Betrachtungen über das fünfte Buch Mose
Rückblick auf die Reise vom Horeb nach Kades-Barnea
Aus Glauben leben
„Dies sind die Worte, die Mose zu ganz Israel geredet hat diesseits des Jordan, in der Wüste, in der Ebene, Suph gegenüber, zwischen Paran und Tophel und Laban und Hazerot und Di-Sahab. Elf Tagereisen sind es vom Horeb, auf dem Weg des Gebirges Seir, bis Kades-Barnea“ (V. 1.2).
Der Schreiber ist sorgfältig bemüht, uns genau die Lage des Ortes anzugeben, an dem die Worte dieses Buches zum Volk Israel gesprochen wurden. Israel hatte den Jordan noch nicht überschritten. Das Volk war an der östlichen Jordanseite angelangt, dem Roten Meer gegenüber, wo vor nahezu vierzig Jahren Gott seine große Macht so herrlich bewiesen hatte. Diese genaue Beschreibung zeigt, wie sehr Gott die Belange seines Volkes interessieren. Selbst die Lagerplätze werden erwähnt. Kein einziger, noch so unbedeutender Umstand in Verbindung mit seinem Volk entging ihm. Sein Auge ruhte beständig auf der gesamten Gemeinde wie auch auf jedem Einzelnen. Bei Tag und Nacht wachte Er über das Volk. Das Volk stand unter seiner Führung.
So war es damals mit Israel in der Wüste, und so ist es auch heute mit der Versammlung – und zwar sowohl was ihre Gesamtheit als auch was jeden Einzelnen betrifft. Sein Auge ruht beständig auf uns, und seine Arme umfassen uns bei Tag und Nacht. „Er zieht seine Augen nicht ab von dem Gerechten“ (Hiob 36,7). Er zählt die Haare unseres Hauptes und achtet auf alles, was uns betrifft. Er nimmt alle unsere Bedürfnisse und Anliegen auf sich. Er wünscht, dass wir alle unsere Sorgen auf ihn werfen in der Gewissheit, dass Er für uns sorgt. Er fordert uns auf, mit allem zu ihm zu kommen, mögen die Anliegen groß oder klein sein.
Das bewirkt in unseren Herzen wahren Trost und wahre Ruhe, was auch kommen mag. Doch sind unsere Herzen von dem Glauben daran ergriffen? Glauben wir wirklich, dass der allmächtige Schöpfer und Erhalter aller Dinge, Er, der die Säulen des Weltalls trägt, es sich zur Aufgabe gemacht hat, für uns zu sorgen auf der Reise durch diese Welt?
„Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: Wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm 8,32). Was bedeuten diese Worte für uns? Wir unterhalten uns über diese Dinge und halten sie für wahr; dabei beweisen wir in unserem täglichen Leben, wie wenig wir sie verwirklichen. Wenn wir tatsächlich glaubten, dass unser Gott für alle unsere Bedürfnisse sorgt, wenn wir wirklich alle unsere Quellen in ihm fänden, könnten wir dann noch auf die armseligen menschlichen Quellen blicken, die doch so bald versiegen und uns enttäuschen? Unmöglich. Doch die Lehre von dem Leben aus Glauben zu kennen, ist etwas ganz anderes, als sie zu verwirklichen. Wir täuschen uns ständig selbst, wenn wir uns einbilden, aus Glauben zu leben und uns in Wirklichkeit nur auf eine menschliche Stütze lehnen, die früher oder später brechen muss.
Welch eine Zuversicht und Freude gibt es uns, zu wissen, dass der Schöpfer und Erhalter des Weltalls uns ewig und vollkommen liebt, dass sein Auge immer auf uns ruht und dass Er selbst für uns sorgen will, seien es leibliche oder geistliche Bedürfnisse. In Christus besitzen wir alles; Er ist die Schatzkammer des Himmels und das Vorratshaus Gottes, und das alles ist Er für uns.
Wir wenden uns so leicht mit unseren Anliegen an Menschen. Warum gehen wir nicht gleich zu Jesus? Brauchen wir Mitgefühl? Wer kann so mit uns fühlen wie unser barmherziger Hoherpriester, der alle unsere Schwachheiten kennt? Brauchen wir Hilfe? Wer kann uns so helfen wie unser allmächtiger Freund, der Besitzer unermesslicher Reichtümer? Brauchen wir einen Ratschlag oder eine Wegweisung? Wer kann uns das geben, wenn nicht unser Herr, der die Weisheit Gottes ist und der uns von Gott zur Weisheit gemacht worden ist (vgl. 1. Kor 1,30)? Lasst uns sein liebendes Herz nicht verwunden und ihn nicht dadurch verunehren, dass wir uns von ihm abwenden! Lasst uns recht nahe bei der Quelle bleiben! Dann werden wir uns sicher nicht über Mangel an Wasser zu beklagen haben. Mit einem Wort, lasst uns aus Glauben leben und auf diese Weise Gott vor unseren Mitmenschen verherrlichen.
Elf Tage – vierzig Jahre
Der 2. Vers unseres Kapitels enthält eine sehr bemerkenswerte Mitteilung. „Elf Tagereisen sind es vom Horeb, auf dem Weg des Gebirges Seir, bis Kades-Barnea“. Elf Tage! Die Kinder Israel hatten vierzig lange Jahre dazu gebraucht! Wie kam das? Betrachten wir unser Leben!
Auch wir kommen nur langsam vorwärts! Wie viele Windungen und Krümmungen hat auch unser Weg aufzuweisen? Oft müssen wir zurückgehen und wieder und immer wieder neu anfangen. Wir sind träge Wanderer, weil wir träge Schüler sind. Vielleicht wundern wir uns, dass die Kinder Israel zu einem Weg von elf Tagereisen vierzig Jahre gebraucht haben. Doch wir haben Grund genug, uns über uns selbst zu wundern. Gleich ihnen lassen wir uns aufhalten durch unseren Unglauben und die Trägheit unserer Herzen. Dabei haben wir weit weniger Entschuldigung als sie, weil unsere Vorrechte viel erhabener sind, als ihre es waren.
Viele von uns müssen wohl beschämt sein über die lange Zeit, die wir nötig haben, um zu lernen, was Gott uns lehren will. Die Worte des Apostels passen nur zu gut auf uns: „Denn obwohl ihr der Zeit nach Lehrer sein müsstet, habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht feste Speise“ (Heb 5,12). Unser Gott ist nicht nur ein treuer und weiser Lehrmeister, sondern Er ist auch gnädig und geduldig. Er erlaubt uns nicht, über unsere Aufgaben flüchtig hinwegzugehen. Wir meinen oft, etwas gut gelernt zu haben und versuchen dann, eine andere Aufgabe zu lösen. Doch unser Lehrer weiß besser, wann wir noch gründlicher lernen müssen. Er will uns nicht zu Theoretikern oder Halbwissern ausbilden. Er übt uns, wenn es nötig ist, jahrelang in der Tonleiter, bis wir singen können.
Es ist demütigend für uns, dass wir im Lernen so träge sind, aber zugleich machen wir Erfahrungen mit der Gnade unseres Gottes. Wir dürfen ihm danken für die Methode seiner Unterweisung und die Geduld, in der Er immer wieder dieselbe Aufgabe mit uns übt, bis wir sie uns gründlich eingeprägt haben. 1
Die treue Weitergabe von Gottes Wort
„Und es geschah im vierzigsten Jahr, im elften Monat, am Ersten des Monats, da redete Mose zu den Kindern Israel nach allem, was der HERR ihm an sie geboten hatte“ (V. 3). Diese wenigen Worte enthalten wichtige Unterweisungen für jeden Diener Gottes, für alle, die berufen sind, am Wort und an der Lehre zu dienen. Mose gab dem Volk gerade das, was er selbst von Gott empfangen hatte, nichts mehr und nichts weniger. Er brachte das Volk in direkte Berührung mit dem lebendigen Wort des HERRN. Das ist der wichtige Grundsatz des Dienstes, der für alle Zeiten gültig ist. Alles andere hat keinen Wert. Das Wort Gottes allein wird bestehen. In ihm ist göttliche Kraft und Autorität. Alle menschlichen Lehren vergehen und geben einem Menschen keinen Grund, auf dem er sicher ruhen kann.
Daher sollte es für alle, die in der Versammlung Gottes dienen, ein ernstes Anliegen sein, das Wort in aller Genauigkeit und Einfachheit zu predigen, es weiterzugeben, wie sie es von Gott empfangen haben, und so die Hörer dem wahrhaftigen Wort Gottes gegenüberstellen. Dann werden sie auch mit Kraft zu den Herzen und Gewissen ihrer Zuhörer reden. Die Zuhörer kommen durch das Wort mit Gott selbst in Verbindung. Das können menschliche Lehren niemals bewirken.
Hören wir, was der Apostel Paulus hierüber sagt: „Und ich, als ich zu euch kam, Brüder, kam nicht, um euch das Zeugnis Gottes nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit zu verkünden. Denn ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur Jesus Christus und ihn als gekreuzigt. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern; und meine Rede und meine Predigt war nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft.“ Die Ursache dieser Furcht und dieses vielen Zitterns war der Wunsch des Apostels: „… damit euer Glaube nicht auf Menschenweisheit beruhe, sondern auf Gottes Kraft“ (1. Kor 2,1–5).
Dieser aufrichtige, treue Diener Christi suchte seine Zuhörer in unmittelbare, persönliche Verbindung mit Gott selbst zu bringen. „Wer ist denn Apollos, und wer ist Paulus? Diener, durch die ihr geglaubt habt“ (1. Kor 3,5). Jeder falsche Dienst bewirkt, dass die Menschen dem Diener anhängen. Auf diese Weise wird aus dem Diener etwas gemacht, Gott aber zurückgedrängt. Jeder wahre Dienst hat dagegen den Zweck, wie wir das bei Mose und auch Paulus sehen, die Zuhörer in die Gegenwart Gottes zu bringen.
Der Apostel beschäftigt sich an anderer Stelle noch eingehender damit: „Ich tue euch aber kund, Brüder, das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch steht, durch das ihr auch errettet werdet … Denn ich habe euch zuerst überliefert, was ich auch empfangen habe“ – nichts mehr und nichts weniger, nichts anderes als das, „dass Christus für unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften; und dass er begraben wurde und dass er auferweckt worden ist am dritten Tag, nach den Schriften“ (1. Kor 15,1–4).
Welch klares und ernstes Wort für diejenigen, die wirksame Diener Christi sein wollen! Der Apostel war sorgfältig bemüht, den lauteren Strom aus der Quelle des Herzens Gottes in die Seelen der Christen fließen zu lassen. Er wusste, dass alles andere keinen Wert hatte. Hätte er seine Zuhörer an sich zu binden gesucht, so hätte er seinen Meister verunehrt und ihnen schweres Unrecht zugefügt. Er selbst hätte am Tag Christi Schaden gelitten.
Befehl Gottes zum Aufbruch
Wir kommen jetzt zu den Worten Moses: „Der HERR, unser Gott, redete zu uns am Horeb und sprach: Lange genug seid ihr an diesem Berg geblieben; wendet euch und brecht auf und zieht zum Gebirge der Amoriter und zu allen ihren Anwohnern in der Ebene, auf dem Gebirge und in der Niederung und im Süden und am Ufer des Meeres, in das Land der Kanaaniter und zum Libanon, bis zu dem großen Strom, dem Strom Euphrat“ (V. 6.7).
Wir werden in dem ganzen fünften Buch Mose finden, dass der Herr viel unmittelbarer mit dem Volk verkehrt als in den vorhergehenden Büchern. In der obigen Stelle wird weder die Wolke noch die Trompete erwähnt. „Der HERR, unser Gott, redete zu uns.“ Aus dem vierten Buch wissen wir, dass das Volk durch die Wolke geführt wurde und den Schall der Trompete hörte. Hier fehlt beides. Die Worte klingen vertraulicher – „Der HERR, unser Gott, redete zu uns am Horeb und sprach: Lange genug seid ihr an diesem Berg geblieben“.
Das ist wohltuend. Es erinnert an die Patriarchenzeit, als der HERR mit den Vätern redete, wie ein Mensch mit seinem Freund redet. Er kam ihnen so nahe, dass weder Vermittlung noch eine Zeremonie nötig war. Er besuchte sie, setzte sich mit ihnen nieder und nahm ihre Gastfreundschaft an wie bei einer persönlichen Freundschaft. Und gerade diese Einfachheit ist es, die den Erzählungen des ersten Buches Moses einen ihrer besonderen Reize verleiht.
Im zweiten, dritten und vierten Buch Mose finden wir etwas ganz anderes. Dort wird uns ein umfassendes System von Vorbildern und Schatten, Gebräuchen und Verordnungen vorgestellt, das dem Volk für jene Zeit auferlegt wurde und dessen Bedeutung von dem Apostel im Hebräerbrief entfaltet wird (vgl. Heb 9,8–10).
Unter diesem System befanden sich die Israeliten in einer bestimmten Entfernung von Gott. Es war nicht mehr so, wie es einst bei den Vätern gewesen war. Knechtschaft, Dunkelheit und Entfernung waren charakteristisch für das levitische System, was die Gesamtheit des Volkes betrifft. Andererseits weisen die Vorbilder auf das große Opfer hin, das die Grundlage aller Ratschlüsse und Vorsätze Gottes ist und durch das Er in Übereinstimmung mit seiner vollkommenen Gerechtigkeit und seiner ganzen Liebe für alle Ewigkeit ein Volk in seiner Nähe haben kann, zum Preis der Herrlichkeit seiner Gnade.
Wir finden also im fünften Buch Mose verhältnismäßig wenig von Gebräuchen und Zeremonien. Der Herr erscheint mehr in engerer Verbindung mit seinem Volk. Selbst die Priester in ihrem Dienst werden selten erwähnt. Das ist ein bemerkenswerter Charakterzug dieses schönen Buches und zeigt, dass es durchaus eigenständig ist und nicht eine bloße Wiederholung.
„Der HERR, unser Gott, redete zu uns am Horeb und sprach: Lange genug seid ihr an diesem Berg geblieben; wendet euch und brecht auf und zieht zum Gebirge der Amoriter.“ Welch ein Vorrecht dieses Volkes, einen solchen Herrn zu haben und sein Interesse an allen ihren Angelegenheiten zu sehen. Er bestimmte, wie lange sie an einem Ort bleiben und wohin sie dann ihre Schritte lenken sollten. Sie brauchten sich über die Dauer und das Ziel ihrer Reise nicht den Kopf zu zerbrechen, noch sich um irgendetwas anderes zu sorgen. Er sorgte für sie. Das war genug.
Was blieb ihnen denn zu tun übrig? Einfach zu gehorchen. Sie durften in der Liebe des HERRN, ihres Bundes-Gottes, ruhen und seinen Geboten gehorchen. Darin war ihr Friede, ihr Glück und ihre Sicherheit begründet. Ihre Tagereisen waren genau abgemessen, denn Gott kannte den Weg vom Horeb bis nach Kades-Barnea. Sie brauchen nur in Abhängigkeit von ihm Tag für Tag weiterzugehen. Doch der Herr führt nur, wenn Unterwürfigkeit vorhanden ist. Hätten sie, nachdem der HERR gesagt hatte: „Lange genug seid ihr an diesem Berg geblieben“, daran gedacht, ein wenig länger zu bleiben, so wäre dies ohne ihn geschehen. Mit seiner Gemeinschaft, seinem Rat und seiner Hilfe konnten sie nur dann rechnen, wenn sie gehorsam waren.
So war es mit Israel in der Wüste, und so ist es mit uns. Der Bundesgott Israels ist unser Vater! Er beschäftigt sich noch heute bei uns mit allen Einzelheiten des Lebens wie damals bei dem Volk Israel.
Sein Wort an uns lautet: „Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden.“ Was dann? „Der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christus Jesus“ (Phil 4,6–7).
Wie Gott uns heute leitet
Wie aber leitet Gott sein Volk jetzt? Nicht mehr durch eine Stimme, die sich an unser Ohr wendet und nicht durch eine Wolke, die sich erhebt und den Weg weist. Wir werden geleitet durch etwas weit Besseres, durch das Wort, durch den Heiligen Geist und die göttliche Natur. Diese drei sind immer einstimmig. Lasst uns doch stets daran denken und alle unsere Beweggründe aufrichtig anhand des Wortes Gottes prüfen! Auf diese Weise bleiben wir vor Irrtum und Selbstbetrug bewahrt. Menschliche Gefühle können uns täuschen, und wir müssen sie stets aufrichtig prüfen, wenn sie uns nicht zu verhängnisvollen und verkehrten Handlungen verleiten sollen. Auf das Wort Gottes können wir dagegen vertrauen, ohne zu zweifeln, und werden finden, dass ein Mensch, der sich vom Heiligen Geist oder von der göttlichen Natur leiten lässt, nie im Widerspruch zum Wort Gottes handeln wird.
Doch es gibt im Blick auf die göttliche Führung noch einen anderen Gesichtspunkt, der unsere Beachtung verdient. Man hört nicht selten, dass von dem „Finger der göttlichen Vorsehung“ gesprochen wird als einer Sache, von der man sich leiten lassen müsse. Das ist im Grunde nichts anderes, als sich in seinem Handeln durch Umstände bestimmen zu lassen. Man braucht kaum zu sagen, dass diese Art, sich leiten zu lassen, zu einem Christen nicht passt.
Ohne Zweifel kann und wird uns der Herr manchmal seine Absichten durch Vorsehung zu erkennen geben und unseren Weg dadurch bestimmen. Aber wenn wir nahe bei ihm sind, um seine Wege richtig zu verstehen, werden wir die Erfahrung machen, dass wir etwas für einen „Ausweg der Vorsehung“ hielten, was in Wirklichkeit eine Tür war, durch die wir den Weg des Gehorsams verließen. Jona mag es als eindeutige Fügung der Vorsehung betrachtet haben, ein Schiff zu finden, das nach Tarsis fuhr. Wäre er jedoch in Gemeinschaft mit Gott gewesen, so hätte er kein Schiff benötigt. Kurz, das Wort Gottes ist der einzige zuverlässige Maßstab und der vollkommene Prüfstein für uns. Wir müssen uns in dem durchdringenden Licht des Wortes prüfen. Das bringt jedem Kind Gottes Sicherheit, Frieden und Segen.
Können wir denn für alle Kleinigkeiten des täglichen Lebens eine Anweisung in der Bibel finden? Vielleicht nicht. Aber in der Heiligen Schrift sind Grundsätze niedergelegt, die uns bei richtiger Anwendung gottgemäß leiten, selbst wenn wir keine besonderen Bibelstellen für unsere Umstände finden. Daneben aber haben wir die feste Zusage, dass Gott seine Kinder in allen Dingen leiten wird. „Von dem HERRN werden die Schritte des Mannes befestigt“ (Ps 37,23). „Er leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg“ (Ps 25,9). „Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten“ (Ps 32,8). Gott will uns seine Gedanken im Blick auf jedes Vorhaben mitteilen. Sollen wir uns durch die wechselvollen Umstände treiben lassen? Sollen wir uns dem blinden Zufall oder unserem eigenen Willen überlassen?
Unterordnung unter Gottes Willen
Gott sei Dank, dass es nicht so sein muss. Gott kann uns in seiner eigenen Weise in jedem Fall Gewissheit über seine Gedanken geben. Wir sollten nie ohne diese Gewissheit etwas beginnen. „Was soll ich tun? Ich bin in Verlegenheit, welchen Weg ich einschlagen soll!“, sagte jemand zu seinem Freund. „Dann tu überhaupt nichts“, lautete die Antwort.
„Er leitet die Sanftmütigen im Recht und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg.“ Das sollten wir nie vergessen. Wenn wir demütig sind und nicht auf uns selbst vertrauen und in Einfalt und Aufrichtigkeit auf Gott warten, wird Er uns leiten. Gott um Rat in einer Sache zu bitten, die wir schon entschieden haben, ist zwecklos. Wir täuschen uns dann in verhängnisvoller Weise. Die Geschichte Josaphats liefert uns da ein treffendes Beispiel. Wir lesen in 1. Könige 22,2: „Und es geschah im dritten Jahr, da kam Josaphat, der König von Juda, zum König von Israel herab.“ Das war von vornherein ein großer Fehler. „Und der König von Israel sprach zu seinen Knechten: Wisst ihr nicht, dass Ramot-Gilead unser ist? Und wir bleiben still und nehmen es nicht aus der Hand des Königs von Syrien? Und er sprach zu Josaphat: Willst du mit mir nach Ramot-Gilead in den Kampf ziehen? Und Josaphat sprach zu dem König von Israel: Ich will sein wie du, mein Volk wie dein Volk, meine Pferde wie deine Pferde“, und nach 2. Chronika 18,3: „Ich will mit dir in den Kampf ziehen.“
Josaphat hatte also seinen Entschluss schon gefasst, ehe er Gott um Rat fragte. Doch dann sagte er zu dem König von Israel: „Befrage doch heute das Wort des HERRN!“ (V. 5) Aber was konnte das nützen, nachdem er sich bereits verpflichtet hatte! Welch eine Torheit ist es, zuerst einen Entschluss zu fassen und dann einen Rat einzuholen! Jetzt war es völlig zwecklos, noch den HERRN zu fragen. Josaphat war hier in einem schlechten Zustand.
Das Wort Gottes passt sich nie unseren Gedanken an, sondern richtet den Menschen. Es steht im Widerspruch zu seinem eigenen Willen und tritt seinen Plänen entgegen. Daher verwirft der Mensch das Wort. Ein ungebrochener Wille und eine blinde Vernunft bringen uns in Finsternis und Elend. Jona wollte nach Tarsis gehen, obwohl der Herr ihn nach Ninive gesandt hatte. Die Folge war, dass er sich im „Schoß des Scheols“ wiederfand und dass „das Meergras sich um sein Haupt schlang“ (Jona 2,3.6). Josaphat wollte nach Ramoth gehen, obwohl er in Jerusalem hätte bleiben sollen, und die Folge war, dass er sich umringt sah von den Schwertern der Syrer.
So ist es stets. Der Eigenwille führt uns ins Unglück. Im Gehorsam dagegen erfahren wir Frieden, Licht und Segen. Göttliche Gnade wird uns zuteil. Der Weg des Gehorsams mag schmal, rau und einsam erscheinen, aber es ist der Weg des Lebens, des Friedens und der Sicherheit. „Der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe“ (Spr 4,18). Ein gesegneter Weg!
Bevor wir diesen wichtigen Punkt der göttlichen Führung und des Gehorsams verlassen, möchte ich den Leser noch auf eine Stelle in Lukas 11 aufmerksam machen. Die Stelle enthält eine sehr wertvolle Unterweisung: „Die Lampe des Leibes ist dein Auge; wenn dein Auge einfältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht; wenn es aber böse ist, so ist auch dein Leib finster. Gib nun Acht, dass das Licht, das in dir ist, nicht Finsternis ist. Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahl dich erleuchtete“ (V. 34–36).
Können wir das treffender ausdrücken? Zunächst sehen wir, dass ein „einfältiges Auge“ zum Gehorsam nötig ist. Es deutet auf einen völlig ergebenen Willen hin, und auf ein Herz, das in Aufrichtigkeit den Willen Gottes tun will.
Ist ein Mensch in diesem Zustand, so strömt göttliches Licht in ihn hinein und erfüllt den ganzen Leib. Wenn der Leib nicht licht ist, so ist auch das Auge nicht einfältig. Es sind dann unlautere Beweggründe vorhanden; der Eigenwille ist am Werk, und wir sind nicht aufrichtig vor Gott. In diesem Fall ist das Licht, das wir zu haben vorgeben, nichts als Finsternis. Keine Finsternis kann so dicht und schrecklich sein wie diese, die als Gericht über einen Menschen kommt, der vom Eigenwillen beherrscht wird, während er zur gleichen Zeit bekennt, göttliches Licht zu besitzen. „Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß die Finsternis!“ (Mt 6,23). Andererseits wird ein schwaches Licht, wenn es aufrichtig benutzt wird, sicherlich zunehmen, „denn wer da hat, dem wird gegeben werden“ (Mt 13,12), und „der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe“.
„Wenn nun dein ganzer Leib licht ist und keinen finsteren Teil hat“, wenn kein Winkel den göttlichen Strahlen verschlossen, kein unreiner Beweggrund vorhanden ist, und wenn das ganze Verhalten vom göttlichen Licht durchleuchtet werden kann, dann „wird er ganz licht sein, wie wenn die Lampe mit ihrem Strahl dich erleuchtete“. Mit einem Wort, wer gehorsam ist, hat nicht nur Licht für seinen Weg, sondern sein Licht leuchtet auch für andere wie eine helle Lampe. Also „lasst euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen“ (Mt 5,16).
Die Erwählung der Richter
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels berichtet Mose die Dinge, die mit der Erwählung der siebzig Richter und der Sendung der Kundschafter in Verbindung standen. Die Erwählung der Richter schreibt Mose seiner eigenen Anregung, die Aussendung der Kundschafter der des Volkes zu. Der würdige Knecht Gottes fühlte, dass die Last der Versammlung zu schwer für ihn war, und sie war es sicherlich. Doch wir wissen, dass die Gnade Gottes für alle Bedürfnisse vollkommen ausgereicht hätte, und dass sie durch einen Mann ebenso viel ausrichten konnte wie durch siebzig.
Wir können die Schwierigkeiten verstehen, die der sanftmütigste unter allen Menschen auf dem Erdboden (4. Mo 12,3) wegen der Verantwortung eines derartig schwierigen Amtes gefühlt hat. Die Art und Weise, wie er diese Schwierigkeiten beschreibt, ist ergreifend.
„Und ich sprach in jener Zeit zu euch und sagte: Ich allein kann euch nicht tragen“ – gewiss nicht; welcher Mensch hätte das gekonnt! Aber Gott war da, der immer bereit war, zu helfen. „Der HERR, euer Gott, hat euch zahlreich werden lassen, und siehe, ihr seid heute wie die Sterne des Himmels an Menge. Der HERR, der Gott eurer Väter, füge zu euch, so viele ihr seid, tausendmal hinzu und segne euch, wie er zu euch geredet hat!“ – Eine schöne Einfügung. „Wie könnte ich allein eure Bürde und eure Last und euren Hader tragen?“ (V. 9–12).
Der Hader war die Ursache, weshalb die Bürde und die Last so groß waren. Das Volk war sich nicht einig. Es gab Streitfragen und Zwistigkeiten in ihrer Mitte; und wer war diesen Dingen gewachsen? Wie ganz anders hätte es sein können, wenn sie in Frieden miteinander gezogen wären. Hätte jeder Einzelne das Wohlergehen des anderen gesucht, so wäre kein Streit entstanden. Es hätte keine Last, keine Bürde und keinen Hader gegeben.
Ist es nicht noch viel demütigender, dass es in der Versammlung Gottes genauso aussieht, obwohl unsere Vorrechte viel größer sind? Kaum war die Versammlung durch das Herniederkommen des Heiligen Geistes gebildet, da wurden schon Stimmen des Murrens und der Unzufriedenheit laut. Und worüber? Über eine „Vernachlässigung“ (vgl. Apg 6,1–6). Mochte sie nun wirklich so sein oder auch nur den Anschein haben, jedenfalls wirkte das Ich dabei mit. Entweder mussten die Hellenisten oder die Hebräer getadelt werden. In der Regel gibt es in solchen Fällen Fehler auf beiden Seiten. Der einzige Weg, Streit, Zwist und alle Unzufriedenheit zu vermeiden, ist, sich selbst zu verleugnen und ernstlich das Beste des anderen zu suchen. Hätten sich die Christen von Anfang an so verhalten, dann hätten sich die christlichen Geschichtsschreiber mit erquicklicheren Themen beschäftigen können. Doch sehen wir, dass die Geschichte der bekennenden Christenheit von Anfang an durch Spaltungen gekennzeichnet ist. Selbst in der Gegenwart des Herrn, dessen ganzes Leben eine einzigartige Selbsterniedrigung war, stritten sich die Jünger darüber, wer der Größte unter ihnen sei. Ein solcher Streit wäre nie entstanden, wenn jeder darauf bedacht gewesen wäre, sich selbst zu vergessen und das Teil des anderen zu suchen. Wer etwas von dem sittlichen Wert der Selbsterniedrigung kennt, wird niemals für sich das Beste oder einen bevorzugten Platz beanspruchen. Wer wirklich demütig ist, hat genug an der Nähe Christi, so dass Ehren, Auszeichnungen und Belohnungen wenig oder gar keinen Wert für ihn haben. Wo aber das eigene Ich wirkt, da werden sich immer Neid und Streit, Verwirrung und jede böse Tat finden. Jedes Blatt der Geschichte der Versammlung beweist die Behauptung, dass das Ich mit seinen bösen Wirkungen von jeher die Ursache des Streites und aller Spaltung gewesen ist. Von den Tagen der Apostel bis heute ist das ungerichtete Ich stets die Quelle all dieser traurigen Erscheinungen gewesen.
„Wie könnte ich allein eure Bürde und eure Last und euren Hader tragen? Nehmt euch weise und verständige und bekannte Männer, nach euren Stämmen, damit ich sie zu Häuptern über euch setze. Und ihr antwortetet mir und spracht: Gut ist die Sache, die du zu tun gesagt hast. Und ich nahm die Häupter eurer Stämme, weise und bekannte Männer“ – von Gott befähigte Männer, die das Vertrauen des Volkes besaßen – „und setzte sie als Häupter über euch, als Oberste über Tausend und Oberste über Hundert und Oberste über Fünfzig und Oberste über Zehn, und als Vorsteher für eure Stämme“ (V. 12–15).
Wirklich eine erstaunliche Anordnung! Sofern sie wirklich nötig war, gab es keine bessere Ordnung als diese Abstufung der Autorität, angefangen mit dem Obersten über Zehn bis hinauf zu dem Obersten über Tausend und schließlich Mose selbst als Haupt über alle in unmittelbarer Verbindung mit dem HERRN, dem Gott Israels.
Wir finden hier keine Andeutung, dass die Wahl dieser Richter auf den Rat Jethros, des Schwiegervaters Moses, erfolgte (2. Mo 18). Wir hören auch nichts von dem, was uns in 4. Mose 11 mitgeteilt wird. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass das fünfte Buch Mose keine Wiederholung der vorausgehenden Teile des Pentateuch ist. Es war die Absicht des Knechtes Gottes, oder besser gesagt, des in ihm wirkenden Heiligen Geistes, im Volk Gehorsam zu bewirken. Das ist der Gegenstand dieses Buches.
Wenn wir das fünfte Buch Mose verstehen wollen, ist es gut, daran zu denken. Ungläubige und Zweifler mögen behaupten, es gebe Widersprüche in den verschiedenen Erzählungen, wie sie uns in den einzelnen Büchern mitgeteilt werden. Solche Überlegungen kommen von dem Vater der Lüge, dem Feind der Offenbarung Gottes. Den Ungläubigen Beweise zu liefern, ist nutzlos, weil sie gar nicht imstande sind, das zu verstehen. Ihr Urteil über die Inspiration des Wortes ist deshalb völlig wertlos. Das Wort Gottes steht hoch erhaben über ihnen. Es ist so vollkommen wie Gott selbst und so unerschütterlich wie sein Thron; doch seine Schönheit, seine Tiefe und Vollkommenheit sind nur für den Glauben sichtbar. „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen hast und es Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir“ (Mt 11,25.26).
„Und ich gebot euren Richtern in jener Zeit und sprach: Hört die Streitsachen zwischen euren Brüdern und richtet in Gerechtigkeit zwischen einem Mann und seinem Bruder und dem Fremden bei ihm. Ihr sollt im Gericht nicht die Person ansehen; den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören; ihr sollt euch vor niemand fürchten, denn das Gericht ist Gottes. Die Sache aber, die zu schwierig für euch ist, sollt ihr vor mich bringen, damit ich sie höre“ (V. 16.17).
Welch eine unparteiische Gerechtigkeit! In jedem einzelnen Streitfall sollten auf beiden Seiten alle Tatsachen geduldig angehört und bedacht werden. Vorurteile oder persönliche Gefühle durften den Richter nicht beeinflussen. Ein Urteil sollte nicht auf bloße Eindrücke hin, sondern nur aufgrund unleugbarer Tatsachen gefällt werden. Jede Sache musste so entschieden werden, wie sie es verdiente, ohne Rücksicht auf Stellung oder persönlichen Einfluss der einen oder anderen streitenden Partei. „Den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören.“ Der Arme hatte dasselbe Recht wie der Reiche, der Fremde wie der im Land Geborene. Es durfte kein Unterschied gemacht werden.
Welche Belehrung ist darin für uns enthalten! Wir sind nicht alle zu Richtern, Ältesten und Führern berufen; aber auch uns begegnen täglich Situationen, auf die wir diese Grundsätze anwenden können. Unser Urteil muss immer auf Tatsachen beruhen, und zwar auf allen Tatsachen von beiden Seiten. Wir dürfen uns nicht von Eindrücken leiten lassen, die uns täuschen können. Wir bekommen sehr schnell einen falschen Eindruck. Ein Urteil, das nur auf Eindrücken beruht, ist wertlos. Wir dürfen uns nur auf klar erwiesene Tatsachen stützen, die durch zweier oder dreier Zeugen Mund festgestellt sind. Das schärft uns das Wort Gottes wiederholt ein (vgl. 5. Mo 17,6; 2. Kor 13,1; 1. Tim 5,19).
Ebenso wenig sollten wir uns in unserem Urteil durch eine parteiische Darstellung der Tatsachen beeinflussen lassen. Jeder steht in Gefahr, seiner Darstellung, wenn auch in der besten Absicht, eine gewisse Färbung zu geben. Vielleicht lässt man bewusst oder unbewusst eine Tatsache aus, und gerade sie kann unter Umständen alle übrigen Tatsachen in ein ganz anderes Licht stellen. „Audiatur et altera pars“ („man höre auch den anderen Teil“) ist ein alter, stets beachtenswerter Grundsatz. Ja, um wirklich ein richtiges Urteil bilden zu können, müssen wir die Tatsachen auf beiden Seiten hören. Deshalb heißt es: „Höret die Streitsachen zwischen euren Brüdern und richtet in Gerechtigkeit zwischen einem Mann und seinem Bruder und dem Fremden bei ihm.“
Wie wichtig ist die Warnung im 17. Vers: „Ihr sollt im Gericht nicht die Person ansehen; den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören; ihr sollt euch vor niemand fürchten.“ Wir sind sehr geneigt, die Person anzusehen, uns von persönlichen Einflüssen leiten lassen, Wert zu legen auf Stellung und Reichtum und uns vor Menschen zu fürchten.
Was ist das Heilmittel gegen alle diese Übel? Es ist die Furcht Gottes. Wenn wir allezeit auf den Herrn sehen, werden wir frei von parteiischem Denken, von Vorurteilen und Menschenfurcht. Wir werden in allem, was uns begegnen mag, geduldig auf die Weisungen des Herrn warten und so davor bewahrt bleiben, uns ein übereiltes und einseitiges Urteil über Personen und menschliche Beziehungen zu bilden. Wie viel Unheil ist schon durch vorschnelles und liebloses Urteilen unter dem Volk Gottes angerichtet worden!
Wir wollen nun betrachten, wie Mose die Gemeinde an die Sendung der Kundschafter erinnert: „Und ich gebot euch in jener Zeit alle die Sachen, die ihr tun solltet“ (V. 18). Der Weg lag klar vor ihnen. Sie brauchten ihn nur gehorsam zu gehen. Sie brauchten nicht über die Folgen zu grübeln und sich Gedanken zu machen über das Ende des Weges. Alles das konnten sie Gott überlassen und mit festem Vorsatz vorangehen.
Die Aussendung der Kundschafter
„Und wir brachen auf vom Horeb und zogen durch diese ganze große und schreckliche Wüste, die ihr gesehen habt, den Weg zum Gebirge der Amoriter, so wie der HERR, unser Gott, uns geboten hatte; und wir kamen bis Kades-Barnea. Und ich sprach zu euch: Ihr seid bis zum Gebirge der Amoriter gekommen, das der HERR, unser Gott, uns gibt. Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; zieh hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht!“ (Verse 19–21).
Das war ihre Garantie, dass sie ihren Besitz sofort antreten konnten. Der HERR, ihr Gott, hatte ihnen das Land gegeben. Es war ein Geschenk seiner großen Gnade aufgrund des Bundes, den Er mit ihren Vätern gemacht hatte. Es war sein Wille, das Land Kanaan den Nachkommen Abrahams, seines Freundes, zu geben. Das hätte das Volk beruhigen sollen bezüglich der Art des Landes und seiner Einnahme. Die Kundschafter hätten nicht ausgesandt zu werden brauchen. Der Glaube kundschaftet nicht aus, was Gott gegeben hat. Der Glaube sagt: „Was Gott gibt, muss wertvoll genug sein, und Er ist auch in der Lage, in das einzuführen, was seine Gnade für mich bereitet hat.“ Israel hätte wissen können: Derselbe Gott, der uns durch die „große und schreckliche Wüste“ geleitet hat, kann uns auch in unser verheißenes Erbe bringen.
Diesen Schluss hätte der Glaube gezogen, denn er beurteilt die Umstände immer von Gott aus, nie aber beurteilt er Gott nach den Umständen. „Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns?“ (Röm 8,31). „Der Herr ist mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?“ (Heb 13,6). Wenn ich im Glauben auf Gott blicke, so beschäftige ich mich wenig mit den Schwierigkeiten. Sie werden entweder gar nicht gesehen oder nur als eine Gelegenheit zur Entfaltung der Macht Gottes betrachtet.
Doch das Volk glaubte bei dieser Gelegenheit nicht, sondern nahm Zuflucht zu den Kundschaftern. Hieran erinnert sie Mose: „Und ihr tratet alle zu mir und spracht: Lasst uns Männer vor uns hersenden, damit sie uns das Land erkunden und uns Bericht erstatten über den Weg, auf dem wir hinaufziehen, und über die Städte, zu denen wir kommen sollen“ (V. 22).
Hätten sie nicht Gott vertrauen können? Gott hatte sie aus Ägypten herausgeführt, einen Weg für sie durch das Meer gebahnt und sie durch die dürre, schreckliche Wüste geführt. War Er nicht imstande, sie nun auch in das Land zu bringen? Aber nein, sie wollten Kundschafter aussenden, weil ihre Herzen Gott nicht vertrauten.
Im vierten Buch Mose hatte der HERR selbst Mose den Auftrag gegeben, Kundschafter auszusenden. Doch warum tat Mose das? Wegen des niedrigen Zustandes des Volkes. Von neuem sehen wir den charakteristischen Unterschied und doch auch die Übereinstimmung in den beiden Büchern. Das vierte Buch teilt uns die allgemeine Geschichte mit, das fünfte Buch dagegen die verborgene Ursache der Sendung der Kundschafter. Ein Bericht ergänzt den anderen. Wir würden die Begebenheiten nicht so gut verstehen können, wenn wir nur einen Bericht hätten.
Vielleicht fragt jemand, wie es denn unrecht sein konnte, die Kundschafter auszusenden, wo doch der Herr es befohlen hatte. Das Unrecht bestand nicht in der Sendung der Männer, nachdem der Herr einmal den Auftrag dazu gegeben hatte, sondern in dem Wunsch des Volkes, sie überhaupt zu senden. Dieser Wunsch war eine Frucht des Unglaubens, und der Befehl erfolgte nur wegen dieses Unglaubens. Etwas Ähnliches finden wir in Matthäus 19, wo der Herr mit den Pharisäern über die Bestimmungen des Gesetzes bezüglich der Ehescheidung spricht (V. 3–8).
Eine Ehescheidung ist nicht in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes. Ein Mann sollte seine Frau nicht entlassen. Doch war die Ehescheidung gestattet worden wegen der Herzenshärtigkeit des Menschen. Ähnlich war es bei der Begebenheit mit den Kundschaftern. Israel hätte nicht nötig gehabt, die Kundschafter auszusenden. Ein einfältiger Glaube hätte nie daran gedacht. Aber der Herr sah, wie die Dinge lagen und gab dann entsprechende Anordnungen. So gebot Er auch später Samuel, dem Volk einen König zu geben, als Er sah, dass das Volk einen König begehrte (1. Sam 8,7–9).
Die Erfüllung eines Wunsches ist kein Beweis dafür, dass er auch den Gedanken Gottes entspricht.
Die Aussendung der Kundschafter war ein vollständiger Fehlschlag und brachte nur Enttäuschungen. Es konnte nicht anders sein, da ihre Sendung eine Folge des Unglaubens war. Allerdings sagte Mose, indem er sich zu dem niedrigen Zustand des Volkes herabließ und dem Plan zustimmte: „Und die Sache war gut in meinen Augen; und ich nahm von euch zwölf Männer, je einen Mann für den Stamm“ (V. 23). Aber dies beweist durchaus nicht, dass der Plan auch den Gedanken Gottes entsprach. Gott kann uns in unserem Unglauben entgegenkommen, selbst wenn Er dadurch betrübt und verunehrt wird. Aber Er hat seine Freude nur an einem ungekünstelten Glauben. Solch ein Glaube räumt Gott den Platz ein, der ihm gebührt. Wenn daher Mose zu dem Volk sagt: „Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; zieh hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht!“ – so hätten sie besser antworten sollen: „Hier sind wir, führe uns, allmächtiger Herr! Führe uns zum Siege! Du bist genug. Haben wir dich zum Führer, so folgen wir mit freudigem Vertrauen. Schwierigkeiten sind kein Hindernis für dich, und darum auch nicht für uns. Wir brauchen allein dein Wort und deine Gegenwart.“
Das wäre die Sprache des Glaubens gewesen. Aber Israel sprach anders. Gott war nicht genug für sie. Sie waren nicht zufrieden mit dem, was Er ihnen von dem Land gesagt hatte. Sie wollten Kundschafter senden. Der Mensch versucht alles andere, bevor er auf den lebendigen Gott vertraut. Und doch ist nichts gesegneter als ein Leben des Glaubens. Der Glaube muss Wirklichkeit sein und nicht ein totes Bekenntnis. Es ist zwecklos, von einem Leben aus Glauben zu reden, wenn man im Geheimen auf menschlichen Stützen ruht. Der Gläubige hat es ausschließlich mit Gott zu tun. In ihm findet er alle seine Quellen. Das heißt nicht, dass er die Werkzeuge, die Gott nach seinem Ermessen gebraucht, gering achtet. Er schätzt sie als die Mittel, die Gott zu seiner Hilfe und zum Segen für andere benutzt. Aber er stellt sie nicht an den Platz, der allein Gott zukommt. Seine Sprache ist: „Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Rettung“ (Ps 62,2).
Es liegt eine besondere Kraft in dem Wörtchen „nur“. Es erforscht das Herz von Grund auf. Wenn wir etwas von einem Geschöpf erwarten, so haben wir uns schon von dem Leben aus Glauben entfernt. Außerdem bringt es Enttäuschungen aller Art mit sich. Menschliche Stützen zerbrechen, und menschliche Hilfsmittel versagen. Wer aber auf den Herrn vertraut, wird nie beschämt und nie zu kurz kommen. Hätte Israel auf den Herrn vertraut, statt Kundschafter auszusenden, so hätte die Sache eine andere Wendung genommen. Aber sie wollten Kundschafter aussenden, und alles endete für sie in einem erniedrigenden Fehlschlag.
Der Bericht der Kundschafter – der Unglaube des Volkes
„Und sie wandten sich und zogen ins Gebirge hinauf, und kamen bis zum Tal Eskol und kundschafteten es aus. Und sie nahmen von der Frucht des Landes in ihre Hand und brachten sie zu uns herab. Und sie erstatteten uns Bericht und sprachen: Das Land ist gut, das der HERR, unser Gott, uns gibt“ (V. 24.25). Konnte es anders als gut sein, wenn Gott es ihnen geben wollte? Waren Kundschafter nötig, um ihnen zu berichten, dass die Gabe Gottes gut ist?
Es ist interessant zu sehen, wie Mose weiter von den Kundschaftern spricht. Er beschränkt sich auf den wahren Teil ihres Berichtes. Er erwähnt hier nicht die zehn ungläubigen Kundschafter. Das steht wieder völlig im Einklang mit dem Charakter dieses Buches. Mose will einen Einfluss auf das Gewissen der Versammlung nehmen. Er erinnert die Israeliten daran, dass sie selbst den Vorschlag zur Sendung der Kundschafter gemacht hatten, dann aber sich weigerten, hinaufzuziehen, obwohl die Kundschafter die Früchte des Landes mitbrachten und Gutes berichteten. „Aber ihr wolltet nicht hinaufziehen und wart widerspenstig gegen den Befehl des HERRN, eures Gottes“ (V. 26). Hierauf konnten sie nichts erwidern, denn sie waren nicht nur ungläubig, sondern aufrührerisch gegen Gott gewesen. Die Sendung der Kundschafter hatte das deutlich bewiesen.
„Und ihr murrtet in euren Zelten und spracht: Weil der HERR uns hasste“ – welch eine schreckliche Lüge angesichts der Tatsachen! – „hat er uns aus dem Land Ägypten herausgeführt, um uns in die Hand der Amoriter zu geben, damit sie uns vertilgen“ (V. 27). Wieso war das ein Beweis des Hasses? Wie unsinnig sind doch die Argumente des Unglaubens! Hätte der HERR sie gehasst, so wäre es leicht gewesen, sie in Ägypten sterben zu lassen unter den grausamen Geißelhieben der Arbeitsvögte des Pharaos. Warum gab Er sich dann so viel Mühe mit ihnen? Warum verhinderte Er, dass die Wasser des Roten Meeres sie zusammen mit den Feinden verschlangen? Warum befreite Er sie von dem Schwert der Amalekiter? Mit einem Wort, wozu alle diese herrlichen Siege seiner Gnade, wenn Er sie gehasst hätte? Doch ein finsterer Unglaube beherrschte sie, und deshalb zogen sie die falschen Schlüsse. Es gibt nichts Törichteres unter der Sonne als den Unglauben. Und es gibt nichts, was so klar und vernünftig ist, wie die einfachen Argumente eines kindlichen Glaubens.
„Und ihr murrtet in euren Zelten.“ Der Unglaube ist nicht nur blind und unvernünftig in seinen Urteilen, sondern er führt den Menschen auch zu finsterem und verdrießlichem Murren. Er kann eine Sache nicht von ihrer richtigen und guten Seite auffassen. Er tappt stets in Finsternis auf dem verkehrten Weg umher, und nur darum, weil er Gott ausschließt und auf die Umstände blickt. „Wohin sollen wir hinaufziehen?“, fragten die Israeliten, „unsere Brüder haben unser Herz verzagt gemacht, indem sie sagten: Ein Volk, größer und höher als wir“ – war es denn auch größer als der HERR? – „Städte, groß und befestigt bis an den Himmel“ – welche Übertreibung! – „und auch die Kinder der Enakim haben wir dort gesehen!“ (V. 28).
Der Glaube hätte einfach erwidert: „Was macht's, wenn auch die Städte bis zum Himmel befestigt sind? Unser Gott ist über ihnen, Er ist im Himmel. Was sind große und hohe Mauern vor ihm, der das Weltall bildete und es erhält durch das Wort seiner Macht? Was sind Enakskinder gegenüber dem allmächtigen Gott?“
Aber Israel glaubte nicht. In Hebräer 3 wird gesagt: „Sie konnten nicht eingehen wegen des Unglaubens.“ Das war die große Schwierigkeit. Über die befestigten Städte und die schrecklichen Riesen hätte Israel schnell triumphiert, wenn es Gott vertraut hätte. Wie steht der Unglaube unseren Segnungen doch immer im Weg! Er hindert die Strahlen der Herrlichkeit Gottes.
Gott beschämt nie einen Menschen, der auf ihn vertraut. Es ist seine Freude, die höchsten Schecks einzulösen, die der Glaube in den himmlischen Schatzkammern vorlegt. Zu allen Zeiten gilt das Wort: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ (Mk 5,36), und: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast“ (Mt 8,13). Lasst uns die Kraft dieser Worte mehr erkennen und verwirklichen!
Warum konnte Israel bei dieser Begebenheit die Herrlichkeit Gottes nicht sehen? Das Volk glaubte nicht. Die Sendung der Kundschafter war ein grober Fehler. Sie endete deshalb, wie sie begonnen hatte, nämlich im Unglauben. Gott war ausgeschlossen. Sie sahen nur noch Schwierigkeiten.
„Sie konnten nicht eingehen.“ Sie konnten die Herrlichkeit Gottes nicht sehen. Es ist wohltuend, die weiteren Worte Moses zu lesen. „Da sprach ich zu euch: Erschreckt nicht und fürchtet euch nicht vor ihnen! Der HERR, euer Gott, der vor euch herzieht, er wird für euch kämpfen.“ Welch ein Gedanke! Gott kämpft für sein Volk und zieht als ein Kriegsmann vor ihnen her! – „Er wird für euch kämpfen, nach allem, was er in Ägypten vor euren Augen für euch getan hat, und in der Wüste, wo du gesehen hast, dass der HERR, dein Gott, dich getragen hat, wie ein Mann seinen Sohn trägt, auf dem ganzen Weg, den ihr gezogen seid, bis ihr an diesen Ort kamt. Aber in dieser Sache glaubtet ihr nicht dem HERRN, eurem Gott, der auf dem Weg vor euch herzog, um euch einen Ort zu erkunden, dass ihr lagern konntet: in der Nacht im Feuer, dass ihr auf dem Weg sehen konntet, auf dem ihr zogt, und am Tag in der Wolke“ (V. 29–33).
Welche eindringlichen und ergreifenden Worte! Sie beweisen wiederum, dass unser Buch nicht eine Wiederholung bekannter Tatsachen ist. Wenn der Gesetzgeber im zweiten und vierten Buch Begebenheiten der Wüstenreise berichtet, so gibt er ihnen hier Erläuterungen. Die Weise, in der der HERR mit seinem Volk gehandelt hatte, wird uns lebendig und frisch vor Augen gemalt. „Wie ein Mann seinen Sohn trägt“ – welch ein schönes Bild! Diese wenigen Worte schildern treffend, wie Gott sich des Volkes angenommen hat. Sie zeigen uns die Art und Weise, in der Gott etwas tut, um sein Herz zu offenbaren. So wie die Kraft der Hand oder die Klugheit des Geistes in einer Handlung sichtbar werden, so offenbart sich die Liebe des Herzens in der Art und Weise, wie sie ausgeführt wird.
Der Glaube Kalebs
Doch Israel hatte kein Vertrauen zu Gott. Ungeachtet der Offenbarung seiner Macht, seiner Treue, seiner Güte und Gnade auf dem Weg von Ägypten bis an die Grenzen des Landes Kanaan, glaubten sie nicht. Trotz zahlreicher Beweise, die jeden hätten überzeugen müssen, zweifelten sie. „Und der HERR hörte die Stimme eurer Reden und wurde zornig und schwor und sprach: Wenn ein Mann unter diesen Männern, diesem bösen Geschlecht, das gute Land sehen wird, das ich euren Vätern zu geben geschworen habe, außer Kaleb, dem Sohn Jephunnes! Er soll es sehen, und ihm und seinen Söhnen werde ich das Land geben, auf das er getreten ist, darum, dass er dem HERRN völlig nachgefolgt ist“ (V. 34–36).
„Habe ich dir nicht gesagt, wenn du glaubtest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“ (Joh 11,40). Das ist die göttliche Reihenfolge. Der Mensch will sehen und dann glauben; aber im Reich Gottes wird geglaubt und dann gesehen. Woher kam es, dass nicht ein Mann von diesem bösen Geschlecht würdig war, das gute Land zu sehen? Weil sie nicht an den Herrn, ihren Gott glaubten. Der Unglaube ist immer das Hindernis, das uns abhält, die Herrlichkeit Gottes zu sehen. „Und er tat dort nicht viele Wunderwerke wegen ihres Unglaubens“ (Mt 13,58). Hätte Israel geglaubt und dem Herrn, seiner Liebe und seiner Kraft vertraut, so hätte Er sie sicherlich in das Land zu ihrem Erbteil gebracht.
Genauso ist es noch heutzutage bei dem Volk des Herrn. Würden wir völliger auf den Herrn vertrauen, so wären unsere Segnungen ohne Grenzen. „Dem Glaubenden ist alles möglich“ (Mk 9,23). Unser Gott wird nie sagen: „Ihr habt mir einen zu hohen Scheck gegeben. Ihr erwartet zu viel von mir.“ Es ist seine Freude, den kühnsten Erwartungen des Glaubens zu entsprechen.
Lasst uns daher reichlich nehmen! „Tue deinen Mund weit auf, und ich will ihn füllen“ (Ps 81,11). Die Schatzkammern des Himmels sind dem Glauben stets geöffnet. „Alles, was irgend ihr im Gebet glaubend erbittet, werdet ihr empfangen“ (Mt 21,22). „Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt, so erbitte er sie von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft“ (Jak 1,5). Der Glaube ist das Geheimnis der ganzen Sache, er ist die Quelle und der Antrieb des christlichen Lebens von Anfang bis Ende. Der Glaube schwankt oder zweifelt nie. Der Unglaube dagegen zweifelt immer und kann deshalb nie die Herrlichkeit Gottes sehen. Er ist taub für Gottes Stimme und blind für sein Handeln. Er wirkt deprimierend, schwächt die Tatkraft und lähmt den Willen. Er verdunkelt den Weg und hindert jeden Fortschritt. Wegen des Unglaubens konnte Israel vierzig Jahre lang nicht in das Land der Verheißung einziehen. Wer kann abschätzen, wie viel wir entbehren durch seinen verderblichen Einfluss auf uns? Wirkte der Glaube in uns, so würde es ganz anders bei uns aussehen. Der Glaube reinigt das Herz; er wirkt durch die Liebe, er überwindet die Welt, kurz, er verbindet uns mit Gott selbst. Kein Wunder, dass Petrus ihn den „kostbaren“ Glauben nennt, denn er ist kostbar über alle menschlichen Begriffe.
Diesen Glauben hatte Kaleb. Hier erfüllte sich bereits, was der Herr fünfzehnhundert Jahre später sagte: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast“ (Mt 8,13). Er glaubte, dass Gott mächtig genug war, das Volk in das Land zu bringen, und dass alle Hindernisse und Schwierigkeiten zuletzt eine Stärkung für den Glauben sind. Und Gott belohnte seinen Glauben (vgl. Jos 14,6–12).
Mose darf nicht nach Kanaan
Die Schlussverse unseres Kapitels enthalten noch wichtige Belehrungen für uns. Es wird uns gezeigt, wie Gott in seiner Regierung handelt. Mose spricht von der Ursache, warum er nicht in das Land der Verheißung eintreten durfte: „Auch gegen mich erzürnte der HERR euretwegen und sprach: Auch du sollst nicht hineinkommen“ (V. 37).
Beachten wir das Wort „euretwegen“! Die Gemeinde musste daran erinnert werden, dass sie die Schuld trug, wenn Mose, dieser geehrte Diener Gottes, den Jordan nicht überschreiten und das gelobte Land nicht betreten durfte. Allerdings hatte er „unbedacht“ geredet, als das Volk seinen Geist gereizt hatte (Ps 106,33). Sie hatten sich selbst durch den Unglauben des Vorrechts beraubt, in das Land zu kommen, und waren auch verantwortlich für seinen Ausschluss, obwohl Mose so sehr danach verlangte, „dieses gute Gebirge und den Libanon“ zu sehen (Kap. 3,25).
Die göttliche Regierung ist eine ernste Wirklichkeit. Der Mensch mag sich wundern, wie einige unbedachte Worte, eine übereilte Äußerung die Ursache sein konnten, dass der treue Knecht Gottes das Land nicht sehen durfte. Doch es geziemt uns, in Anbetung und Ehrfurcht uns zu beugen, nicht aber uns zu erheben und zu verurteilen. „Sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?“ (1. Mo 18,25). Er kann keinen Fehler machen. „Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger“ (Off 15,3). Gott ist „schrecklich in der Versammlung der Heiligen, und furchtbar über alle, die rings um ihn her sind“ (Ps 89,8). „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“; und „es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“ (Heb 12,29; 10,31).
Steht denn nicht die Gnade, in deren Wirkungsbereich wir uns als Christen befinden, im Widerspruch zu der göttlichen Regierung? Nein, es gilt auch heute noch: „Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7). Es ist ein Irrtum, wenn jemand glaubt, dieser Grundsatz habe sich geändert. Gnade und Regierung sind zwei verschiedene Begriffe und dürfen nicht durcheinandergebracht werden. Die Gnade vergab die Sünde Adams; und doch trieb Gott ihn aus dem Garten Eden hinaus, damit er sein Brot esse im Schweiß seines Angesichts, inmitten der Dornen und Disteln einer verfluchten Erde. Die Gnade vergab die Sünde Davids, aber das Schwert hing über seinem Haus bis an sein Ende. Bathseba wurde die Mutter Salomos, aber Absalom rebellierte gegen seinen Vater.
So war es auch mit Mose. Durch Gottes Gnade durfte er vom Gipfel des Pisga aus das ganze Land sehen, und doch verbot Gott seinen Eintritt ins Land. Diese Wahrheit lässt den Grundsatz völlig unberührt, dass Mose in seiner amtlichen Eigenschaft, als Vertreter des gesetzlichen Systems, das Volk ohnehin nicht in das Land bringen konnte. Weder im 20. Kapitel des vierten noch im 1. Kapitel des fünften Buches Mose finden wir auch nur eine Andeutung über Moses amtliche Stellung. Hier steht er persönlich vor uns, und ihm wird nicht gestattet, in das Land einzugehen, weil er unbedachtsam mit seinen Lippen geredet hatte.
Lasst uns diese ernste Wahrheit in der Gegenwart Gottes gründlich durchdenken. Wir werden die Gnade Gottes umso mehr erkennen, wie wir den Ernst der göttlichen Regierung und ihre gerechten Wege verstehen, sonst laufen wir Gefahr, die Lehre von der Gnade in einer leichtfertigen und oberflächlichen Weise aufzunehmen und dabei Herz und Leben nicht unter den heiligenden Einfluss dieser Lehre zu bringen. Es ist sehr verderblich, nur oberflächlich mit der Lehre von der Gnade bekannt zu sein. Dadurch wird aller Art von Zügellosigkeit die Tür geöffnet. Wir können daher dem Leser die Wahrheit von der Regierung Gottes nicht ernst genug vorstellen, vor allem in der heutigen Zeit, wo die Neigung vorhanden ist, die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung zu verkehren (Jud 4).
Das Volk lehnt die Regierung Gottes ab
Aus den letzten Versen unseres Kapitels ersehen wir jedoch, dass das Volk keineswegs bereit war, sich der Regierung Gottes zu unterwerfen. Sie wollten weder Gnade noch Regierung anerkennen. Sie konnten der Gegenwart und Macht Gottes sicher sein, und doch zögerten sie und weigerten sich hinaufzuziehen. Vergeblich riefen ihnen Kaleb und Josua ermunternde Worte zu, vergeblich malten sie ihnen die reichen und guten Früchte des Landes vor Augen, umsonst suchte Mose sie zu bewegen. Sie wollten nicht hinaufziehen. Und was war die Folge? Es geschah ihnen nach ihrem Unglauben. „Und eure kleinen Kinder, von denen ihr sagtet: Sie werden zur Beute werden!, und eure Söhne, die heute weder Gutes noch Böses kennen, sie sollen hineinkommen, und ihnen werde ich es geben, und sie sollen es in Besitz nehmen. Ihr aber, wendet euch und brecht auf nach der Wüste, den Weg zum Schilfmeer!“ (V. 39.40).
Wie traurig! Doch wie konnte es anders sein? Wenn sie nicht im Glauben in das Land ziehen wollten, so blieb ihnen nichts anderes übrig, als in die Wüste zurückzukehren. Aber auch diesem Befehl wollten sie nicht gehorchen. Sie wollten weder den Segen der Gnade in Anspruch nehmen, noch sich unter die Anordnung Gottes stellen. „Da antwortetet ihr und spracht zu mir: Wir haben gegen den HERRN gesündigt; wir wollen hinaufziehen und kämpfen, nach allem, was der HERR, unser Gott, uns geboten hat. Und ihr gürtetet jeder sein Kriegsgerät um und zogt leichtfertig in das Gebirge hinauf“ (V. 41).
Dies sah aus wie Betrübnis und Selbstgericht, aber das war es nicht. Es ist sehr leicht zu sagen: „Wir haben gesündigt.“ Saul sagte dies auch, ohne dass er ein echtes Empfinden darüber hatte, was er sagte. Was seine Worte wert waren, geht aus der sogleich folgenden Bitte an Samuel hervor: „Nun ehre mich doch vor den Ältesten meines Volkes“ (1. Sam 15,30). Welch ein Widerspruch! „Ich habe gesündigt“, doch „ehre mich“! Er würde anders gesprochen haben, wenn er seine Sünde empfunden hätte! Es war alles nur Schein, nur Heuchelei. Denken wir uns einen stolzen, von sich selbst erfüllten Mann, der ohne jedes Gefühl solche Worte ausspricht und dann, um Ehre für sich selbst zu suchen, in leerer Form Gott anbeten will! Welch eine Beleidigung Gottes, der seine Freude hat an „der Wahrheit im Innern“ (Ps 51,8) und der solche sucht, „die ihn in Geist und Wahrheit anbeten“ (Joh 4,23). Der schwächste Seufzer eines zerschlagenen und zerknirschten Herzens ist wohlgefällig vor Gott; aber wie beleidigend sind für ihn die leeren Formen einer äußerlichen Religiosität, die nur den Menschen in seinen eigenen Augen und in den Augen seiner Mitmenschen erhebt! Wie wertlos ist ein bloßes Lippenbekenntnis, wobei das Herz nichts empfindet! Es ist nicht schwer zu sagen: „Ich habe gesündigt.“ Aber wie oft ist gerade solch ein eiliges Bekenntnis der Beweis, dass die Sünde nicht wirklich empfunden wird, sondern dass das Herz hart und ungebrochen ist! Das Gewissen merkt, dass ein klares Sündenbekenntnis notwendig ist, aber es gibt kaum etwas, das einen Menschen mehr verhärtet, als die Gewohnheit, Sünde zu bekennen, ohne sie im Inneren zu empfinden. Ich glaube, dass das unaufhörliche Bekennen von Sünden, die Gewohnheit, eine bloße Bekenntnisformel vor Gott herzusagen, von jeher einer der gefährlichsten Fallstricke für die Christenheit gewesen ist. Leider gibt es auch unter den wahren Christen Formwesen genug. Ohne sich vorgegebener Formeln zu bedienen, bildet sich das Herz so gerne seine eigenen. Wir alle werden das mehr oder weniger erfahren haben.
So war es denn auch mit Israel bei Kades. Ihr Bekenntnis war wertlos, weil die Aufrichtigkeit mangelte. Hätten sie ein Empfinden darüber gehabt, was sie sagten, so hätten sie sich unter das Gericht Gottes gebeugt und demütig die Folgen ihrer Sünde auf sich genommen. Wirkliche Zerknirschung zeigt sich in demütiger Unterwerfung unter das Handeln Gottes in seinen Regierungswegen. Betrachten wir Mose. Er beugte sein Haupt unter die göttliche Zucht. „Auch gegen mich“, sagte er, „erzürnte der HERR euretwegen und sprach: Auch du sollst nicht hineinkommen! Josua, der Sohn Nuns, der vor dir steht, er soll hineinkommen; ihn stärke, denn er soll es Israel als Erbe austeilen“ (V. 37.38).
Obwohl Mose das Volk erinnert, dass es daran schuld war, dass er nicht in das Land kommen durfte, hören wir von ihm nicht ein einziges unzufriedenes Wort. Mose anerkennt Gottes Urteil. Nicht nur zufrieden damit, zurückgesetzt zu werden, ernennt und ermuntert er auch seinen Nachfolger, ohne jede Spur von Eifersucht und Neid. Es war genug für ihn, wenn Gott verherrlicht und das Volk gesegnet wurde. Es ging ihm nicht um sich und seine Interessen, sondern um die Verherrlichung Gottes.
Das Volk offenbarte eine völlig andere Gesinnung. „Wir wollen hinaufziehen und kämpfen“, sagten sie. Welch ein törichtes Vorhaben! Als Gott ihnen befohlen hatte, das Land in Besitz zu nehmen, fragten sie: „Wohin sollen wir hinaufziehen?“ Und als ihnen befohlen wurde, in die Wüste zurückzukehren, erwiderten sie: „Wir wollen hinaufziehen und kämpfen.“
„Und der HERR sprach zu mir: Sprich zu ihnen: Zieht nicht hinauf und kämpft nicht, denn ich bin nicht in eurer Mitte; dass ihr nicht von euren Feinden geschlagen werdet! Und ich redete zu euch, aber ihr hörtet nicht; und ihr wart widerspenstig gegen den Befehl des HERRN und handeltet vermessen und zogt in das Gebirge hinauf. Und die Amoriter, die auf jenem Gebirge wohnten, zogen aus, euch entgegen, und verfolgten euch, wie die Bienen tun, und zersprengten euch in Seir bis Horma“ (V. 42–44).
Der HERR konnte sie auf den Wegen des Eigenwillens und der Empörung nicht begleiten. Ohne die Gegenwart Gottes konnte sich Israel mit den Amoritern nicht messen. Wenn Gott mit und für uns ist, dann sind wir in allem Überwinder. Aber wir können nie auf Gott rechnen, wenn wir ungehorsam sind. Es ist Torheit zu glauben, Gott sei mit uns, wenn wir verkehrte Wege gehen. „Der Name des HERRN ist ein starker Turm; der Gerechte läuft dahin und ist in Sicherheit“ (Spr 18,10). Leben wir aber nicht in praktischer Gerechtigkeit, so ist es gottlos, zu sagen, dass wir Gott zu unserem starken Turm haben.
Praktische Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit des Herzens
Gott kann und will uns in unserer Schwachheit helfen, wenn nur ein aufrichtiges Bekenntnis unseres wirklichen Zustandes vorhanden ist. „Vertraue auf den HERRN und tu Gutes“ (Ps 37,3). Das ist die göttliche Ordnung. Aber von Vertrauen auf Gott reden, während wir Böses tun, heißt die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und liefert uns Satan aus, der uns zu verderben sucht. „Denn des HERRN Augen durchlaufen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist“ (2. Chr 16,9). Wenn wir ein gutes Gewissen haben, so können wir getrost durch alle Schwierigkeiten hindurchgehen; aber mit einem schlechten Gewissen den Weg des Glaubens betreten zu wollen, ist ein vergebliches Beginnen. Wir können nur dann den Schild des Glaubens hochhalten, wenn unsere Lenden mit dem Gurt der Wahrheit umgürtet sind und die Brust mit dem Brustharnisch der Gerechtigkeit bedeckt ist (vgl. Eph 6,14–16).
Lasst uns der praktischen Gerechtigkeit nachstreben. „Darum bemühe ich mich auch, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen“ (Apg 24,16). Der Apostel Paulus suchte immer den Brustharnisch zu tragen und in die weiße Leinwand gekleidet zu sein, die die Gerechtigkeit der Heiligen ist. Auch wir wollen danach trachten, Tag für Tag gehorsam zu sein. Auf diesem Weg können wir mit Gewissheit auf das Wohlgefallen und die Hilfe Gottes rechnen, uns auf ihn stützen und in ihm alle unsere Quellen finden. Das gibt unseren Herzen Frieden und führt uns zur Anbetung Gottes auf dem Weg zur himmlischen Heimat.
Wir können aber auch in unserer Schwachheit und in unseren Fehlern, auch wenn wir gesündigt haben, zu Gott emporblicken. Sein Ohr ist immer offen für unser Rufen. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9). Die göttliche Vergebung ist unbegrenzt, wie das Versöhnungswerk. Christus, der Sohn Gottes, hat sein Blut vergossen, und Er ist auch unser Sachwalter, unser großer Hoherpriester, der „völlig zu erretten vermag, die durch ihn Gott nahen“ (Heb 7,25).
Das sind Wahrheiten, die in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrt werden. Wir dürfen allerdings das Bekennen der Sünde und die darauf folgende Vergebung nicht mit der praktischen Gerechtigkeit vermengen. Es gibt zwei verschiedene Voraussetzungen, unter denen wir Gott anrufen können: Wir können ihn anrufen in tiefer Betrübnis oder mit einem guten Gewissen und einem Herzen, das uns nicht verurteilt. In beiden Fällen werden wir erhört. Diese beiden Voraussetzungen sind sehr verschieden voneinander. Sie stehen aber beide im Gegensatz zu einer Gleichgültigkeit und Härte des Herzens. Solche Gleichgültigkeit ist schrecklich in den Augen des Herrn und führt seine ernsten Gerichte herbei. Praktische Gerechtigkeit erkennt Gott an, und Sünde kann Er frei und völlig vergeben, wenn sie aufrichtig bekannt wird. Aber sich einzubilden, man setze sein Vertrauen auf Gott, während die Füße auf dem Weg der Ungerechtigkeit wandeln, ist Gottlosigkeit (vgl. Jer 7,4–10).
Gott wünscht „Wahrheit im Innern“ (Ps 51,8). Wenn die Menschen in ihrer Ungerechtigkeit auch noch behaupten, die Wahrheit zu besitzen, so müssen sie mit Gottes gerechtem Gericht rechnen. Die Schriftstelle aus dem Propheten Jeremia an die Männer von Juda und die Bewohner von Jerusalem kann auch auf die Christenheit angewendet werden. In 2. Timotheus 3 hören wir, dass all die Gräuel des Heidentums, wie sie am Ende von Römer 1 beschrieben werden, in den letzten Tagen unter dem Gewand eines christlichen Bekenntnisses und in Verbindung mit einer „Form der Gottseligkeit“ (2. Tim 3,5) erscheinen. Dieser Zustand bewirkt den Zorn Gottes. Die schwersten Gerichte werden das christliche Abendland treffen. Der Herr kommt bald, um sein geliebtes, durch sein Blut erkauftes Volk aus dieser finsteren und sündigen, obgleich „christlich“ genannten Welt wegzunehmen und es immer bei sich zu haben, in der Heimat der Liebe, die Er im Haus des Vaters bereitet hat. Dann sendet Gott eine „wirksame Kraft des Irrwahns“ (2. Thes 2,11) über die ganze Christenheit, über die Länder, in denen das Evangelium verbreitet worden ist.
Und was dann? Was folgt auf diese „wirksame Kraft des Irrwahns“? Irgendein neues Zeugnis der langmütigen Gnade Gottes? Aber nicht an die Christenheit, die die Gnade Gottes verworfen hat. Die Heiden werden das „ewige Evangelium“ hören und „das Evangelium des Reiches“, aber für die abgefallene Christenheit, „den Weinstock der Erde“, bleibt nichts anderes übrig als die Kelter des Zorns des Allmächtigen, nichts als die ewige Finsternis und der See, der mit Feuer und Schwefel brennt!
Das nutzlose Weinen
„Und ihr kehrtet zurück und weintet vor dem HERRN; aber der HERR hörte nicht auf eure Stimme und neigte sein Ohr nicht zu euch. – Und ihr bliebt in Kades viele Tage, nach den Tagen, die ihr bliebt“ (V. 45.46).
Ihre Tränen hatten ebenso wenig Wert wie ihre Worte. Ihrem Weinen war ebenso wenig Vertrauen zu schenken wie ihrem Bekenntnis. Man kann in der Gegenwart Gottes bekennen und Tränen vergießen, ohne ein wirkliches Empfinden über die Sünde zu haben. Im Grunde ist das nichts anderes als eine Verspottung Gottes. Gott hat Wohlgefallen an einem Herzen, das in Wahrheit gebrochen ist. In einem solchen Herzen will Er wohnen. „Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten“ (Ps 51,19). Die aus einem bußfertigen Herzen kommenden Tränen sind Gott wohlgefällig, weil sie beweisen, dass in einem solchen Herzen Raum für ihn ist. Das ist es, was Er sucht. Er möchte in unseren Herzen wohnen und uns mit der tiefen, unaussprechlichen Freude seiner gesegneten Gegenwart erfüllen.
Israels Bekenntnis und seine Tränen in Kades waren nicht aufrichtig, und deshalb konnte der Herr sie nicht annehmen. So blieb dem Volk Israel nichts anderes übrig, als in die Wüste zurückzukehren und vierzig Jahre lang dort herumzuwandern. Es musste die Folgen seines Unglaubens tragen. Wollte es nicht in das Land hinaufziehen, so musste es in der Wüste fallen. Wie ernst ist das, was der Heilige Geist im Brief an die Hebräer hierüber sagt! Mit welcher Eindringlichkeit wenden diese Worte sich auch an uns! „Deshalb, wie der Heilige Geist spricht: Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht, wie in der Erbitterung, an dem Tag der Versuchung in der Wüste, wo eure Väter mich versuchten, indem sie mich prüften, und sie sahen doch meine Werke vierzig Jahre. Deshalb zürnte ich diesem Geschlecht und sprach: Allezeit gehen sie irre mit dem Herzen; aber sie haben meine Wege nicht erkannt. So schwor ich in meinem Zorn: Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden! Gebt Acht, Brüder, dass nicht etwa in jemand von euch ein böses Herz des Unglaubens sei in dem Abfallen von dem lebendigen Gott … Und wir sehen, dass sie nicht eingehen konnten wegen des Unglaubens … Denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, wie auch jenen; aber das Wort der Verkündigung nützte jenen nicht, weil es bei denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben verbunden war“ (Heb 3,7–12.19; 4,2).
Unglaube und Glaube
Hier, wie überall in der Heiligen Schrift, sehen wir, dass es vor allem der Unglaube ist, der Gott betrübt und seinen Namen verunehrt. Daneben beraubt der Unglaube uns auch der Segnungen und Vorrechte, die Gott uns geben will. Wir verstehen oft wenig, wie viel wir in jeder Beziehung durch unseren Unglauben verlieren. Der Unglaube macht uns unbrauchbar, während wir stark und nützlich für Gott sein könnten. Das Werk des Herrn wird gehindert. Wir lesen in den Evangelien, dass der Herr an einem Ort nicht viele Wunder tun konnte wegen ihres Unglaubens. Ist das keine Mahnung für uns?
Lasst uns einen Blick auf die ergreifende Szene in Markus 2,1–12 werfen. Hier sehen wir die Macht des Glaubens in Verbindung mit dem Werk des Herrn. Der Glaube dieser vier Männer erquickte den Herrn. Der Kranke fand Heilung und Vergebung. Das war eine Gelegenheit zur Entfaltung der Macht Gottes und der erhabenen Wahrheit, dass Gott in der Person Jesu von Nazareth auf der Erde war, Krankheiten heilte und Sünden vergab.
Die ganze Schrift bestätigt, dass der Unglaube uns den Segen raubt, unsere Nützlichkeit hindert und uns das Vorrecht nimmt, Gottes Werkzeuge bei der Ausführung seines herrlichen Werkes zu sein. Wir können dann auch nicht das Wirken des Geistes erkennen. Der Glaube zieht Kraft und Segen auf uns und andere um uns her herab. Er verherrlicht und erfreut Gott, indem er das Geschöpf an seinen Platz stellt und so Raum schafft für die Entfaltung der Macht Gottes. Unbegrenzt sind die Segnungen, die wir aus der Hand Gottes empfangen, wenn Herzen beherrscht werden von dem einfachen Glauben, der immer mit Gott rechnet. Gott ehrt einen solchen Glauben. „Euch geschehe nach eurem Glauben“ (Mt 9,29). Ermutigen diese Worte uns nicht, tiefer in dem unausforschlichen Reichtum zu graben, den wir in Gott haben? Es erfreut ihn, wenn wir das tun. Wir können nie zu viel von dem Gott aller Gnade erwarten, der uns seinen eigenen Sohn gegeben hat und uns mit ihm alles schenken will (Röm 8,32).
Doch Israel traute es Gott nicht zu, dass Er sie in das verheißene Land bringen würde. Das Volk versuchte in eigener Kraft hinaufzuziehen. Die Folge dieser Vermessenheit war, dass es vor seinen Feinden fliehen musste. Vermessenheit und Glaube sind einander völlig entgegengesetzt. Während die Vermessenheit nur in Niederlage und Unglück enden kann, führt der Glaube stets zum Sieg.
Fußnoten
- 1 Die Reise der Kinder Israel vom Horeb bis Kades-Barnea ist ein treffendes Bild von der Geschichte vieler auf dem Weg zum Frieden. Viele Kinder Gottes leben jahrelang in Zweifel und Furcht, ohne die Freiheit zu kennen, mit der Christus sein Volk freigemacht hat. Es ist betrübend für jeden, der wirklich um solche Menschen besorgt ist, den schlechten und krankhaften Zustand zu sehen, in dem so manche Gläubige ihr Leben lang bleiben. Es wird oft sogar als ein Zeichen echter Demut angesehen, ständig im Zweifel zu sein. Ein sicheres Wissen wird als Anmaßung verurteilt. Das Evangelium ist diesen Menschen unbekannt; sie stehen unter Gesetz anstatt unter der Gnade. Sie werden ferngehalten und nicht aufgefordert, nahe zu kommen (s. Heb 10,19-22).