Betrachtungen über das fünfte Buch Mose
Das Sabbatjahr
Jede Schuld erlassen
Es ist wirklich wunderbar zu beobachten, wie der Gott Israels immer bemüht war, das Herz seines Volkes durch die verschiedenen Opfer, Feierlichkeiten und Einrichtungen des Levitendienstes an sich zu ziehen. Jeden Tag wurde morgens und abends ein Lamm geopfert, jede Woche war der heilige Sabbat, jeden Monat das Fest des Neumondes, jedes Jahr das Passahfest, alle drei Jahre die Einbringung des Zehnten, alle sieben Jahre das Erlassjahr und alle fünfzig Jahre das Jubeljahr.
Das alles enthält wertvolle Belehrungen für uns. Das morgens und abends dargebrachte Lamm war, wie wir wissen, ein ständiger Hinweis auf „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt“ (Joh 1,29). Der Sabbat war das Bild der Ruhe, die dem Volk Gottes bleibt. Der Neumond stellte die Zeit vor, wo das wiederhergestellte Volk Israel die hellen Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit auf die Nationen zurückwerfen wird. Das Passah war die ständige Erinnerung an die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens. Das Jahr des Zehnten rief dem Volk immer wieder das Eigentumsrecht des HERRN über das Land ins Gedächtnis zurück sowie die Art und Weise, wie seine Einkünfte für die Bedürfnisse seiner Arbeiter und seiner Armen verwendet werden sollten. Das Sabbatjahr redete von der herrlichen Zeit, wo alle Schulden gelöscht und alle Darlehen erlassen sein werden. Das Jubeljahr war das herrliche Vorbild der Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, wenn der Gefangene in Freiheit gesetzt und der Verbannte in seine langersehnte Heimat und zu seinem Erbteil zurückkehren wird, wenn das Land Israel und die ganze Erde sich der segensreichen Regierung des Sohnes Davids erfreuen werden.
In all diesen Verordnungen entdecken wir zwei besondere Charakterzüge, nämlich die Verherrlichung Gottes und die Segnung des Menschen. Diese beiden Dinge sind durch ein göttliches und ewiges Band miteinander verbunden. Gott hat es so geordnet, dass seine eigene Verherrlichung und die Segnung des Geschöpfes untrennbar miteinander verbunden sind. Das ist eine große Freude für das Herz und lässt uns die Kraft und Schönheit des bekannten Wortes besser verstehen: „Wir rühmen uns in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 5,2). Wenn diese Herrlichkeit in ihrem vollen Glanz erstrahlen wird, dann werden auch die Segnung, Ruhe und Glückseligkeit des Menschen ihre ewige Vollendung erreichen.
Im siebten Jahr (V. 1–6) sehen wir ein schönes Vorbild hiervon. Es war „ein Erlass des HERRN“, und deshalb erfuhr jeder Schuldner von Dan bis Beerseba seinen gesegneten Einfluss. Der HERR wollte seinem Volk das hohe und heilige Vorrecht geben, Gemeinschaft mit ihm in einer Sache zu haben, die das Herz des Schuldners mit Freude und Jubel erfüllte. Er wollte sie die tiefe Segnung einer völlig freien Vergebung lehren, denn das ist es, woran Er Selbst seine Freude findet.
Großzügig geben
Aber das arme Menschenherz ist so wenig fähig, sich zu dieser Höhe zu erheben. Es ist nicht bereit, diesen himmlischen Weg zu betreten und fühlt sich durch seine Selbstsucht beengt und behindert, nach diesem göttlichen Prinzip der Gnade zu handeln. Es fühlt sich nicht heimisch in dieser himmlischen Atmosphäre und ist nicht geneigt, das Gefäß und der Kanal der Gnade zu sein, die in so herrlichem Glanz aus allen Wegen Gottes strahlt. Dies geht deutlich aus den Warnungen der folgenden Verse hervor (Lies V. 7–11). Die geheimen Quellen des selbstsüchtigen Herzens werden hier bloßgelegt und verurteilt. Nichts könnte die verborgenen Wurzeln des Bösen in der menschlichen Natur besser aufdecken als die Gnade. Der Mensch muss in den verborgensten Tiefen seines sittlichen Wesens erneuert werden, ehe er ein Gefäß der göttlichen Liebe sein kann. Selbst solche, die durch die Gnade erneuert worden sind, haben ständig gegen die versteckten und hässlichen Formen der Selbstsucht zu wachen, in die unsere gefallene Natur sich kleidet. Nur die Gnade kann das Herz für die vielfältigen menschlichen Bedürfnisse offen halten. Wir müssen nahe bei der Quelle der göttlichen Liebe bleiben, wenn wir Segenskanäle mitten in der Not und dem Elend sein wollen, die uns umgeben.
Wie liebevoll klingen die Worte: „Du sollst ihm deine Hand weit öffnen!“ (V. 8). Sie atmen himmlische Luft aus. Ein offenes Herz und eine weit geöffnete Hand entsprechen Gottes Wesen. „Einen fröhlichen Geber liebt Gott“ (2. Kor 9,7), weil Er selbst einer ist. Er ist ein Gott, „der allen willig gibt und nichts vorwirft“ (Jak 1,5). Er möchte uns gern das Vorrecht schenken, seine Nachahmer zu sein. Eine wunderbare Gnade! Der bloße Gedanke daran erfüllt schon das Herz mit Bewunderung, Liebe und Anbetung. Wir sind nicht nur durch die Gnade errettet, sondern wir stehen auch in der Gnade, leben unter ihrer Herrschaft und atmen ihre Luft. Wir sind berufen, lebendige Zeugen der Gnade zu sein, und zwar nicht nur für unsere Brüder, sondern auch dem ganzen Menschengeschlecht gegenüber. „Also nun, wie wir Gelegenheit haben, lasst uns das Gute wirken gegenüber allen, am meisten aber gegenüber den Hausgenossen des Glaubens!“ (Gal 6,10).
Diese göttlichen Belehrungen sind wohl wertvoll, aber ihre Werte können nur dann wirklich von uns gefühlt werden, wenn wir sie praktisch verwirklichen. Das menschliche Elend umgibt uns in tausenderlei Formen. Überall finden wir gebrochene Herzen, gebeugte Seelen, unglückliche Familien. Witwen und Waisen begegnen uns täglich auf unseren Wegen. Wie verhalten wir uns ihnen gegenüber? Verhärten wir unsere Herzen und verschließen wir unsere Hände vor ihnen? Oder suchen wir nach jenem „Erlass des HERRN“ zu handeln? Bedenken wir wohl, dass wir nicht berufen sind, für uns selbst zu leben – das wäre eine traurige Verleugnung aller Charakterzüge und Grundsätze des Christentums, zu dem wir uns bekennen – sondern dass es unser hohes und heiliges Vorrecht, ja, unser ausdrücklicher Auftrag ist, das Licht des Himmels, dem wir angehören, nach allen Seiten hin leuchten zu lassen. Wo wir auch sein mögen, überall sollten wir denen, die mit uns in Kontakt kommen, ein Zeugnis von der Gnade Jesu in Werk und Wort sein. Und wo wir eine Not feststellen, da sollten wir unsere Teilnahme zu erkennen geben, und wäre es auch nur durch ein Wort des Trostes, wenn es nicht in unserer Macht steht, mehr zu tun.
Der Herr gebe, dass wir alle, die wir Christen zu sein bekennen, im täglichen Leben ein Brief Christi sind, gekannt und gelesen von allen Menschen! Dann würde wenigstens der Unglaube eines seiner triftigsten Gründe und Einwürfe gegen das Christentum beraubt werden. Denn nichts bestärkt ihn mehr, als das mit ihrem Bekenntnis im Widerspruch stehende Leben der Christen. Nicht, dass ein solcher Einwand stichhaltig wäre oder vor dem Richterstuhl Christi auch nur erwähnt werden würde, denn jeder wird nach dem Wort Gottes gerichtet werden, selbst wenn kein einziger Christ auf der Erde treu gewesen wäre. Trotzdem sind die Christen verantwortlich, ihr Licht leuchten zu lassen vor den Menschen, damit diese ihre guten Werke sehen und ihren Vater im Himmel preisen. Wir sind verpflichtet, in unserem täglichen Leben die himmlischen Prinzipien, wie sie das Wort Gottes entfaltet, zu offenbaren, um so jeden geringsten Einwand und jedes Argument der Ungläubigen zu entkräften.
Der hebräische Knecht
Wir kommen jetzt zu dem Gebot über den hebräischen Knecht. „Wenn dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, sich dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen; und im siebten Jahr sollst du ihn frei von dir entlassen. Und wenn du ihn frei von dir entlässt, so sollst du ihn nicht leer entlassen: Du sollst ihm reichlich aufladen von deinem Kleinvieh und von deiner Tenne und von deiner Kelter; von dem, womit der HERR, dein Gott, dich gesegnet hat, sollst du ihm geben“ (V. 12–14).
Wie schön ist das! Gott wollte nicht, dass der Bruder leer ausgehen sollte, denn Freiheit und Armut harmonieren nicht miteinander. Er sollte nicht nur frei ausgehen, sondern auch reichlich ausgestattet und völlig befriedigt werden im Hinblick auf seine Bedürfnisse. Das ist wirklich göttlich. Wir haben nicht nötig, zu fragen, in welcher Schule solch ausgezeichnete Lehren erteilt werden. Sie tragen das Gepräge des Himmels und verbreiten den Wohlgeruch des Paradieses Gottes. Hat nicht Gott genau so mit uns gehandelt? Er hat uns nicht nur Leben und Freiheit gegeben, sondern uns auch großzügig mit allem beschenkt, was wir für Zeit und Ewigkeit brauchen. Er hat uns die unermesslichen Schatzkammern des Himmels geöffnet. Er hat den Sohn seiner Liebe nicht nur für uns gegeben, um uns zu erretten, sondern Er hat ihn uns auch als Gabe geschenkt, um uns zu erfreuen. Er hat uns „alles zum Leben und zur Gottseligkeit geschenkt“ (2. Pet 1,3). Alles in Betreff „des jetzigen und des zukünftigen Lebens“ (1. Tim 4,8) ist uns zugesichert durch die freigebige Hand unseres Vaters.
Wie rührend ist schon die Ausdrucksweise, in der Gott die Behandlung des hebräischen Knechtes vorschreibt! „Du sollst ihm reichlich aufladen“, nicht wenig oder ungern, sondern so wie es Gott entspricht. Er will, dass wir seine Nachahmer sind in einer Welt, die seinen Sohn gekreuzigt hat. Er hat uns nicht nur diese erhabene Würde übertragen, sondern uns auch mit einem fürstlichen Vermögen versehen, um sie zeigen zu können. Er hat uns die unerschöpflichen Quellen des Himmels zur Verfügung gestellt. „Denn alles ist unser“ durch seine unendliche Gnade.
In Vers 15 wird dem Volk ein Motiv vorgestellt, das darauf abzielte, ihre Zuneigungen und Mitgefühle zu wecken. „Und du sollst dich daran erinnern, dass du ein Knecht gewesen bist im Land Ägypten, und dass der HERR, dein Gott, dich erlöst hat; darum gebiete ich dir heute diese Sache“. Die Erinnerung an die Gnade des HERRN, als Er sie aus Ägypten erlöste, sollte das bleibende und mächtige Motiv ihres Handelns mit dem armen Bruder bilden. Dieser Grundsatz allein wird standhalten. Wenn wir den Ursprung unserer Motive woanders als in Gott selbst und in seinem Handeln mit uns suchen, wird unser praktisches Leben bald scheitern. Nur wenn wir das lebendige Wissen um die wunderbare Gnade bewahren, die Gott in der Erlösung in Christus Jesus uns offenbart hat, können wir in echtem, tätigen Wohlwollen sowohl gegen unsere Brüder als auch gegen die, die draußen sind, beharren. Bloße freundliche Gefühle, die in unseren Herzen aufwallen, oder die durch den Kummer, die Not und das Leiden anderer angeregt werden, verschwinden bald wieder. Unversiegbare Quellen finden sich nur in dem lebendigen Gott.
In Vers 16 wird der Fall behandelt, wo ein Knecht es vorzieht, bei seinem Herrn zu bleiben. „Und es soll geschehen, wenn er zu dir spricht: Ich will nicht von dir weggehen – weil er dich und dein Haus liebt, weil ihm wohl bei dir ist –, so sollst du einen Pfriem nehmen und ihn durch sein Ohr in die Tür stechen, und er wird dein Knecht sein für immer“.
Diese Stelle zeigt im Vergleich zu 2. Mose 21,1–6, einen bemerkenswerten Unterschied. Während dort der bildliche Charakter vorherrscht, tritt hier mehr der sittliche in den Vordergrund. Deshalb erwähnt der Schreiber hier nichts von der Frau und den Kindern des Knechtes, da dies seinem Zweck nicht entsprechen würde, während ihre Erwähnung im zweiten Buch Mose die Schönheit und Vollkommenheit des Bildes erhöht. Dies ist ein weiterer treffender Beweis dafür, dass das fünfte Buch Mose mehr ist als eine bloße Wiederholung der vorhergehenden Bücher.
Wir haben also hier mehr die sittliche Seite dieser Anordnung. Der Knecht liebt seinen Herrn und fühlt sich glücklich bei ihm. Er zieht deshalb eine lebenslängliche Knechtschaft einer Freiheit vor, die ihn von seinem geliebten Herrn trennen würde, und will lieber für immer die Zeichen der Knechtschaft tragen, als die mit der Freiheit verbundenen Segnungen fern von seinem Herrn genießen. Solch ein gutes Verhältnis zwischen Herr und Knecht wirft auf beide ein gutes Licht. Die Herren unter uns sollten sich wohl fragen, inwieweit sie das Wohl und das Glück ihrer Untergebenen im Auge haben. Sie sollten nie vergessen, dass sie im Blick auf sie an weit mehr zu denken haben, als an die Menge der Arbeit, die sie ihnen leisten können. Schon nach dem einfachen Prinzip: „Leben und leben lassen“ sind sie verpflichtet, ihre Angestellten glücklich und zufrieden zu machen und ihnen das Bewusstsein zu vermitteln, dass nicht nur ihre Dienstleistungen, sondern auch die Liebe ihrer Herzen gesucht werden.
Aber ein christlicher Herr sollte nach einem höheren Prinzip handeln. Er hat das Vorrecht, ein Nachahmer Christi, seines Herrn, zu sein. Die Erinnerung daran wird sein ganzes Verhalten gegen seine Untergebenen regeln und ihn anspornen, dem göttlichen Vorbild gemäß in allen praktischen Einzelheiten des täglichen Lebens zu handeln.
Dasselbe gilt auch für den christlichen Knecht hinsichtlich seiner Stellung und seines Verhaltens. Wie sein Herr, so hat auch er das große Vorbild zu betrachten, das ihm in dem Weg und Dienst des einzig vollkommenen Dieners, der je auf der Erde gelebt hat, vorgestellt ist. Er sollte in seinen Fußstapfen wandeln, seinen Geist offenbaren und sein Wort erforschen. Es ist wichtig, dass der Heilige Geist der Unterweisung der im Dienstverhältnis Stehenden mehr Aufmerksamkeit gewidmet hat als allen übrigen Beziehungen zusammen. Man kann dies mit einem Blick in den Briefen an die Epheser, die Kolosser und an Titus feststellen. Der christliche Knecht kann die Lehre seines Heiland-Gottes zieren, indem er nichts veruntreut und nicht widerspricht. Er kann dem Herrn Christus in den einfachsten Verrichtungen des häuslichen Lebens ebenso wirksam dienen wie der, der vor einem großen Publikum die frohe Botschaft des Heils verkündigt.
Wenn beide, Herr und Knecht, durch himmlische Prinzipien beherrscht werden und versuchen, ihrem gemeinschaftlichen Herrn zu dienen und ihn zu verherrlichen, dann wird es ein glückliches Zusammenleben beider zur Folge haben.
Im Vers 18 finden wir eine Ermahnung, die sehr zart eine im Menschenherzen verborgene böse Wurzel aufdeckt. „Es soll nicht schwer sein in deinen Augen, wenn du ihn frei von dir entlässt; denn was an Wert das Doppelte des Lohnes eines Tagelöhners ausmacht, hat er dir sechs Jahre lang gedient; und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in allem, was du tust“.
Es ist rührend, dass Gott sich herablässt, um für die Ansprüche eines armen Knechtes einzutreten und sie seinem Herrn ans Herz zu legen, als handle es sich um ihn selbst. Er lässt nichts ungesagt, was der Sache des Knechtes dienen könnte. Er erinnert den Herrn an den Wert einer sechsjährigen Dienstzeit und sucht ihn durch die Verheißung größerer Segnungen als Lohn für sein edelmütiges Handeln zu ermutigen. Gott wollte nicht nur, dass die edle Tat geschähe, sondern dass sie auch in einer Weise vollzogen würde, die das Herz des Knechtes erfreuen musste. Er denkt nicht nur an die Handlung selbst, sondern auch an die Art, wie sie auszuführen ist. Wir mögen uns manchmal aus einem gewissen Pflichtgefühl heraus zu einer edlen Tat aufraffen; aber weil wir sie mit schwerem Herzen tun, berauben wir sie ihres ganzen Wertes. Es ist das edelmütige Herz, das eine edelmütige Tat ziert. Wir sollten eine Freundlichkeit immer so erweisen, dass der Empfänger fühlt, wie sehr unser eigenes Herz dadurch erfreut wird.
Ein Opfer ohne Fehl
Der letzte Abschnitt dieses interessanten Kapitels enthält in den Versen 19–23 die Verfügung, nur etwas Vollkommenes zu opfern: das Männliche und Untadelige vom Erstgeborenen, das passende Bild des fleckenlosen, am Kreuz geopferten Lammes Gottes, das die unerschütterliche Grundlage unseres Friedens und die Speise unserer Seelen in der Gegenwart Gottes geworden ist. Die Versammlung ist um den göttlichen Mittelpunkt geschart und nährt sich in der Gegenwart Gottes von dem, was ein bekanntes Bild von Christus ist, von ihm, der zu gleicher Zeit unser Opfer, unser Mittelpunkt und die Quelle aller unserer Freuden ist.