Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Die Zufluchtsstädte

Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Die Städte der Leviten

Die ersten Zeilen dieses interessanten Kapitels zeigen uns die gnädige Vorsorge, die der HERR für seine Knechte, die Leviten, traf. Jeder der Stämme Israels hatte das Recht – um nicht zu sagen: die Pflicht –, je nach Vermögen den Leviten eine gewisse Anzahl von Städten mit deren Bezirken zu geben. „Alle Städte, die ihr den Leviten geben sollt, sie und ihre Bezirke, sollen 48 Städte sein. Und was die Städte betrifft, die ihr vom Eigentum der Kinder Israel geben sollt – von dem Stamm, der viel hat, sollt ihr viel nehmen, und von dem, der wenig hat, sollt ihr wenig nehmen; jeder Stamm soll entsprechend seinem Erbteil, das er erben wird, von seinen Städten den Leviten geben“ (V. 7.8).

Die Diener des HERRN waren hinsichtlich dessen, was sie erhielten, gänzlich von dem HERRN abhängig. Sie hatten weder Erbteil noch Besitz, außer in Gott selbst. Was für ein gesegnetes Erbe und was für ein kostbares Teil! Nach dem Urteil des Glaubens kommt ihm nichts gleich. Glückselig alle, die in Wahrheit zu dem Herrn sagen können: „Du bist das Teil meines Erbes und meines Bechers“ (Ps 16,5)! Gott sorgte für seine Diener und erlaubte der ganzen Gemeinde Israel, seine Mitarbeiter zu sein bei der Versorgung derjenigen, die sich selbst willig seinem Dienst geweiht und alles andere verlassen hatten.

Sechs Zufluchtsstädte

So sehen wir denn, dass in den zwölf Stämmen Israels 48 Städte mit ihren Bezirken den Leviten übergeben werden sollten, und diese wiederum hatten das Vorrecht, aus dieser Zahl sechs Städte zu Zufluchtsstädten für den Totschläger auszuwählen.

Von den Zufluchtsstädten lagen drei auf der Ostseite und drei auf der Westseite des Jordans. Mochten Ruben und Gad recht oder unrecht tun, indem sie sich ostwärts von dieser wichtigen Grenzlinie niederließen, Gott wollte in seiner Gnade den Totschläger nicht ohne eine Zufluchtsstadt vor dem Bluträcher lassen. So ordnete Er in seiner Liebe an, dass diese Städte auch ihrer Lage nach dem Schutzbedürfnis des Totschlägers entsprachen. In jedem Fall lag eine Stadt im Bereich desjenigen, der dem Schwert des Rächers ausgesetzt sein mochte. Das war unseres Gottes würdig. Wenn es vorkam, dass ein Totschläger in die Hände des Bluträchers fiel, so war es nicht deshalb, weil ein naher Zufluchtsort fehlte, sondern weil der Totschläger nicht in den Zufluchtsort geflohen war. Alle erforderlichen Vorkehrungen waren getroffen. Die Städte waren benannt, genau bestimmt und öffentlich bekannt. Alles war so klar, so einfach und so leicht wie möglich gemacht. Es waren die gnädigen Wege Gottes.

Zweifellos war der Totschläger dafür verantwortlich, seine ganze Kraft einzusetzen, um den geheiligten Bezirk zu erreichen, und sicher tat er es auch. Es wäre wohl niemand so blind und töricht gewesen, gleichgültig zu sagen: „Wenn es mein Los ist zu entrinnen, so werde ich entrinnen, und daher ist meine Anstrengung zwecklos. Und wenn es mein Los ist, nicht zu entrinnen, so kann ich nicht entrinnen, mag ich mich auch noch so sehr anstrengen.“ Man kann sich nicht vorstellen, dass ein Totschläger so dumm geredet haben sollte. Er wusste ganz gut, dass, wenn es dem Bluträcher gelang, ihn zu ergreifen, alle solche Überlegungen völlig wertlos sein würden. Es gab für ihn nur eins: um seines Lebens willen zu eilen, um dem drohenden Gericht zu entfliehen und hinter den Toren der Zufluchtsstadt einen sicheren Aufenthaltsort zu finden. Wenn er dort angelangt war, konnte er frei aufatmen. Kein Übel konnte ihn dort mehr erreichen. In dem Augenblick, in dem er das Tor passiert hatte, war er so sicher, wie die Vorsorge Gottes ihn nur machen konnte. Hätte ihm innerhalb der Grenzen der Stadt ein Haar gekrümmt werden können, so wäre das für die Einrichtung Gottes eine Unehre und eine Schmach gewesen. Wohl hatte er sich sehr in Acht zu nehmen. Er durfte es nicht wagen, vor das Tor zu gehen. Innerhalb der Stadt war er in vollkommener Sicherheit; außerhalb war er dem Bluträcher schutzlos preisgegeben. Er durfte selbst seine Freunde nicht besuchen. Er war aus dem Haus seines Vaters verbannt. Er war ein „Gefangener auf Hoffnung“. Abwesend von der Heimat, wohin ihn sein Herz zog, wartete er auf den Tod des Hohenpriesters. Dieser Tod würde ihn vollkommen frei machen, ihn wieder in sein Erbe einsetzen und zu seinem Volk zurückführen.

Israel des Totschlags schuldig

Diese schöne Einrichtung hat in besonderer Weise Bezug auf Israel. Die Juden haben den Fürsten des Lebens getötet. Betrachtet Gott sie nun als Mörder oder als Totschläger? Im ersten Fall gibt es keine Zuflucht und keine Hoffnung. Kein Mörder konnte in der Zufluchtsstadt Schutz finden. Das Gesetz für den Totschläger, wie wir es in Josua 20 finden, lautet: „Und der HERR redete zu Josua und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich: Bestimmt euch die Zufluchtsstädte, von denen ich durch Mose zu euch geredet habe, dass dahin fliehe ein Totschläger, der jemand aus Versehen, unabsichtlich, erschlagen hat; und sie seien euch zur Zuflucht vor dem Bluträcher. Und er soll in eine von diesen Städten fliehen, und am Eingang des Stadttores stehen und vor den Ohren der Ältesten jener Stadt seine Sache vorbringen; und sie sollen ihn zu sich in die Stadt aufnehmen und ihm einen Ort geben, damit er bei ihnen wohne. Und wenn der Bluträcher ihm nachjagt, so sollen sie den Totschläger nicht in seine Hand ausliefern; denn er hat seinen Nächsten unabsichtlich erschlagen, und er hasste ihn vordem nicht. Und er soll in jener Stadt wohnen, bis er vor der Gemeinde zu Gericht gestanden hat, bis zum Tod des Hohenpriesters, der in jenen Tagen sein wird; dann mag der Totschläger zurückkehren und in seine Stadt und in sein Haus kommen, in die Stadt, aus der er geflohen ist“ (V. 1–6). Aber hinsichtlich eines Mörders war das Gesetz streng und unbeugsam. Er sollte unbedingt getötet werden, und zwar sollte der Bluträcher ihn töten; „wenn er ihn antrifft, soll er ihn töten“ (vgl. 4. Mose 35,18.19).

Israel wird der wunderbaren Gnade Gottes nach als ein Totschläger und nicht als ein Mörder behandelt werden. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ (Lk 23,34). Diese Worte stiegen zu dem Gott Israels empor. Sie wurden gehört und erhört. Doch dürfen wir nicht meinen, dass die Erhörung am Pfingsttag aufhörte. Nein, sie gilt noch, und ihre Wirkungskraft wird sich in der zukünftigen Geschichte des Hauses Israel erweisen.

Sie sind jetzt aus dem Land und der Heimat ihrer Väter verbannt.1 Doch die Zeit kommt, in der sie wieder ganz in ihr Land gebracht sein werden, nicht durch den Tod des Hohenpriesters – Er kann nie mehr sterben –, sondern dadurch, dass Er seine gegenwärtige Stellung verlassen und sich in einem neuen Charakter als der königliche Priester darstellen wird, um sich auf seinen Thron zu setzen. Dann werden alle Verbannten in ihre Heimat und in ihr Erbteil zurückkehren. Der Totschläger muss bis zur festgesetzten Zeit außerhalb seines Besitzes bleiben. Doch soll er nicht als Mörder behandelt werden, weil er unwissend gehandelt hat. „Mir ist Barmherzigkeit zuteilgeworden“, sagt der Apostel Paulus, indem er als ein Vorbild Israels spricht, „weil ich es unwissend im Unglauben tat“ (1. Tim 1,13). „Und jetzt, Brüder“, sagt Petrus, „ich weiß, dass ihr in Unwissenheit gehandelt habt, so wie auch eure Obersten“ (Apg 3,17).

Diese Stellen, zusammen mit der wichtigen Fürbitte dessen, der geschlagen wurde, stellen Israel klar auf den Boden des Totschlägers und nicht auf den des Mörders. Gott hat für sein geliebtes Volk eine Zufluchtstätte bereitet, und zu seiner Zeit wird das ganze Volk in seine lange verlorenen Wohnungen zurückkehren, in das Land, das der HERR seinem Freund Abraham für immer als Geschenk gegeben hat.

Anwendung auf den Sünder

Das ist wohl die Erklärung der Verordnung über die Zufluchtsstädte. Wollten wir sie auf einen Sünder anwenden, der seine Zuflucht zu Christus nimmt, so könnte das nur begrenzt geschehen, denn wir würden überall mehr Widerspruch als Übereinstimmung finden. Erstens war der Totschläger in der Zufluchtsstadt nicht vom Gericht befreit, wie wir in Josua 20,6 sehen, während für den, der an Christus glaubt, kein Gericht mehr ist noch sein kann, weil Christus an seiner statt das Gericht getragen hat. Ferner konnte der Totschläger immer noch in die Hände des Rächers fallen, wenn er es wagte, die Stadt zu verlassen. Derjenige aber, der an Jesus glaubt, kann nie mehr umkommen. Er ist so sicher wie der Erlöser selbst. Für den Totschläger endlich handelt es sich um zeitliche Sicherheit und um ein Leben in dieser Welt. Für den an Jesus Glaubenden dagegen handelt es sich um eine ewige Errettung und um ewiges Leben in der zukünftigen Welt. So sehen wir also, dass fast in allen Einzelheiten mehr Widerspruch da ist als Ähnlichkeit.

Folgendes ist jedoch beiden gemein: Die Tatsache, dass beide, der Totschläger und der Sünder, einer schrecklichen Gefahr ausgesetzt sind, und das dringende Bedürfnis nach einer Zuflucht. Der Totschläger hätte eine große Torheit begangen, wenn er nicht mit allen Mitteln versucht hätte, die Zufluchtsstadt so schnell wie möglich zu erreichen; und es ist eine noch unglaublichere Torheit, wenn der Sünder wartet oder zögert, zu Christus zu kommen. Dem Rächer gelang es vielleicht nicht, den Totschläger zu ergreifen, wenn er die rettende Stadt noch nicht erreicht hatte; aber der Sünder ist außerhalb von Christus dem Gericht unweigerlich verfallen. Es gibt keine Möglichkeit zu entrinnen. Was für ein ernster Gedanke! Möchte er in seiner ganzen Tragweite das Herz des Lesers treffen, der noch in seinen Sünden dahingeht! Möchte dieser Leser keinen Augenblick Ruhe finden, bis er in eine Zufluchtsstadt geflohen ist, bis er die Hoffnung ergriffen hat, die ihm im Evangelium angeboten wird! Das Gericht droht – ein sicheres, gewisses und ernstes Gericht. Es muss auf alle kommen, die ohne Christus sind.

Wenn du noch unbekehrt und sorglos bist und dieses Buch in deine Hände fallen sollte, dann höre die warnende Stimme! Fliehe um deines Lebens willen! Zögern ist die größte Torheit. Du kennst die Stunde nicht, in der dein Leben zu Ende ist und du dahin kommst, wo kein Hoffnungsstrahl dich erreichen kann, an den Platz ewiger Nacht und ewiger Qual, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt. Komm jetzt, so wie du bist, zu Jesus, der mit offenen Armen und liebendem Herzen bereitsteht, dich aufzunehmen, zu schützen, zu erretten und zu segnen nach der ganzen Liebe seines Herzens und der vollkommenen Wirksamkeit seines Namens und seines Opfers. Möge Gott, der ewige Geist, durch seine unendliche Kraft dich leiten, jetzt zu kommen! „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen“, sagt der liebende Herr und Heiland, „und ich werde euch Ruhe geben!“ (Mt 11,28).

Fußnoten

  • 1 C.H. Mackintosh lebte im 19. Jahrhundert! (Anm. d. Herausg.)
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