig besucht hat. Das war Onesimus. Aber im Großen und Ganzen war er allein. Nun gab es aber eine Versammlung, die an ihn gedacht hatte. Das waren für ihn wirklich Ermunterungen in Christus. Ich möchte nun mal den Finger auf die Zusätze in Vers 1 legen. Dort werden vier Dinge genannt, aber das Wichtigste sind die Zusätze. Die Gabe war „eine Ermunterung in Christus“, ein „Trost der Liebe“, eine „Gemeinschaft des Geistes“ und „innerliche Gefühle und Erbarmungen“. Was die Philipper getan hatten, war nicht nur pure Freundlichkeit gewesen. Die kann auch ein natürlicher Mensch zeigen. Es war nicht irgendein soziales Engagement an dem Gefangenen. Nein, es waren „Ermunterungen in Christus“. Da gab es eine Verbindung zwischen ihnen und ihm, und das war Christus selbst. Das war nicht nur ein locker daher gesprochener Trost, nein, es war ein „Trost der Liebe“. Die Quelle für die Tätigkeit der Philipper war die Liebe. Es war auch nicht nur ein geselliges „Nett-Sein“ mit dem Apostel, sondern eine Gemeinschaft, die durch den Heiligen Geist bewirkt worden war. Das hat Paulus mit tiefer Dankbarkeit entgegengenommen.
Gleich gesinnt sein
Aber wieso habe ich im Zusammenhang mit Vers 1 von Gefahren gesprochen, die von innen kommen? Die Gefahren von außen sind klar (Kap. 1,28). Wieso sind die hier erwähnten Dinge nun Gefahren von innen, wenn es so wunderbare Dinge sind, die Paulus aufführt? Dazu müssen wir Vers 2 lesen, dann werden wir das sofort verstehen. Paulus sagt gleichsam: „Wenn es nun so ist (wie ich es in Vers 1 geschildert habe), so fehlt noch etwas an meinem Glück. Ihr würdet mir die größte Freude bereiten, wenn ihr das erkennen würdet, nämlich: ‚Erfüllt doch meine Freude, dass ihr gleich gesinnt seid.'“ Genau das fehlte. Wenn wir den Philipperbrief sorgfältig lesen, dann werden wir feststellen, dass der Apostel in allen vier Kapiteln genau diesen Punkt erwähnt. Er ist sehr zart und feinfühlig, aber er lässt immer wieder durchscheinen, dass in diesem Punkt noch ein Mangel bei den Philippern bestand. Das war einer der Gründe zum Verfassen dieses Briefes gewesen. Er hat sich natürlich für die Gabe bedankt, aber dieses wollte er ihnen doch ermahnend mitteilen. Ich nenne mal vier Stellen aus den vier Kapiteln, um das deutlich zu machen. In Kapitel 1,27 sagt er: „Dass ihr feststeht in einem Geist.“ In Kapitel 2: „Dass ihr gleich gesinnt seid“ (Vers 2). In Kapitel 3,15 heißt es: „Lasst uns so gesinnt sein“ und Kapitel 4,2 spricht er ebenfalls davon, „gleich gesinnt zu sein.“ Wenn wir uns fragen, worin nun diese fehlende Harmonie bestand, dann habe ich den Eindruck, dass Kapitel 4 uns darauf eine Antwort gibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Philipper untereinander total zerstritten waren und alle möglichen Auseinandersetzungen hatten. In Kapitel 4 spricht er das Problem konkret an: „Evodia ermahne ich, und Syntyche ermahne ich, gleich gesinnt zu sein im Herrn“, die Schwestern, die „in dem Evangelium mit mir gekämpft haben.“ Ich habe den Eindruck - vorsichtig gesagt - dass Uneinigkeit im Dienst für den Herrn bestand. Ich will das nicht nur darauf beschränken, aber zumindest war das auch ein Punkt. Wir wollen das mal auf uns übertragen, weil ja unsere Herzen erreicht werden sollen. Es kann sein, dass man in einem gemeinsamen Dienst für den Herrn nicht mehr gleich gesinnt ist. Die Ursache werde ich gleich anhand von Vers 2 noch deutlicher machen. Vielleicht wollen wir etwas gelten, wenn schon nicht in der Welt, dann wenigstens unter den Brüdern, wenigstens im Dienst und schon ist ein Ansatz, eine Ursache zur Uneinigkeit vorhanden. Deshalb wünscht der Apostel, dass sie gleich gesinnt sein sollten. Wir finden hier vier Aussagen, die ich kurz beleuchten möchte:
1. „Dass ihr gleich gesinnt seid.“ Die Anmerkung sagt, dass sie dasselbe denken sollten. Zunächst möchte ich sagen, was das nicht bedeutet. Das sage ich wirklich aus aktuellen Veranlassungen heraus. Man kann nämlich Schriftstellen missbrauchen für seine eigenen Theorien. Diese Stelle ist eine davon. „Dasselbe denken“ meint nicht, dass wir in allen irdischen Fragen des Lebens genau dasselbe denken. Das wäre verhängnisvoll. Die Nichtbeachtung dieses Gedankens führt in den örtlichen Versammlungen zu den allergrößten Streitigkeiten. Wenn ich nämlich diesen Vers beanspruche, um meine Theorie zu rechtfertigen, dann sage ich letztlich: „Alle sollen so denken wie ich.“ Das verstehe ich dann unter „gleich gesinnt sein“. Genau das ist nicht gemeint. Einige Beispiele zu diesem Punkt: Unsere Geschwister haben nicht alle dieselbe Wohnzimmereinrichtung. Das ist euch auch schon aufgefallen, oder? Manche haben dort Lederkombinationen stehen, andere Sessel aus Stoff, andere haben gar keine Sessel. Ich kann nicht verlangen, dass das jetzt alle machen, weil ich das so für richtig halte. Manche Geschwister fahren in den Urlaub, andere gar nicht. Manche fahren vier Wochen, andere eine Woche. Manche zelten, andere gehen ins Hotel. Wenn wir jetzt sagen: „Alle müssen dasselbe denken, nämlich das machen, was ich auch mache“, dann gibt es die allergrößten Probleme in der Versammlung. Soll ich noch mehr Beispiele anführen? Müssen wir alle die gleiche Automarke fahren? Müssen wir alle die Kinder nach den gleichen Methoden erziehen? Dieser oder jener Vater hat andere Methoden als ich. In diesem Punkt müssen wir nicht alle dasselbe tun.
Ich muss in diesem Zusammenhang etwas zur Bedeutung des Wortes „Gesinnung“ sagen. „Gesinnung“ meint „Art des Denkens“. Die grundsätzliche Ausrichtung muss übereinstimmen. Wie können Menschen - Gläubige sind immer noch Menschen! - von ganz verschiedener Prägung, mit ganz unterschiedlicher Ausbildung, mit ganz unterschiedlichen Intelligenzquotienten, mit ganz unterschiedlichen Mentalitäten, wie können nun Menschen, die so verschieden sind, gleich gesinnt sein? Wie können sie dasselbe denken? Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, und doch ist sie nicht schwer: Weil es eine Gemeinschaft des Geistes gibt, und zwar des Heiligen Geistes. Was ist nun das Ziel des Heiligen Geistes? Sein Ziel ist, dass die Blicke aller auf eine Person konzentriert werden. Diese Person ist Christus. Das finden wir in Johannes 16, wo der Herr Jesus sagt: „Er wird mich verherrlichen“. Wenn unser aller Blicke, dein Blick und mein Blick, auf Christus konzentriert sind, dann wird er der Maßstab für alle Dinge sein. Dann haben alle die gleiche Ausrichtung an diesem „Kontrollpunkt“, wenn ich das mal so nennen darf. Dann sind wir letztlich gleich gesinnt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten und Wege, das eine Ziel zu erreichen, uns in Christus zu finden. Ein Beispiel finden wir in Johannes 21. Dort waren sieben Jünger unter der Führung von Petrus fischen gegangen. Das war kein guter Weg. Petrus fand zurück, indem er sich ins Wasser warf und zu dem Herrn zurück schwamm. Nun war er wieder zurück zu ihm gekommen. Die Jünger kamen auf eine andere Weise: Sie kamen in dem Schiff. Aber zurück kamen sie alle! Die gleiche Ausrichtung, die gleiche Denkweise, gleich gesinnt, aber auf verschiedenen Wegen zu dem gleichen Ziel kommend. Es ist wunderbar, wenn wir uns so in Christus in Übereinstimmung mit seinen Gedanken wissen.
Zu dem „gleich gesinnt sein“ in Verbindung mit der Gemeinschaft des Heiligen Geistes finden wir noch einen Vers in Römer 8: „Denn die, die nach dem Fleisch sind, sinnen auf das, was des Fleisches ist; die aber, die nach dem Geist sind, auf das, was des Geistes ist.“ Dann wird noch hinzugefügt: „Die Gesinnung des Geistes aber ist Leben und Frieden.“ (Vers 5.6) Merken wir, wie diese Stelle mit unserem Vers im Philipperbrief in Übereinstimmung steht? Wenn wir alle von der Gesinnung des Geistes geprägt sind, dann ist das Ergebnis Frieden.
2. „Dieselbe Liebe haben.“ Das verstehe ich so, dass er wünschte, dass die Philipper die Liebe, die sie ihm gegenüber erwiesen hatten, auch untereinander erweisen sollten. Das ist glaube ich viel schwieriger als einem in Rom befindlichen Paulus Liebe zu erweisen. Wisst ihr, es ist für mich überhaupt nicht schwer, einen Bruder in Australien zu lieben. Das fällt mir unheimlich leicht. Kein Problem! Aber den Bruder, der neben mir auf der Bank sitzt, zu lieben, das fällt mir schon ein bisschen schwerer, weil ich ihn kenne. Ich kenne nicht nur seine Stärken, sondern auch seine Schwächen. Das scheint mir hier die Belehrung des Apostels zu sein: „Philipper, ihr habt mir so viel Liebe erwiesen, aber habt sie jetzt bitte auch untereinander.“ Ich füge noch hinzu: „Und zwar ohne Ansehen der Person.“ Dieselbe Liebe meint: Nicht einen bevorzugen in der Zuwendung der Liebe und einen anderen benachteiligen, sondern dieselbe Liebe, zu allen die gleiche Qualität der Liebe habend. Dennoch kann und muss sich die Liebe auf verschiedene Art und Weise äußern. Das heißt, dass ich dieselbe Liebe zu allen habe, aber sie erweist sich in dem einen Fall in einer anderen Art als in einem anderen Fall. Wenn gar nichts vorliegt, was den Ausfluss dieser Liebe verhindert, dann kann sie auf die innigste Weise ausgeübt werden. Das kann ich auch durch Gesten der Zuneigung, z.B. einen Bruderkuss, zeigen. Aber es gibt auch Situationen, wo immer noch dieselbe Liebe vorhanden ist, aber sie sich dann anders erweisen muss, vielleicht nur noch dadurch, dass ich für jemanden beten kann. Aber die Liebe bleibt, unabhängig von dem Verhalten des anderen. Die Art jedoch, wie sie sich zeigt, ändert sich.
3. „Einmütig“ steht, wie man aus Nachschlagewerken entnehmen kann, in dieser Form im Grundtext nur einmal im Neuen Testament. Das bedeutet, dass man mit anderen zusammen einmütig die Dinge vertreten, handhaben oder lassen soll, je nachdem, wie die Situation es erfordert.
4. Zum vierten Punkt - „eines Sinnes“ - hilft uns auch hier die Anmerkung wieder weiter: „Das Eine denkend“. Das meint nicht genau dasselbe wie „gleich gesinnt sein“. Dieser Ausdruck bedeutet, dass sich alle auf die eine, jetzt notwendige Angelegenheit, konzentrieren. Darauf sind die Gedanken aller ausgerichtet, mit der Folge, dass man sich nicht in Nebensächlichkeiten verliert, sondern das eine im Auge hat, was jetzt gerade für diese Situation notwendig ist.
Ursachen für mangelnde Einmütigkeit
Nun wird in Vers 3 gezeigt, worin die Ursache dieser fehlenden Einmütigkeit bestand, nämlich in „Streitsucht und eitlem Ruhm“. Es heißt dort: „Nichts aus Streitsucht oder eitlem Ruhm tuend.“ Streitsucht ist, wie Galater 5,20 deutlich sagt, eine Frucht des Fleisches. Streitsucht und Hochmut verhindern diese Einmütigkeit. Eitler Ruhm ist nichts anderes, als höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sich selbst etwas zuzuschreiben, was nicht angemessen ist. Wir sollten übrigens überhaupt nicht hoch von uns denken, gar nicht. Bruder Darby hat einmal gesagt: „Wahre Demut ist nicht, wenn man schlecht von sich denkt, sondern wahre Demut ist, wenn man überhaupt nicht mehr an sich denkt.“ Das ist unser Problem: Wir denken zu viel an uns. Wir können es kaum vertragen, übersehen zu werden, weil wir meinen, eine gewisse Wichtigkeit zu besitzen. Der Apostel musste den Korinthern schreiben: „Was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (1. Kor 4,7). Was uns auch auszeichnen mag, vielleicht ein gutes Gedächtnis, eine gute Redegabe, Rhetorik, eine schnelle Auffassungsgabe, was es auch sein mag, es ist uns doch alles geschenkt worden! Es hat sich doch keiner diese Dinge erworben und verdient. Es ist geschenkt! Worin besteht denn der Anlass zu wahrem Ruhm? Wir wollen die Gnade rühmen und nicht etwas, was der Herr uns in seiner Güte anvertraut hat. Merken wir nicht, wenn wir einmal so in das Alltagsleben der Versammlungen schauen, wie wahr diese Verse sind? Unser Geltungsbedürfnis macht uns immer wieder so viel zu schaffen. Weil wir dann unter Umständen mal nicht Recht bekommen, fangen wir an zu streiten. Dann wollen wir unser Recht haben.
Dazu fällt mir gerade eine ganz interessante Geschichte ein: In einer Brüderstunde sagt ein Bruder in einer Auseinandersetzung: „Ich will doch nur mein Recht.“ Ein alter Bruder, der akustisch nicht gut hörte, sagte: „Ich habe dich nicht verstanden. Kannst du noch mal wiederholen, was du gesagt hast?“ Der Bruder antwortete etwas lauter: „Ja, ich will doch nur mein Recht.“ „So?“ fragte der alte Bruder „willst du wirklich dein Recht?“ „Ja!“ „Ja, wenn du dein Recht haben willst, dann muss Gott dich in die Hölle werfen.“ Da wurde der andere doch nachdenklich und sagte nach wenigen Sekunden: „Nein, ich will mein Recht nicht mehr.“
Psalm 37,5-6 sagt: „Befiehl dem HERRN deinen Weg und vertraue auf ihn, und er wird handeln! Und er wird deine Gerechtigkeit hervorkommen lassen wie das Licht, und dein Recht wie den Mittag“. Muss ich dafür sorgen, dass ich wieder rein gewaschen werde? Muss ich dafür sorgen, dass mein Unrecht aus der Welt geschafft wird? Wenn der Herr es will, dann macht er es doch. Wollen wir alle etwas aus diesen einfachen Belehrungen des Apostels lernen!
Einmütigkeit durch Demut
Nun sehen wir am Ende von Vers 3, wie Einheit erreicht wird. Einheit wird durch Demut erreicht: „Sondern in der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst.“ Ein schwieriger Vers! Ein Bruder sagte einmal: „Das kann ich nicht. Wenn ich die Fehler und Schwächen des anderen sehe und mich damit vergleiche, dann kann ich ihn nicht höher achten als mich selbst.“ Er hat Recht. Solange er diese Brille aufhat, hat er Recht. Dann muss er eine andere aufsetzten und dann hat er nicht mehr Recht. Die Frage ist: Wie ist es möglich, einen anderen höher zu achten als sich selbst? Übrigens meint der Vers nicht, dass ich dem anderen sagen muss: „Du musst mich ja höher achten als dich selbst. Hast du das gut verstanden?“ Nein, das sagt diese Stelle nicht, sondern sie sagt mir, dass ich ihn höher achten muss als mich selbst. Das ist nicht mehr so schwer, wenn man sich selbst einmal in das Licht des Wortes Gottes stellt. Keiner von den anwesenden Geschwistern, die heute Abend hier sind, weiß, wie schlecht ich bin. Das weiß ich besser als ihr alle zusammen. Keiner - außer dem Herrn natürlich - kennt mich so gut, wie ich mich kenne. Wenn ihr wüsstet, wie schlecht manchmal meine Gedanken sind. Wenn ich das so vor mir habe, dann kann ich solche Gedanken einem anderen nicht unterstellen. Ich sehe in dem anderen Christus. Ich habe vorhin gesagt: „Die Lösung zur Einmütigkeit ist die Gemeinschaft des Geistes.“ Der Heilige Geist konzentriert unsere Blicke auf Christus und das tut er auch im Blick auf meinen Mitbruder. Dann sehe ich Christus in ihm, sonst wäre er kein Bruder. Er hat den einen oder anderen Wesenszug Christi gezeigt. Ich sehe, was die Gnade in ihm bewirkt hat und sehe meine ganze Verdorbenheit. Ich kann nicht in das Herz meines Bruders schauen, aber ich weiß, was in meinem Herzen ist. Dann kann ich den anderen höher achten als mich selbst. Noch einmal: Demut bedeutet, nichts mehr von sich zu denken. Es geht auch nicht darum, Demut vorzuheucheln. Das ist keine Demut, sondern eine schreckliche Erscheinungsform von Hochmut. Was Demut ist, das lernen wir dann in dem Beispiel des Herrn Jesus ab Vers 5.
Auch auf das der anderen sehend
Aber zunächst folgt der vierte Vers: „Ein jeder nicht auf das Seine sehend, sondern ein jeder auch auf das der anderen.“ Ein gutes Beispiel für diese Praxis finden wir in Timotheus. In Philipper 2 werden - außer dem Herrn - noch drei weitere Beispiele angeführt, nämlich Paulus selbst (Vers 17), Timotheus (V.19) und Epaphroditus (Verse 25ff). Über Timotheus wird angesichts der Worte „alle suchen das Ihre, nicht das, was Jesu Christi ist“ (Vers 21) in Vers 20 gesagt, dass der Apostel „keinen Gleichgesinnten, der von Herzen für das Eure besorgt sein wird“ hatte, außer eben Timotheus. Also stand er im Gegensatz zu den Übrigen, die nur noch auf das Ihrige ausgerichtet waren. Nein, Timotheus war auf das der anderen ausgerichtet. Das ist der Ausfluss der Liebe. Als Überschrift über 1. Korinther 13 würde ich diese Eigenschaft der Liebe setzen: „Sie sucht nicht das Ihre“ (V.5). Sie sucht immer das Wohl der anderen. Genau das meint Philipper 2,4 b.
„Ein jeder nicht auf das Seine sehend“ meint nicht, dass ich überhaupt nicht mehr meine eigenen Angelegenheiten besehen darf. Das muss ich sogar. Ich muss mein Arbeitsleben, mein Familienleben, mein Eheleben besehen, ich muss auch für die eigenen „Hausgenossen“ sorgen, aber darum geht es hier nicht. Es geht hier um den grenzenlosen Egoismus, den wir oft an den Tag legen, das überzogene Selbstbewusstsein. Ich soll eben nicht das eigene Ich in den Mittelpunkt meines ganzen Denkens und Handelns stellen, sondern mich zurück stellen, mich gleichsam verschwinden lassen zum Wohl der anderen, wie das jetzt in dem Beispiel des Herrn Jesus deutlich werden wird. All die langen Erklärungen über die verschiedenen Ausdrücke wären kaum nötig, wenn wir uns das Vorbild, das ab Vers 5 vorgestellt wird, genau anschauen würden, denn das alles lernen wir von dem Herrn Jesus selbst.