Das Evangelium nach Matthäus
Kapitel 15
In diese liebliche Szene brachen Schriftgelehrte und Pharisäer aus Jerusalem ein, um sich zu beklagen und die Frage zu stellen, warum die Jünger ihre Hände nicht waschen und somit gegen die Überlieferung der Ältesten verstoßen. Vergegenwärtigen wir uns diese Situation! Hier ist der Sohn Gottes, der in der Fülle göttlicher Gnade allenthalben Heilungen gewährt, und da kommen diese Männer, die völlig blind sind gegenüber all dem, was geschieht, und wollen eine Frage der äußeren Ordnung geklärt haben. Verblendet durch gesetzliches Formenwesen, haben sie jede Wahrnehmung für das mächtige Wirken göttlicher Gnade verloren. Eine solche Geistesverfassung könnte uns unglaublich erscheinen, wenn wir nicht auch heute dieselben Merkmale einer pharisäischen Haltung beobachteten, die sich nach wie vor mit Streitpunkten dieser Art beschäftigt, die auf Überlieferung und allgemeinem Brauch beruhen, aber nicht auf das klare und deutliche Wort Gottes gegründet sind.
Die Antwort, die der Herr diesen Männern gibt, betont den Unterschied zwischen „dem Gebot Gottes“ und „eurer Überlieferung“ (V. 3). Diese Überlieferungen der Ältesten waren Erklärungen, ausführliche Erläuterungen und Folgerungen, die durch verehrte Lehrer früherer Zeit vom Gesetz abgeleitet worden waren. Sie beherrschten das Denken der Pharisäer, verdunkelten jedoch das eigentliche Gesetz Gottes, und das so weitgehend, dass man das Gesetz übertrat, um die Überlieferung zu halten. Der Herr legte ihnen das zur Last und illustrierte es anhand des fünften Gebotes. Ihre Überlieferung bezüglich der Gaben, die angeblich für Gott bestimmt waren, machte jenes Gebot völlig zunichte. Der „fromme“ und „orthodoxe“ Jude unserer Tage füllt seinen Geist mit dem Talmud, der aus diesen Traditionen zusammengestellt ist. Er ist wie ein Schleier, der ihnen den Sinn des wahren Wortes Gottes verhüllt.
Lasst uns Acht haben, dass wir nicht in denselben Fallstrick geraten. Wir können uns dankbar der Belehrungen von Dienern Gottes bedienen, und wenn wir sie recht nutzen, führen sie uns zum Urquell zurück, und das ist die Schrift selbst. Es würde nicht schwer sein, die Belehrungen der besten Diener Gottes in eine Art Talmud umzuwandeln. Aber dann würden sie für uns gleichsam eine Nebelwand sein, hinter der das reine Wort Gottes verborgen wäre, gleichwie der Talmud vor dem jüdischen Verständnis die wahre Bedeutung des Alten Testaments verbirgt.
Diese unheilvolle Verkehrung, die ohnehin von den Pharisäern bis zum äußersten getrieben wurde, erfuhr durch den Herrn eine schonungslose Entlarvung. Sie waren Heuchler, und Er sagte es ihnen geradeheraus. Sie fielen unter das vernichtende Urteil Jesajas, denn dieser Typ von religiöser Bosheit ist immer bei Menschen zu finden, deren Herz weit von Gott entfernt ist und die Ihn dennoch mit ihren Lippen ehren, während sie eigene Regeln und Gebote an die Stelle Seines Wortes setzen. Alle solche vorgebliche Anbetung ist leer und vergeblich. Doch kann auch heutzutage ein wahrer Gläubiger leicht darin verstrickt werden.
Nachdem der Herr den Pharisäern den Spiegel vorgehalten hatte, wandte Er sich zu dem Volk, um sie vor dem Irrtum zu warnen, der dieser Heuchelei zugrunde lag ‑ der Annahme, dass eine Verunreinigung des Menschen von außen her erfolgt, als ob sie physikalischer Art wäre. Vielmehr entsteht sie im Innern und ist geistlicher Art. Was den Menschen verunreinigt, kommt aus seinem Mund und tut kund, was in seinem Herzen ist. Das menschliche Herz ist die eigentliche Quelle alter Verunreinigung. Eine ernste Tatsache! Die Pharisäer ärgerten sich natürlich über eine solche Unterweisung, die alle ihre zeremoniellen Regeln an der Wurzel traf, aber das zeigte nur, dass sie keine Pflanzen der Pflanzung Gottes waren. Sie würden ausgerottet werden, das würde ihr Ende sein. Sie waren blind für sich selbst und führten noch andere, die auch blind waren, in die Irre. In Seinen Regierungswegen würde Gott mit ihnen handeln. Die Jünger sollten ihnen nichts erwidern, sondern sie in Ruhe lassen.
Doch was der Herr soeben gesagt hatte, befremdete sogar die Jünger. Petrus meinte, dass es sich um ein Gleichnis handele, und erbat eine Erklärung. Daraufhin musste der Herr sie rügen, tat es aber in einer milden Form. Es war eine Tatsache, dass keiner von ihnen, selbst nicht der beste, über den Buchstaben des Gesetzes mit seinen Opfern und zeremoniellen Vorschriften weit hinaussah, weshalb sie auch nur ein sehr geringes Verständnis für seine überführende Kraft hatten. Auch ihr Augenmerk ging auf das, was in ihren Mund einging, um sich nach der Gesetzesvorschrift rein zu halten. Wenn man aber das Gesetz geistlich versteht, dann zielt es auf den Zustand des Herzens, wie der Herr in Seiner Rede auf dem Berg gezeigt hatte. Die bösen Dinge in Vers 19 gehen aus dem Herzen hervor, und es ist bezeichnend, dass böse Gedanken diese Auflistung anführen, denn damit beginnt alles. So entlarvte der Herr das Böse, das sich im Herzen des Menschen vorfindet.
Im Fall der kanaanäischen Frau fuhr der Herr fort, die Güte im Herzen Gottes zu offenbaren. Göttliche Gnade war bereit, sich uneingeschränkt zu ergießen, und das ohne Ansehen von Personen, so dass der Heide ebenso wie der Jude sie empfangen konnte. Nur eins war nötig bei dem Empfänger: ein aufrichtiges Herz! Die Frau nun sprach Jesus als Sohn Davids an, um ihre Bitte um Erbarmen vorzubringen. Sie kam, als ob sie dem Volk Israel angehörte. Vielleicht dachte sie, dass dann ihre Aussicht auf Erhörung größer sei. Aber darin lag eine Spur von Unaufrichtigkeit, und deshalb antwortete er ihr „nicht ein Wort“.
Aber wenn sie auch nicht ganz aufrichtig war, bewies sie doch einen so ernsten, beharrlichen Glauben, dass die Jünger wegen ihres Schreiens für sie eintraten und daraufhin der Herr die Worte von Vers 24 sprach, die ihren Fehler deutlich machten. Jetzt bat sie nur noch aus ihrer Not heraus und sagte: „Herr, hilf mir!“ Und das ergab noch eindringlichere Worte des Herrn. Er war zu dem Haus Israel gesandt, das geistlicherweise verloren war, dennoch waren sie in der Stellung von Kindern, während die Heiden in der Stellung von Hündlein waren, unrein und außerhalb des Bereichs, mit dem Gott in Verbindung stand. In der Tat, das war ein Prüfstein! Würde sie die letzte Spur einer Verstellung fallenlassen und demütig diesen Platz einnehmen?
Genau das tat sie in eindrucksvoller Weise. Ihre Antwort in Vers 27 besagte eigentlich: „Gewiss bin ich nur eine Heidin, doch unter den Menschen ist genügend Überfluss, dass auch die Hündlein fressen können, und ich bin sicher, dass Gottes Herz nicht enger ist als das der Menschen.“ In dieser Antwort entdeckte der Herr sogleich einen großen Glauben, den Er anerkannte, und erfüllte ihren Wunsch. Zum zweiten Mal nahm der Herr großen Glauben wahr und stellte ihn heraus. In beiden Fällen ‑ bei dem Hauptmann in Kapitel 8 und hier ‑ waren es Heiden, die ihn bewiesen, und bei beiden war er eng verbunden mit Selbstverurteilung. „Ich bin nicht würdig“, sagte der Hauptmann. „Ich bin nur ein Hündlein“, sagte die Frau hier eigentlich. So ist das immer: Eine hohe Meinung von sich selbst ist gepaart mit schwachem Glauben und eine demütige Gesinnung mit starkem Glauben. Lasst uns untersuchen und sehen, ob das geringe Maß unseres Glaubens sich nicht aus der gleichen Ursache erklärt.
Das Herz Gottes war in der Tat größer, als die Frau es sich vorstellte. Obwohl sie nur ein Hündlein war, empfing sie doch eine große Krume von dem Tisch, doch in Kürze würde das ganze Festmahl den Hündlein angeboten werden. Nichts anderes besagt die Mitteilung des Apostels Paulus in Apostelgeschichte 28,28. Doch es musste sich noch viel ereignen, bevor diese Mitteilung gegeben werden konnte. In unserem Evangelium sehen wir die Anfänge dieses wunderbaren Übergangs. Bis zum Ende unseres Kapitels werden wir noch weitere eindrucksvolle Kundgebungen des Herzens Gottes sehen. Das Erbarmen, das eine heidnische Frau segnete, war gleicherweise den leidenden Volksmengen Israels zugewandt. Sie brauchten Ihm nur ihre Notleidenden zu bringen und sie Ihm zu Füßen zu werfen, und Er heilte sie in einer Weise, dass ihre Gedanken auf den Gott Israels gelenkt wurden und sie Ihn verherrlichten.
Diese Machtentfaltung, die in göttlichem Erbarmen geschah, war so anziehend, dass die Volksmengen viel länger bei Ihm blieben, als mitgebrachte Verpflegung ausreichte, und im Blick auf ihre Notdurft offenbarte Jesus wiederum das Mitgefühl des Herzens Gottes. Es ergab sich eine ähnliche Situation, wie sie noch im vorigen Kapitel berichtet wurde, doch offensichtlich hegten die Jünger keinerlei Erwartung, dass der Herr ebenso handeln würde, wie Er zuvor getan hatte. Sie veranschaulichen uns unseren eigenen Mangel an Glauben. Es ist ziemlich leicht, sich zu erinnern, wie der Herr in vergangenen Tagen geholfen hat; aber es ist etwas anderes, heute auf Sein Handeln zu rechnen in der Gewissheit, dass Er immer derselbe ist. Doch Mangel an Glauben auf unserer Seite ist kein unüberwindliches Hindernis zum Handeln auf Seiner Seite. Und wieder knüpfte Er an ihre geringfügigen Vorräte an und vermehrte sie über alle ihre Bedürfnisse hinaus. Wieder war für alle Speise da, und das im Überfluss. Von der Art ist das Mitgefühl des Herzens Gottes.