Betrachtungen über das fünfte Buch Mose
Blutschuld und Familienrecht
Ein Mensch ist erschlagen auf dem Feld gefunden worden
Die ersten neun Verse des 21. Kapitels sollten wir sehr aufmerksam betrachten, denn dieser Abschnitt ist sehr interessant und anregend. Eine Sünde ist begangen, denn ein Mensch ist erschlagen auf dem Feld gefunden worden, aber niemand weiß etwas Näheres darüber, kein Mensch kann sagen, ob Mord oder Totschlag vorliegt oder wer die Tat begangen hat. Die Zusammenhänge, die zu diesem Tatbestand geführt haben, sind unbekannt. Eine Blutschuld befleckt das Land des HERRN, und der Mensch steht der Sache ratlos gegenüber. Was ist zu tun? Die Herrlichkeit Gottes und die Reinheit seines Landes müssen gewahrt werden. Ihm ist alles bekannt, und Er allein weiß, was zu tun ist. Und wirklich, sein Handeln hat uns viel zu sagen.
Zuerst treten die Ältesten und Richter auf. Die Ansprüche der Wahrheit und Gerechtigkeit müssen gebührlich beachtet werden. Gerechtigkeit und Gericht müssen aufrechterhalten werden. Die Sünde muss gerichtet werden, ehe Sünden vergeben oder Sünder gerechtfertigt werden können. Der Gerechtigkeit muss entsprochen, der Thron Gottes gerechtfertigt und der Name Gottes verherrlicht werden, ehe die Stimme der Barmherzigkeit reden kann. Die Gnade Gottes kann nur durch Gerechtigkeit herrschen. Gott sei Dank, dass es so ist! Welch eine herrliche Wahrheit für alle, die den ihnen zukommenden Platz als Sünder eingenommen haben! Gott ist in Bezug auf die Sünde verherrlicht worden und kann jetzt in Gerechtigkeit dem Sünder vergeben und ihn rechtfertigen.
In der vorliegenden Stelle nun wird uns ohne Zweifel die große Grundwahrheit der Versöhnung vorgestellt, aber es geschieht mit besonderer Beziehung auf Israel. Der Tod Christi wird hier von seinen beiden Seiten betrachtet, nämlich als Ausdruck der Schuld des Menschen und als Entfaltung der Gnade Gottes. Jene sehen wir in dem Erschlagenen, der auf dem freien Feld gefunden, diese in der jungen Kuh, die in dem immer fließendem Bach getötet wurde (vgl. den Abschnitt „Die junge rote Kuh“, 4. Mo 19). Die Ältesten und Richter machen die dem Erschlagenen am nächsten gelegene Stadt ausfindig, und nur das Blut eines fleckenlosen Opfers kann dieser Stadt helfen, – ein Hinweis auf das Blut dessen, der in der schuldigen Stadt Jerusalem getötet wurde.
Von dem Augenblick an, wo den Ansprüchen der Gerechtigkeit durch den Tod des Opfers Genüge geschehen ist, tritt ein neues Element auf. Die Priester, die Söhne Levis, müssen herzutreten: ein Bild der Gnade, die auf der Grundlage der Gerechtigkeit handelt. Die Priester sind die Kanäle der Gnade, wie die Richter die Hüter der Gerechtigkeit sind. Erst nachdem das Blut vergossen war, konnten die Diener der Gnade herzutreten. Der Tod der jungen Kuh veränderte alles, „Und die Priester, die Söhne Levis, sollen herzutreten; denn sie hat der HERR, dein Gott, erwählt, ihm zu dienen und im Namen des HERRN zu segnen; und nach ihrem Ausspruch soll bei jedem Rechtsstreit und bei jeder Verletzung geschehen“ (V. 5). Alles soll nach dem herrlichen und ewigen Grundsatz der Gnade geordnet werden, die durch Gerechtigkeit herrscht.
Die Zeit nähert sich, wo Gott mit Israel in dieser Weise handeln wird. Wir dürfen bei der Betrachtung der Verordnungen in diesem Buch nie deren nächstliegende Anwendung aus dem Auge verlieren. Ohne Zweifel liegen in diesen Verordnungen wertvolle Lehren für uns. Aber wir können sie doch nur dann verstehen und schätzen, wenn wir die wirkliche und eigentliche Bedeutung der Verordnungen erkennen. Wie wertvoll und tröstlich ist z. B. die Tatsache, dass nach dem Ausspruch des Dieners der Gnade bei jedem Rechtsstreit und bei jeder Verletzung gehandelt werden soll. Es ist wertvoll sowohl für das bußfertige Volk Israel in der Zukunft als auch für jede bußfertige Seele jetzt!
„Und alle Ältesten jener Stadt, die dem Erschlagenen am nächsten sind, sollen ihre Hände über der jungen Kuh waschen, der im Bach das Genick gebrochen worden ist.“1„Ich wasche meine Hände in Unschuld und umgehe deinen Altar, HERR“ (Ps 26,6). Nur da, wo das Sühnungsblut unsere Schuld für immer gesühnt hat, ist der Platz, wo wir unsere Hände waschen können. „Und sie sollen anheben und sprechen: Unsere Hände haben dieses Blut nicht vergossen, und unsere Augen haben es nicht gesehen; vergib, HERR, deinem Volk Israel, das du erlöst hast, und lege nicht unschuldiges Blut in die Mitte des Volkes Israel. Und die Blutschuld wird ihnen vergeben werden“ (V. 7.8). „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34). „Euch zuerst hat Gott seinen Knecht, als er ihn erweckte, gesandt, euch zu segnen, indem er einen jeden von seinen Bosheiten abwendet“ (Apg 3,26). Entsprechend wird ganz Israel einmal errettet und gesegnet werden nach den ewigen Vorsätzen Gottes und wegen seiner Verheißung und des Eides, den Er Abraham geschworen hat und der durch das Blut Christi auf ewig bestätigt worden ist.
Die Verse 10–17 beziehen sich ausschließlich auf Israel und auf sein Verhältnis zu dem HERRN. Wir wollen uns hierbei nicht länger aufhalten. Man wird in den Propheten zahlreiche Stellen finden, die mit der vorliegenden in Verbindung stehen, und in denen der Heilige Geist sich in rührender Weise an das Gewissen des Volkes wendet und ihm jenes wunderbare Verhältnis ins Gedächtnis ruft, in das der HERR es zu sich selbst gebracht hatte, in dem es aber in so offenbarer und trauriger Weise versagt hat. Israel hat sich dem HERRN gegenüber als eine untreue Frau erwiesen und ist darüber beiseitegesetzt worden. Aber die Zeit nähert sich, wo dieses lange verworfene, aber nie vergessene Volk nicht nur wiederhergestellt, sondern auch Segnungen, Vorrechte und Herrlichkeiten empfangen wird, die es nie vorher gekannt hat. Wir dürfen dies nicht aus dem Auge verlieren. Wie ein glänzender goldener Faden zieht es sich durch alle prophetischen Bücher hindurch, von Jesaja bis Maleachi, und das Neue Testament nimmt dieses schöne Thema wieder auf und ergänzt es.
Ein unbändiger und rebellischer Sohn
Der nächste Abschnitt zeigt uns Israel von einem anderen Gesichtspunkt. Wir lesen von einem „unbändigen und widerspenstigen Sohn“, dem treffenden Bild jenes abtrünnigen Geschlechts, für das es keine Vergebung gibt (V. 18–21). Wir machen hier den Leser auf den interessanten Unterschied zwischen der Handlung des Gesetzes und der göttlichen Regierung bezüglich des unbändigen Sohnes einerseits und dem ergreifenden Gleichnis von dem verlorenen Sohn in Lukas 15 andererseits aufmerksam. Ist es nicht eine wunderbare Sache, dass in 5. Mose 21 und in Lukas 15 derselbe Gott redet und handelt? Wie verschieden ist die Sprache! Wie verschieden die Handlungsweise! Unter dem Gesetz wird der Vater aufgefordert, seinen Sohn zu nehmen und ihn den Ältesten seiner Stadt zu übergeben, damit er gesteinigt werde. Unter der Gnade eilt der Vater dem zurückkehrenden Sohn entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Er bekleidet ihn mit der vornehmsten Kleidung, gibt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße. Er lässt das gemästete Kalb für ihn schlachten, und das ganze Haus ist mit Freude und Jubel erfüllt.
Welch ein Gegensatz! Im ersten Fall übt die Hand Gottes in gerechter Regierung das Gericht über den Widerspenstigen aus, im zweiten Fall offenbart sich das Herz Gottes in ergreifender Zärtlichkeit gegenüber dem armen Bußfertigen, dem Er versichert, dass Er selbst innige Freude über seine Umkehr empfindet. Den Verstockten treffen die Steine des Gerichts. Der bußfertig Zurückkehrende empfängt den Kuss der Liebe.
Verflucht ist jeder, der am Holz hängt
Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die letzten Verse unseres Kapitels, auf die der Apostel im dritten Kapitel des Galaterbriefs anspielt. „Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist – denn es steht geschrieben: ‚Verflucht ist jeder, der am Holz hängt!'“ (Gal 3,13).
Diese Anspielung ist besonders deshalb so interessant und wertvoll, weil sie uns nicht nur die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus verstehen lässt, der ein Fluch für uns geworden ist, damit der Segen Abrahams auf uns arme Sünder aus den Nationen käme, sondern auch weil sie uns zeigt, wie der Heilige Geist auf die Schriften Moses und besonders auf das fünfte Buch Mose sein Siegel drückt. Derselbe Geist weht durch alle Schriften des Alten und Neuen Testaments.
Fußnoten
- 1 Welch ein bedeutungsvolles Bild gibt uns dieser „immer fließende Bach“ von dem, was diese Welt und insbesondere das Land Israel für unseren Herrn und Heiland war! Wahrhaftig, es war für ihn ein Ort der tiefsten Erniedrigung, ein Land, das nie bearbeitet noch besät worden war. Aber durch seinen Tod, den Er dort erlitt, hat Er dieser Erde und dem Land Israel für die Dauer des tausendjährigen Reiches eine reiche Segensernte verschafft, zum Preis seiner erlösenden Liebe. Und Er kann jetzt vom Thron der Majestät des Himmels aus zurückblicken (und wir im Geist mit ihm) auf jenen öden finsteren Ort, an dem das Werk vollbracht wurde, das die unerschütterliche Grundlage der Herrlichkeit Gottes, der Segnungen der Versammlung, der völligen Wiederherstellung Israels, der Freude unzähliger Nationen und endlich der glorreichen Befreiung dieser seufzenden Schöpfung bildet.