Betrachtungen über das fünfte Buch Mose
Verschiedene Anweisungen
Die Verantwortung eines heiligen Volkes
„Ihr seid Kinder des HERRN, eures Gottes; ihr sollt euch nicht wegen eines Toten Einschnitte machen und euch nicht kahl scheren zwischen euren Augen. Denn ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott; und dich hat der HERR erwählt, ihm ein Eigentumsvolk zu sein, aus allen Völkern, die auf dem Erdboden sind“ (V. 1.2).
Die ersten Verse unseres Kapitels zeigen uns die Grundlage aller Vorrechte und Verantwortlichkeiten des Volkes Gottes. Es ist oft gesagt worden, dass man erst dann die mit einer bestimmten Stellung verbundenen Zuneigungen kennen und die daraus hervorgehenden Pflichten erfüllen kann, wenn man selbst in dieser Stellung steht. Wenn jemand nicht selbst Vater ist, können ihm auch die eingehendsten Erklärungen kein Verständnis über die Gefühle oder Zuneigungen eines Vaterherzens vermitteln. Sobald er aber in dieses Verhältnis eintritt, kennt er sie ganz genau. So ist es mit jedem irdischen Verhältnis, mit jeder Stellung, und so ist es auch in den Dingen Gottes. Man kann nicht die Zuneigungen oder Pflichten eines Kindes Gottes verstehen, wenn man kein Kind Gottes ist, und man kann nicht die christlichen Pflichten erfüllen, ohne zuvor ein wirklicher Christ geworden zu sein. Allerdings benötigt man auch dann noch die Kraft des Heiligen Geistes zu deren Erfüllung.
Offenbar ist es Gottes Sache, seinen Kindern Vorschriften für ihr Verhalten zu geben, während es ihr Vorrecht und ihre Verantwortlichkeit ist, seine gnädige Zustimmung in allen Dingen zu suchen. „Ihr seid Kinder des HERRN, eures Gottes; ihr sollt euch nicht Einschnitte machen.“ Israel gehörte dem HERRN und nicht mehr sich selbst, und daher hatte kein Glied der Gemeinde ein Recht, sich wegen eines Toten Einschnitte zu machen oder sein Angesicht zu entstellen. Die armen und unwissenden Nationen ringsum mochten sich Einschnitte machen, da sie Gott nicht kannten und in keiner Beziehung zu ihm standen. Aber Israel stand auf dem hohen und heiligen Boden einer nahen Verbindung mit Gott und das musste alle ihre Gewohnheiten kennzeichnen.
„Denn ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott.“ Gott sagte nicht: „Du sollst ein heiliges Volk werden“. Unmöglich hätten sie sich zu einem heiligen Volk des HERRN machen können. Alle dahingehenden Anstrengungen wären vergeblich gewesen. Aber Gott hatte sie in seiner unumschränkten Gnade und wegen seines Bundes mit ihren Vätern zu seinem Eigentumsvolk aus allen Völkern der Erde gemacht. Das war das unerschütterliche Fundament, auf dem Israel stand. Ihre Sitten und Gebräuche, ihr Leben und Handeln, ihre Nahrung und Kleidung, alles musste darauf basieren, dass sie Gottes Eigentum und das Volk seiner Wahl waren. Darum konnten sie so wenig ändern wie an ihrer natürlichen Geburt.
Müssen wir es nicht als eines unserer höchsten Vorrechte ansehen, dass der Herr uns so nahe ist und sich für alle unsere Gewohnheiten und Wege interessiert? Für einen Menschen freilich, der den Herrn nicht kennt und in keiner Beziehung zu ihm steht, ist der Gedanke an seine heilige Nähe unerträglich. Aber für den Gläubigen, für jeden, der Gott wirklich liebt, ist es wunderbar zu wissen, dass Er uns nahe ist und an den kleinsten Einzelheiten unseres persönlichen und täglichen Lebens Anteil nimmt. Er nimmt Kenntnis von dem, was wir essen und womit wir uns kleiden. Er sieht nach uns bei Tag und Nacht, ob wir wachen oder schlafen, ob wir zu Hause oder auf der Reise sind. Er interessiert sich und sorgt mehr für uns als eine Mutter. Würden wir das alles nur mehr verstehen, wie ganz anders würde dann unser Leben sein, wie viel herrliche Erfahrungen würden wir dann machen!
Die Speise des Israeliten und die Speise des Fremden
In den Versen 3–20 finden wir Vorschriften bezüglich der reinen und unreinen Tiere, der Fische und Vögel. Zu den leitenden Grundsätzen dieser Vorschriften verweisen wir auf unsere Ausführungen zu 3. Mose 11. Doch es besteht ein sehr wichtiger Unterschied zwischen diesen beiden Schriftabschnitten. Während im dritten Buch Mose diese Vorschriften zunächst nur Mose und Aaron gegeben werden, wird in unserem Kapitel das Volk selbst angesprochen. Das ist charakteristisch für die beiden Bücher. Das dritte Buch Mose könnte man als ein „Lehrbuch für den Priester“ bezeichnen, wohingegen im fünften Buch Mose die Priester mehr zurücktreten und das Volk im Vordergrund steht. Dieser Unterschied ist durch das ganze Buch hindurch leicht zu erkennen.
Im 21. Vers unseres Kapitels wird uns der Unterschied zwischen dem Israel Gottes und dem Fremdling gezeigt: „Ihr sollt kein Aas essen; dem Fremden, der in deinen Toren ist, darfst du es geben, dass er es esse, oder verkaufe es einem Ausländer; denn ein heiliges Volk bist du dem HERRN, deinem Gott“. Seine Verbindung mit dem HERRN unterschied Israel von allen Völkern der Erde. Nicht dass sie an sich besser oder heiliger gewesen wären als andere, aber der HERR war heilig, und sie waren sein Volk: „Seid heilig, denn ich bin heilig“.
Die Kinder dieser Welt nennen die Christen oft Pharisäer, weil die Gläubigen sich von ihnen trennen und nicht an ihren Vergnügungen und Ergötzungen teilnehmen wollen. Aber sie verstehen nicht, was sie sagen. Wenn ein Christ sich an den wertlosen Dingen und Torheiten dieser Welt beteiligen würde, so wäre das, bildlich gesprochen, nichts anderes, als wenn ein Israelit Aas gegessen hätte. Der Christ hat, Gott sei Dank! eine bessere Speise, als die Welt ihm bieten kann. Er nährt sich von dem lebendigen Brot, das aus dem Himmel ist, von dem wahren Manna, und er isst von dem „Erzeugnis des Landes Kanaan“ (Jos 5,11), dem Bild des auferstandenen und verherrlichten Menschen im Himmel. Von diesen herrlichen Dingen kennt das arme, unbekehrte Weltkind überhaupt nichts. Es muss sich daher auf das beschränken, was die Welt ihm zu bieten hat. Die Frage ist nicht, inwiefern solche Dinge an sich gut oder schlecht sind. Kein Israelit hätte wissen können, dass es unrecht sei, von einem Aas zu essen, wenn Gott es nicht gesagt hätte.
Das ist der wichtige Punkt auch für uns. Wir können nicht erwarten, dass die Welt denkt und urteilt wie wir. Unsere Aufgabe ist es, alles vom göttlichen Standpunkt aus zu sehen. Für einen Weltmenschen mag vieles richtig und passend sein, was einem Christen nicht geziemt, aus dem einfachen Grund, weil er ein Christ ist. Für den wirklich Gläubigen gilt nur die eine Frage: „Dient dies zur Verherrlichung Gottes? Kann ich es mit dem Namen Christi verbinden?“
Für den Christen gibt es in allen Dingen nur einen Prüfstein, nur eine Richtschnur, nämlich Christus. Was seiner unwürdig ist, ist auch des Christen unwürdig.
Bevor wir weitergehen, möchten wir noch auf den Schluss des 21. Verses aufmerksam machen: „Du sollst ein Böckchen nicht kochen in der Milch seiner Mutter“. Dieses Gebot gewinnt dadurch eine besondere Bedeutung, dass es dreimal in verschiedenen Verbindungen gegeben wird. Fragen wir nach dem Sinn und der für uns darin enthaltenen Lehre, so glauben wir, alles das zu vermeiden, was widernatürlich ist. Offenbar war es widernatürlich, ein Böckchen in dem zu kochen, was ihm zur Nahrung dienen sollte. Das Wort Gottes redet viel von dem, was naturgemäß, und somit passend ist. So schrieb der Apostel an die Korinther: „Lehrt euch nicht selbst die Natur?“ (1. Kor 11,14). Es gibt gewisse, vom Schöpfer eingepflanzte Gefühle und Instinkte, die man nie unterdrücken darf. Gott kann keine Handlung billigen, die das natürliche Zartgefühl verletzt. Der Geist Gottes leitet uns zwar oft in übernatürlicher, aber nie in widernatürlicher Weise.
Der Zehnte
Der letzte Abschnitt unseres Kapitels gibt uns einige schöne und praktische Belehrungen (V. 22–29). Er stellt uns mit besonderer Einfachheit die Grundlage, den Mittelpunkt und die Charakterzüge der nationalen und häuslichen Religion Israels vor. Die Grundlage des israelitischen Gottesdienstes bestand darin, dass Israel und sein Land dem HERRN gehörten. Sie waren sozusagen seine Pächter, und es war daher ihre Pflicht, dies zu bestimmten Zeiten durch eine gewissenhafte Verzehntung ihres Landes zu bezeugen. „Verzehnten sollst du allen Ertrag deiner Saat, die aus dem Feld erwächst, Jahr für Jahr.“ Sie mussten auf diese praktische Weise das Eigentumsrecht des HERRN anerkennen und durften es nie aus dem Auge verlieren. Sie hatten niemand anders als den HERRN, ihren Gott, als Herrn anzuerkennen. Sie gehörten mit allem, was sie besaßen, dem HERRN an. Das war die Grundlage ihrer nationalen Religion.
Versammelt an dem Ort, den Gott erwählen wird
Wie die Grundlage, so war auch der Mittelpunkt ihrer Religion bestimmt. Sie hatten sich an dem Ort zu versammeln, wo der HERR seinen Namen hinsetzen wollte. Welch ein Vorrecht für alle, die diesen herrlichen Namen wirklich liebten! Wir sehen an dieser und vielen anderen Stellen des Wortes, welchen Wert Gott darauf legte, dass sein Volk sich immer wieder um ihn versammelte. Es war seine Freude, sein geliebtes Volk in seiner Gegenwart versammelt zu sehen, wobei es sich an ihm und an der Gemeinschaft untereinander erfreute und sich gemeinschaftlich von der Frucht des Landes des HERRN nährte. „Und du sollst essen vor dem HERRN, deinem Gott, an dem Ort, den er erwählen wird, um seinen Namen dort wohnen zu lassen, den Zehnten deines Getreides … damit du den HERRN, deinen Gott, fürchten lernst alle Tage.“
Kein anderer Ort konnte nach dem Urteil eines treuen Israeliten mit diesem verglichen werden. Jeder, der den HERRN liebte, zog mit Freuden zu diesem geheiligten Ort, wo Gott seinen Namen wohnen ließ. Nur denen, die diesen Gott nicht kannten, mochte der Weg des Volkes zum Haus Gottes, um ihren Zehnten dorthin zu bringen, merkwürdig erscheinen, und das umso mehr, je weiter der Weg war, den viele unter ihnen zurückzulegen hatten. Sie mochten denken: Warum sich so viel Mühe und Beschwerde machen? Warum kann man nicht genauso gut zu Hause essen? Aber das Wort Gottes hatte einen triftigen Grund für seine Reise zu dem von Gott bestimmten Ort, und dieser Grund lag in dem einfachen, aber inhaltsreichen Wort: „Der Herr ist da!“ Wenn ein Israelit im Eigenwillen zu Hause geblieben oder an einen selbstgewählten Ort gegangen wäre, so wäre er dort weder in Gemeinschaft mit dem HERRN noch mit seinen Brüdern gewesen. Er hätte allein essen müssen. Auch hätte er sich das Gericht Gottes zugezogen, da ein solches Verhalten für den HERRN ein Gräuel gewesen wäre. Es gab nur einen Mittelpunkt, und diesen hatte nicht der Mensch, sondern Gott erwählt. Der König Jerobeam war vermessen genug, um aus selbstsüchtigen politischen Zwecken in die göttliche Ordnung einzugreifen, indem er zwei Kälber zu Bethel und Dan aufstellte. Aber alle, die dort opferten, dienten den Dämonen und nicht Gott. Es war eine Handlung gottloser Vermessenheit, wodurch Jerobeam das gerechte Gericht Gottes über sich und sein Haus brachte. In der späteren Geschichte Israels wird „Jerobeam, der Sohn Nebats“ öfter erwähnt als ein trauriges Beispiel der Ungerechtigkeit für alle gottlosen Könige (1. Kön 12,26 ff.).
Aber Gott hatte nicht nur einen Ort der Anbetung bestimmt, sondern auch dafür gesorgt, seinem anbetenden Volk den Weg dahin so leicht wie möglich zu machen. „Und wenn der Weg zu weit für dich ist, dass du es nicht hinbringen kannst, weil der Ort fern von dir ist, den der HERR, dein Gott, erwählen wird, um seinen Namen dahin zu setzen, wenn der HERR, dein Gott, dich segnet, so sollst du es für Geld geben; und binde das Geld in deine Hand zusammen und geh an den Ort, den der HERR, dein Gott erwählen wird. … und iss dort vor dem HERRN, deinem Gott, und freue dich, du und dein Haus“ (V. 24–26).
Der HERR hatte in seiner Fürsorge und Liebe Acht auf alles. Er räumte seinem Volk jede Schwierigkeit aus dem Weg, um es ihm möglich zu machen, in seiner Gegenwart glücklich zu sein. Mussten nicht alle, die den HERRN liebten, den Wunsch haben, seinen Herzenswunsch zu erfüllen, sein erlöstes Volk an dem von ihm bestimmten Ort versammelt zu sehen? Hätte nicht ein Israelit, der die Gelegenheit vernachlässigte, dadurch bewiesen, dass er kein Herz für Gott und sein Volk hatte, und dass er nach seinem eigenen Willen handelte, was noch schlimmer war? Hätte er eingewandt, er könne auch zu Hause oder anderswo als gerade an dem vom Herrn bestimmten Ort glücklich sein, so wäre das ein falsches Glück gewesen, weil es auf dem Weg des Ungehorsams und der eigenwilligen Vernachlässigung des göttlichen Gebots gemacht wurde.
Jesus Christus, Mittelpunkt des Zusammenkommens
Dies alles enthält eine ernste Belehrung für die Versammlung Gottes in der heutigen Zeit. Heute wie damals ist es der Wille Gottes, dass sich die Kinder Gottes in seiner Gegenwart versammeln sollen, auf dem von Gott bestimmten Platz und um einen von Gott bestimmten Mittelpunkt. Das kann kaum ein Christ infrage stellen, der noch etwas göttliches Licht besitzt. Denn die Instinkte der göttlichen Natur, die Weisungen des Heiligen Geistes und die Belehrungen der Schrift leiten die Gläubigen dahin, sich zum Gottesdienst, zur Gemeinschaft und zur Auferbauung zu versammeln. So sehr auch der jüdische und der christliche Haushalt sich voneinander unterscheiden, es gibt doch gewisse Grundsätze und Kennzeichen, die immer gelten und zu diesen gehört sicher auch das Zusammenkommen. Denn es ist eine göttliche Einrichtung, sowohl im neuen als auch im alten Haushalt.
Aber dabei geht es doch zunächst nicht um unser Glück, obwohl gewiss alle echten Christen glücklich sein werden, wenn sie an dem göttlich bestimmten Platz sind; denn in der Gegenwart des Herrn ist stets Freude und Segen, so dass man unmöglich anders als wirklich glücklich dort sein kann. Aber, wie gesagt, unsere Glückseligkeit kommt dabei erst in zweiter Linie in Betracht. Vielmehr ist es der in seinem heiligen Wort offenbarte Wille Gottes, der uns in diesem wie in allem anderen leiten muss. Wir sollten uns nur fragen: Ist es nach den Gedanken Gottes, dass die Gläubigen sich zur Anbetung und zur gegenseitigen Erbauung versammeln sollen? Wenn das der Fall ist, wie groß ist dann die Verantwortung aller, die in Eigenwillen, aus Trägheit oder aus irgendeinem anderen Grund zurückbleiben! Sie tun das nicht nur zum großen Schaden für ihre eigene Seele, sondern sie verunehren auch Gott, betrüben seinen Geist und verachten die Versammlung Gottes.
Das sind sehr ernste Folgen, die wir unbedingt beachten sollten. In Hebräer 10 werden wir ermahnt, unser Zusammenkommen nicht zu versäumen, und das zeigt uns den besonderen Wert und die Wichtigkeit dieses Zusammenkommens. Die erste Erwähnung dieser Wahrheit im Neuen Testament finden wir in Matthäus 18,20: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“. Der göttliche Mittelpunkt ist: „Mein Name“. Dies entspricht dem im fünften Buch Mose so oft erwähnten „Ort, den der HERR erwählen wird, seinen Namen daselbst wohnen zu lassen“.
Genau so ist es mit der Versammlung Gottes. Auch dort ist alles göttlich, und jede menschliche Wahl, Meinung und Einrichtung ist völlig ausgeschlossen. Die Grundlage, auf der wir zusammenkommen, ist göttlich, denn es ist die vollbrachte Erlösung. Der Mittelpunkt, um den wir uns versammeln, ist göttlich, denn es ist der Name Jesu. Die Macht, durch die wir versammelt werden, ist göttlich, denn es ist die Macht des Heiligen Geistes. Die Autorität zu unserem Zusammenkommen ist schließlich ebenfalls göttlich, denn es ist die Autorität des Wortes Gottes.
Alles das ist klar und wertvoll, und wir brauchen nur einen einfältigen Glauben, um es zu erfassen und danach zu handeln. Fangen wir aber an, unsere Vernunft zurate zu ziehen oder auf menschliche Meinungen zu hören, stürzen wir uns in hoffnungslose Verwirrung, da wir dann alle Lehren und Meinungen der zahllosen christlichen Parteien zu prüfen haben. Das Wort Gottes ist unsere einzige Zuflucht, Hilfsquelle, Kraft und Autorität. Nimmt man uns dieses, so haben wir nichts. Besitzen wir aber das Wort, so brauchen wir weiter nichts. Wie tröstlich und beruhigend ist das! Wie könnten wir auch sonst mit Sicherheit wissen, dass wir um den göttlichen Mittelpunkt versammelt sind, als nur durch das Wort Gottes?
Wie konnte Israel damals Gewissheit über den Ort bekommen, den Gott für das Zusammenkommen bestimmt hatte? Durch sein ausdrückliches Gebot. Sein Wort war in Bezug auf diesen Punkt ebenso klar wie bezüglich aller anderen. Hat Gott die Christen etwa über den Ort ihrer Anbetung, den Mittelpunkt und Boden ihres Zusammenkommens in Zweifel und im Unklaren gelassen? Muss hier jeder tun, was er für richtig hält? Unmöglich! So wie damals bei Israel kein Zweifel über den Ort des Zusammenkommens aufkommen konnte, es sei denn aus schuldhafter Unwissenheit oder aus ganz bewusstem Ungehorsam, ebenso bestimmt wird auch heute den Christen die Art und Weise ihres Zusammenkommens im Wort Gottes mit einer Klarheit und Einfachheit geschildert, die ihnen jeden Vorwand der Unwissenheit nimmt.
Nun gibt es allerdings heute für die Christen keinen besonderen Ort mehr, an dem sie sich alle von Zeit zu Zeit versammeln sollten, wie es für das irdische Volk Gottes angeordnet war und wie es bald wieder der Fall sein wird für das wiederhergestellte Israel und alle Nationen (vgl. Jes 2; Sach 14,16.17). Gegenwärtig, das heißt seit Pfingsten, als der Heilige Geist herabkam, um die Versammlung, den Leib Christi, zu bilden, bis zu dem Augenblick, wenn der Herr Jesus Christus wiederkommen wird, um die Versammlung aus dieser Welt wegzunehmen, gibt es keine Stadt, keinen geweihten Ort, keinen irdischen Mittelpunkt für das Volk Gottes. Zu Christen von heiligen Orten oder von einem geweihten Boden zu reden, ist diesen ebenso fremd – oder sollte es wenigstens sein –, als wenn man einem Israeliten hätte sagen wollen, der Ort seiner Anbetung sei im Himmel (vgl. hierzu Joh 4,19–24; Apg 7,48–50; 17,24.25).
Die Lehre des Neuen Testaments ist bezüglich der christlichen Anbetung vom Anfang bis zum Ende klar und deutlich. Die Versammlung hat von der ersten Zeit ihrer Geschichte an eine starke Neigung zur Rückkehr zum Judaismus gezeigt, und zwar nicht nur hinsichtlich der Rechtfertigungslehre, sondern auch im Blick auf den Gottesdienst. Man hat die Christen nicht nur unter das Gesetz zurückgeführt zur Erlangung des Lebens und der Gerechtigkeit, sondern auch unter den levitischen Ritus bezüglich der Gestaltung ihres Gottesdienstes. Den ersten Punkt haben wir bereits im vierten und fünften Kapitel dieses Buches behandelt, und der letzte ist nicht weniger ernst in seinen Wirkungen auf den ganzen Charakter des christlichen Lebens und Wandels.
Die Absicht Satans ist immer, die Versammlung von dem erhabenen Platz herabzuziehen, den sie im Blick auf ihre Stellung, ihren Wandel und ihre Anbetung einnimmt. Kaum war sie am Tag der Pfingsten ins Dasein gerufen worden, als er auch schon sein Werk der Zerstörung und Untergrabung begann, und er hat es mit teuflischer Beharrlichkeit schon mehr als neunzehnhundert lange Jahre fortgeführt. Angesichts der klaren Weisungen der Schrift über den Charakter der christlichen Anbetung, wie der Vater sie jetzt sucht, und trotz der Tatsache, dass Gott nicht in Tempeln wohnt, die mit Händen gemacht sind, durchzieht all die Jahrhunderte der christlichen Geschichte ein starkes Streben, zu dem Zustand der Dinge zurückzukehren, wie sie unter der mosaischen Haushaltung waren. Daher auch die Einführung prächtiger Gebäude, glänzender Zeremonien und dergleichen – Dinge, die alle zu der Gesinnung Christi und der Lehre des Neuen Testaments in Widerspruch stehen. Sie liefern den Beweis, wie weit die allgemeine Christenheit von dem Geist und der Autorität des Herrn abgewichen ist, und doch werden sie als Vorwand für einen angeblich erstaunlichen Fortschritt des Christentums gewertet. Manche der christlichen Führer gehen sogar so weit zu sagen, dass der Apostel Paulus nur eine schwache Vorstellung von der Größe gehabt habe, die die Versammlung hier einmal erlangen sollte. Aber wenn Paulus jetzt einen unserer berühmten Dome mit ihren hohen Hallen, ihren himmelanstrebenden Säulen, ihrem Schnitz- und Bildwerk, ihren buntverglasten Fenstern sehen und den Klängen der Orgel und dem Gesang der Chöre lauschen könnte, was würde er sagen?
Nehmen wir z. B. an, der Apostel käme jetzt an einem Sonntag in eine unserer Städte, wo könnte er dort finden, was er vor beinahe neunzehnhundert Jahren in Troas fand (vgl. Apg 20,7)? Wo würde er eine Gemeinschaft von Gläubigen antreffen, die durch die Macht des Heiligen Geistes einfach im Namen Jesu versammelt wären, um das Brot zu brechen zu seinem Gedächtnis und seinen Tod zu verkünden, bis Er kommt? Das war damals die göttliche Ordnung und muss es auch heute noch sein. Der Apostel würde gewiss nichts anderes anerkennen. Er würde nach dem forschen, was göttlich ist, und das allein bejahen. Aber wo würde er es jetzt finden? Wo ist der Tisch des Herrn anzutreffen, wie ihn Christus in der Nacht, in der Er überliefert wurde, selbst angeordnet hat?
Würde der Apostel nicht darauf bestehen, dass der Tisch des Herrn heute derselbe wie damals ist, als er die Wahrheit hierüber unmittelbar von dem Herrn der Herrlichkeit empfangen und durch den Geist den Gläubigen in Korinth in einem Brief überliefert hatte, der zugleich an alle gerichtet war, „die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, ihres und unseres Herrn“ (1. Kor 1,2)? Unmöglich könnte Paulus im ersten Jahrhundert die Ordnung Gottes lehren und im zwanzigsten die Unordnung des Menschen annehmen. Der Mensch hat kein Recht, an einer göttlichen Einrichtung zu rütteln. Es steht ihm ebenso wenig zu, ein Jota an der göttlichen Verordnung über die Feier des Abendmahls zu ändern, wie etwa ein Israelit berechtigt gewesen wäre, ein Wort aus dem Gesetz über das Passah zu streichen.
Wo anders könnte der Apostel Paulus heute seinen Platz am Tisch des Herrn einnehmen als in einer Gemeinschaft von Gläubigen, die einfach versammelt sind auf der Grundlage der Einheit des Leibes, um den einen Mittelpunkt, den Namen Jesu, durch die Macht des Heiligen Geistes und auf die Autorität des Wortes Gottes hin? Wo könnte er eine Gemeinschaft finden, in der er mit seinen Gaben dienen könnte, unabhängig von jeder menschlichen Bevollmächtigung oder Ernennung? Wir richten diese Fragen an das Herz und Gewissen des Lesers, weil wir überzeugt sind, dass es solche Gemeinschaften an verschiedenen Orten gibt, wo Paulus die Ausführung dieser Dinge finden könnte, wenn auch verbunden mit viel Schwachheit und Versagen. Leider stehen sie oft klein und vereinzelt da im Vergleich zu der großen Menge der Christen, die sich anders versammeln.
Man wird uns vielleicht erwidern, dass man Paulus gern erlauben würde zu dienen, wenn man wüsste, dass er es auch wäre. Aber Paulus würde um diese Erlaubnis weder bitten noch sie annehmen. Er sagt uns in Galater 1 klar und deutlich, dass er seinen Dienst empfangen habe „nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn aus den Toten auferweckt hat“ (V. 1). Überdies würde der Apostel darauf bestehen, dass der Tisch des Herrn auf der göttlichen Grundlage der Einheit des Leibes und nach der göttlichen Anordnung des Neuen Testaments aufgerichtet würde. Er würde sagen: „Entweder das oder gar nichts“. Eine menschliche Einmischung in die göttlichen Anordnungen, eine neue Grundlage für das Zusammenkommen, ein menschliches System würde er nicht anerkennen. Er würde im Gegenteil seine Worte wiederholen: „Da ist ein Leib und ein Geist“ (Eph 4,4), und „Denn ein Brot, ein Leib, sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brot“ (1. Kor 10,17). Diese Worte richten sich an alle, die an irgendeinem Ort den Namen des Herrn anrufen, und sie behalten ihre ganze Kraft, solange die Versammlung auf dieser Erde ist.
Gottes Grundsätze bezüglich des Zusammenkommens und der Einheit der Gläubigen dürfen um keinen Preis aufgegeben werden. Sobald man anfängt, Versammlungen und Gemeinden zu bilden, handelt man im Widerspruch zu dem Wort Gottes, den Gedanken Christi und der Wirkung des Heiligen Geistes. Der Mensch könnte sich ebenso gut darangeben, eine Welt zu erschaffen, wie eine Versammlung zu bilden. Das ist jedoch ein ganz und gar göttliches Werk. Der Heilige Geist kam am Pfingsttag herab, um die Versammlung Gottes, den Leib Christi, zu bilden, und dies ist die einzige Versammlung und der einzige Leib, den die Schrift anerkennt. Alles andere steht mit Gott im Widerspruch, wenn es auch durch Tausende von wirklichen Christen anerkannt und verteidigt werden mag.
Doch der Leser möge uns nicht missverstehen. Es geht hier nicht um die Errettung, die Rechtfertigung oder dergleichen, sondern um den göttlichen Grundsatz, nach dem die Gläubigen sich am Tisch des Herrn versammeln sollen und nach dem dieser Tisch aufgerichtet werden sollte. Tausende von Gläubigen haben z. B. in der Gemeinschaft der katholischen Versammlung gelebt und sind darin gestorben; aber die katholische Versammlung ist nicht die Versammlung Gottes, und das sogenannte Messopfer ist nicht des Herrn Abendmahl. Wenn der Leser deshalb meint, er dürfe solange in einem falschen System bleiben, wie dieses der Errettung seiner Seele keinen Schaden tue, ist es nutzlos, weiter mit ihm über diesen Gegenstand zu sprechen.
Aber was hätte man von einem Israeliten gedacht, der sich damit begnügt hätte, ein Kind Abrahams zu sein, der sich an seinem Weinstock, seinem Feigenbaum und an seinen Viehherden gefreut hätte, ohne je daran zu denken, den HERRN an dem Ort anzubeten, an dem Er seinen Namen wohnen ließ? Gab es einen treuen Juden, der diesen Ort nicht liebte? „HERR, ich habe geliebt die Wohnung deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit“ (Ps 26,8).
Und als Israel wegen seiner Sünden in die Gefangenschaft geführt worden war, gaben die Treuen unter ihnen ihren Gefühlen in rührenden Klagen Ausdruck: „An den Flüssen Babels, da saßen wir und weinten, als wir uns an Zion erinnerten. An die Weiden in ihr hängten wir unsere Lauten. Denn die uns gefangen weggeführt hatten, forderten dort von uns die Worte eines Liedes, und die uns wehklagen machten, Freude: „Singt uns eins von Zions Liedern!“. Wie sollten wir ein Lied des HERRN singen auf fremder Erde? Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so vergesse mich meine Rechte! Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen, wenn ich mich nicht an dich erinnere, wenn ich Jerusalem nicht erhebe über die höchste meiner Freuden!“ (Ps 137).
Ebenso sehen wir, wie Daniel, dieser treue und „vielgeliebte“ Knecht Gottes, dreimal am Tag in seinem Zimmer niederkniete, das nach Jerusalem hin geöffnete Fenster hatte. Er tat das, obwohl er wusste, dass darauf die Strafe stand, in die Löwengrube geworfen zu werden. War es jüdischer Aberglaube, dass er nach Jerusalem betete? Bestimmt nicht. Es war die Entfaltung des göttlichen Banners inmitten der schmachvollen und demütigenden Folgen von Israels Torheit und Sünde. Zwar lag Jerusalem in Trümmern, aber Gottes Gedanken über Jerusalem waren nicht verändert. Jerusalem war und blieb sein Mittelpunkt für sein irdisches Volk (Ps 122).
Wie Jerusalem der von Gott erwählte Mittelpunkt auf der Erde war und sein wird, so sollte jetzt die Versammlung Gottes keinen anderen Mittelpunkt anerkennen als nur den herrlichen und unendlich kostbaren Namen Jesu. „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“. Kostbarer Mittelpunkt! Auf ihn allein weist das Neue Testament hin, und um ihn allein sammelt der Heilige Geist. Es ist nicht entscheidend, wo wir versammelt sind, ob in Jerusalem oder Rom, Paris, London oder Berlin, sondern darum, wie wir versammelt sind.
Vergessen wir jedoch nicht, dass es eine göttliche Wirklichkeit sein muss. Das bloße Bekenntnis, im Namen Jesu (oder zu diesem Namen hin) versammelt zu sein, ist nutzlos, wenn es nicht wirklich und tatsächlich so ist. Das Wort, das Jakobus über den Glauben ausspricht, lässt sich mit gleicher Kraft auf den Mittelpunkt unseres Zusammenkommens anwenden. „Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt“ (Jak 2,14): Ich versammle mich im Namen Jesu? Gott will Wirklichkeit haben. Und obgleich es wahr ist, dass kein Gläubiger, der Christus treu sein will, einen anderen Mittelpunkt als den Namen Jesu anerkennen kann, so ist es doch möglich, dass viele auf diesem heiligen Boden zu stehen bekennen, während ihr Geist und Wandel, ihre Gewohnheiten und Wege, ihr ganzer Verkehr und Charakter beweisen, dass sie nicht in der Kraft dieses Bekenntnisses stehen.
Der Apostel sagt zu den Korinthern, dass er „nicht das Wort der Aufgeblasenen, sondern die Kraft“ (1. Kor 4,19) erkennen würde. Ein wichtiges Wort für alle Zeiten, besonders aber im Blick auf unser vorliegendes Thema. Wir möchten den christlichen Leser mit allem Ernst auf seine Verantwortung hinweisen, diesen Gedanken in der Gegenwart des Herrn und im Licht des Neuen Testaments zu prüfen. Möchte er es nicht als etwas Unwesentliches betrachten! Es ist im Gegenteil insofern eine sehr wichtige Sache, weil es sich dabei um die Ehre des Herrn und die Aufrechterhaltung seiner Wahrheit handelt. Das ist der einzige Maßstab, nach dem wir beurteilen können, ob eine Sache richtig oder unrichtig ist. Wehe dem Israeliten, der in Gleichgültigkeit seine eigenen Wege gegangen und seinen eigenen Gedanken gefolgt wäre! Und sollte ein Christ heute weniger verantwortlich sein, wenn er dem klar offenbarten Willen Gottes zuwider handelt und die Belehrungen des Neuen Testaments über das Zusammenkommen der Gläubigen, die Einheit des Leibes Christi, die Feier des Abendmahls usw. unbeachtet lässt?
Der Zehnte des dritten Jahres
Werfen wir nun noch einen Blick auf den letzten Abschnitt des 14. Kapitels, der einige Belehrungen von großem praktischen Wert enthält. „Am Ende von drei Jahren sollst du allen Zehnten deines Ertrags in jenem Jahr aussondern und ihn in deinen Toren niederlegen; und der Levit – denn er hat weder Teil noch Erbe mit dir – und der Fremde und die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind, sollen kommen und essen und sich sättigen; damit der HERR, dein Gott, dich segne in allem Werk deiner Hand, das du tust“.
Hier haben wir eine wunderschöne häusliche Szene, eine rührende Entfaltung des göttlichen Charakters und eine herrliche Offenbarung der Gnade und Güte des Gottes Israels. In welch einem schroffen Gegensatz steht diese Stelle zu der kalten Selbstsucht, die uns überall umgibt! Gott wollte sein Volk belehren, an die Armen zu denken. Der Zehnte gehörte ihm, aber Er wollte ihnen das Vorrecht schenken, durch ihn die Herzen anderer zu erfreuen.
Es liegt eine besondere Schönheit in den Worten: „Sie sollen kommen und essen und sich sättigen“. Sie entsprechen ganz unserem immer gnädigen Gott. Er freut sich, wenn Er die Bedürfnisse aller stillen kann. Er öffnet seine Hand und stillt das Begehren jedes lebendigen Wesens. Und nicht nur das. Es ist auch seine Freude, die Kinder Gottes zu Kanälen zu machen, durch die seine Gnade und Güte zu allen ausströmen können.