Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Die Töchter Zelophchads

Betrachtungen über das vierte Buch Mose

Gott antwortet auf Glauben

Das Betragen der Töchter Zelophchads, worüber uns der Anfang dieses Kapitels berichtet, steht in einem auffallenden und schönen Gegensatz zu dem Unglauben, den wir soeben gesehen haben. Diese Frauen gehörten jedenfalls nicht zu denen, die immer bereit sind, den göttlichen Boden zu verlassen, den göttlichen Maßstab herabzusetzen und auf Vorrechte zu verzichten, die die göttliche Gnade gegeben hat. Sie waren durch die Gnade entschlossen, mit heiliger und kühner Entschiedenheit von dem Besitz zu ergreifen, was Gott gegeben hatte. Wir lesen:

„Und die Töchter Zelophchads, des Sohnes Hephers, des Sohnes Gileads, des Sohnes Makirs, des Sohnes Manasses, von den Familien Manasses, des Sohnes Josephs, traten herzu; und dies waren die Namen seiner Töchter: Machla, Noa und Chogla und Milka und Tirza. Und sie traten vor Mose und vor Eleasar, den Priester, und vor die Fürsten und die ganze Gemeinde an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft und sprachen: Unser Vater ist in der Wüste gestorben; er war aber nicht unter der Rotte derer, die sich in der Rotte Korahs gegen den HERRN zusammenrotteten, sondern er ist in seiner Sünde gestorben; und er hatte keine Söhne. Warum soll der Name unseres Vaters abgeschnitten werden aus der Mitte seiner Familie, weil er keinen Sohn hat? Gib uns ein Eigentum unter den Brüdern unseres Vaters!“ (V. 1–4)

Wie außerordentlich schön ist das! Es ist gut, solche Worte zu lesen in einer Zeit wie der unsrigen, in der die wahre Stellung und das Teil des Volkes Gottes so gering gemacht werden und wo so viele sich damit begnügen, jahraus und jahrein dahinzuleben, ohne nach den Dingen zu fragen, die ihnen von Gott so freigebig geschenkt sind. Es ist traurig, die Nachlässigkeit und die völlige Gleichgültigkeit zu sehen, mit der viele Gläubige so große und wichtige Fragen wie die der Stellung, des praktischen Lebens und der Hoffnung sowohl des Gläubigen als auch der Versammlung Gottes behandeln. Wir sündigen gegen die reiche Gnade, die uns geschenkt ist und verunehren zugleich den Herrn, wenn wir nur einen Punkt der göttlichen Offenbarungen über die Stellung und das Teil der Versammlung Gottes oder des einzelnen Gläubigen gleichgültig hinnehmen. Wenn es Gott in seiner großen Gnade gefallen hat, uns als Christen wertvolle Vorrechte zu geben, sollten wir dann nicht mit allem Ernst danach streben, diese Vorrechte kennen zu lernen? Sollten wir nicht suchen, sie uns in einfachem Glauben anzueignen? Behandeln wir unseren Gott und seine Offenbarung auf würdige Weise, wenn es uns gleichgültig ist, ob wir Knechte oder Söhne sind, ob der Heilige Geist in uns wohnt oder nicht, ob wir uns unter dem Gesetz oder unter der Gnade befinden, ob unsere Berufung eine himmlische oder eine irdische ist?

Sicher nicht. Wenn etwas klar und bestimmt in der Schrift gelehrt wird, so ist es dies, dass Gott sein Wohlgefallen an denen hat, die die Vorsorge seiner Liebe schätzen und genießen, die ihre Freude in ihm selbst finden. Wir sehen hier diese Töchter Josephs (so können wir sie nennen) ohne Vater – hilflos und verlassen, wenn man sie vom Standpunkt der Natur aus betrachtet. Der Tod hatte das sichtbare Band zerschnitten, das sie mit dem Erbteil des Volkes Gottes verknüpfte. Was nun? Begnügten sie sich damit, es aufzugeben? War es ihnen gleichgültig, ob sie mit dem Israel Gottes einen Platz und ein Teil haben sollten? Nein, diese hervorragenden Frauen offenbaren etwas, das wir uns sehr gut ansehen und das wir nachzuahmen versuchen sollten; etwas, das – wie wir wohl sagen dürfen – das Herz Gottes erquickte. Sie waren überzeugt, dass es im Land der Verheißung für sie ein Teil geben würde, das ihnen weder der Tod noch irgendetwas, was in der Wüste geschehen war, jemals rauben konnte. „Warum soll der Name unseres Vaters abgeschnitten werden aus der Mitte seiner Familie, weil er keinen Sohn hat?“ Konnten Tod und das Fehlen männlicher Nachkommen, konnte irgendetwas die Güte Gottes aufheben? Unmöglich! „Gib uns ein Eigentum unter den Brüdern unseres Vaters.“

Was für schöne Worte – Worte, die unmittelbar zu dem Thron und dem Herzen des Gottes Israels emporstiegen! Sie waren ein mächtiges Zeugnis, das vor den Ohren der ganzen Gemeinde abgelegt wurde. Mose war verblüfft. Hier war etwas, was über den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers hinausging. Mose war ein Knecht, und zwar ein gesegneter und geehrter Knecht. Aber im Verlauf dieses wunderbaren Buches der Wüste erheben sich immer wieder Fragen, die er nicht beantworten kann, z. B. bei den Verunreinigten in Kapitel 9 und hier bei den Töchtern Zelophchads.

„Und Mose brachte ihre Rechtssache vor den HERRN. Und der HERR redete zu Mose und sprach: Die Töchter Zelophchads reden recht; du sollst ihnen tatsächlich ein Erbteil unter den Brüdern ihres Vaters geben und sollst das Erbteil ihres Vaters auf sie übergehen lassen“ (V. 5–7).

Das war ein herrlicher Sieg in der Gegenwart der ganzen Gemeinde. Ein kühner und einfacher Glaube kann immer sicher sein, dass er belohnt wird. Er verherrlicht Gott, und Gott ehrt ihn. In der ganzen Heiligen Schrift, im Alten und Neuen Testament, begegnen wir überall derselben Wahrheit, dass Gott an einem kühnen und einfachen Glauben sein Wohlgefallen hat, an einem Glauben, der alles das, was Gott gegeben hat, ergreift und festhält, der sich entschieden weigert, selbst angesichts der Schwachheit der Natur und des Todes den geringsten Teil des von Gott verliehenen Erbteils aufzugeben. Obwohl die Gebeine Zelophchads im Staub der Wüste lagen, obwohl keine männlichen Nachkommen vorhanden waren, um seinen Namen zu erhalten, konnte sich dennoch der Glaube über alles das erheben und mit der Treue des HERRN rechnen, dass Er alles das erfüllen würde, was Er verheißen hatte.

„Die Töchter Zelophchads reden recht.“ Sie tun es immer. Ihre Worte sind Worte des Glaubens, und als solche sind sie nach dem Urteil Gottes immer recht. Es ist etwas Schreckliches, dem „Heiligen Israels“ Schranken zu setzen. Er hat Gefallen daran, wenn man ihm vertraut und ihn handeln lässt. Es ist völlig unmöglich, dass der Glaube zu hohe Anforderungen an Gott stellen könnte. Gott kann den Glaubenden ebenso wenig enttäuschen, wie Er sich selbst verleugnen kann. Er kann dem Glaubenden nie antworten: „Du hast dich verrechnet. Du hast einen zu hohen und zu kühnen Standpunkt. Steige herab und verringere deine Erwartungen.“ Nein, das Einzige, was in dieser Welt das Herz Gottes wirklich erfreut, ist der Glaube, der einfach auf ihn vertraut.

Und wir dürfen sicher sein, dass der Glaube, der ihm zu vertrauen vermag, auch zugleich der Glaube ist, der ihn lieben, ihm dienen und ihn preisen kann.

Wir sind darum den Töchtern Zelophchads sehr zu Dank verpflichtet. Sie geben uns eine Belehrung von unschätzbarem Wert. Außerdem gab ihre Handlungsweise Anlass zur Enthüllung einer neuen Wahrheit, die die Grundlage einer göttlichen Regelung für alle späteren Generationen bilden sollte. Der HERR befahl Mose „und sprach: Wenn ein Mann stirbt und keinen Sohn hat, so sollt ihr sein Erbteil auf seine Tochter übergehen lassen“ (V. 8).

Das Erbteil soll nicht von Stamm zu Stamm übergehen

Hier wird hinsichtlich des Erbrechts ein Grundsatz aufgestellt, von dem wir, menschlich gesprochen, ohne den Glauben und das entsprechende Verhalten dieser bemerkenswerten Frauen nichts erfahren hätten. Wären sie zaghaft und ungläubig gewesen und hätten sie sich gescheut, vor die ganze Gemeinde hinzutreten und die Rechte des Glaubens in Anspruch zu nehmen, dann hätten nicht nur sie ihr eigenes Erbteil und ihren Segen verloren, sondern alle verwaisten Töchter Israels in späteren Tagen ebenfalls. So aber bewahrten sie ihr Erbteil, empfingen den Segen, erhielten ein Zeugnis von Gott und ihre Namen erscheinen auf den Blättern der Heiligen Schrift. Ihr Verhalten gab Anlass zu einer göttlichen Verordnung, die für alle künftigen Geschlechter maßgebend war.

Wir müssen uns jedoch daran erinnern, dass andererseits eine Gefahr gerade aus der Würde und Erhabenheit erwächst, die der Glaube denen verleiht, die durch die Gnade fähig sind, ihn auszuleben. Gegen diese Gefahr müssen wir sorgfältig auf der Hut sein. Das zeigt sich treffend in der ferneren Geschichte der Töchter Zelophchads, wie sie uns im letzten Kapitel unseres Buches erzählt wird. „Und die Häupter der Väter vom Geschlecht der Söhne Gileads, des Sohnes Makirs, des Sohnes Manasses, aus den Familien der Söhne Josephs, traten herzu; und sie redeten vor Mose und vor den Fürsten, den Häuptern der Väter der Kinder Israel, und sprachen: Der HERR hat meinem Herrn geboten, den Kindern Israel das Land durch das Los als Erbteil zu geben; und meinem Herrn ist von dem HERRN geboten worden, das Erbteil Zelophchads, unseres Bruders, seinen Töchtern zu geben. Werden sie nun einem von den Söhnen der anderen Stämme der Kinder Israel zu Frauen, so wird ihr Erbteil dem Erbteil unserer Väter entzogen und zu dem Erbteil des Stammes hinzugefügt werden, dem sie angehören werden; und dem Los unseres Erbteils wird es entzogen werden. Und auch wenn das Jubel-Jahr der Kinder Israel kommt, wird ihr Erbteil zum Erbteil des Stammes hinzugefügt werden, dem sie angehören werden; und ihr Erbteil wird dem Erbteil des Stammes unserer Väter entzogen werden. Da gebot Mose den Kindern Israel nach dem Befehl des HERRN und sprach: Der Stamm der Kinder Joseph redet recht“ (Kap. 36,1–5).

Die „Väter“ des Hauses Joseph müssen ebenso gehört werden wie die „Töchter“. Der Glaube der Letzteren war sehr schön, aber gerade in dem bevorzugten Platz, zu dem ihr Glaube sie erhoben hatte, lag die Gefahr für sie, die Rechte anderer zu vergessen und die Grenzen zu versetzen, die das Erbteil ihrer Väter sicherten. Das durfte nicht sein. So war es weise von den Vätern, für den Fall einer Heirat der Töchter Zelophchads mit Männern aus einem anderen Stamm Vorsorge zu treffen. Wir brauchen Bewahrung in jeder Hinsicht, damit der Glaube unverletzt und das Zeugnis rein erhalten bleibt. Wir sollen nicht die Dinge mit erhobener Hand und starkem Willen durchsetzen wollen – mag auch unser Glaube noch so stark sein –, sondern wir sollen immer bereit sein, uns der korrigierenden Macht der ganzen Wahrheit Gottes zu überlassen.

„Dies ist das Wort, das der HERR betreffs der Töchter Zelophchads geboten hat, indem er sprach: Sie mögen dem, der in ihren Augen gut ist, zu Frauen werden; nur sollen sie einem aus dem Geschlecht des Stammes ihres Vaters zu Frauen werden, damit nicht ein Erbteil der Kinder Israel von Stamm zu Stamm übergeht; denn die Kinder Israel sollen ein jeder dem Erbteil des Stammes seiner Väter festhalten“ (Kap. 36,6.7).

„So wie der HERR Mose geboten hatte, so taten die Töchter Zelophchads. Und Machla, Tirza und Chogla und Milka und Noa, die Töchter Zelophchads, wurden den Söhnen ihrer Onkel zu Frauen. Männern aus den Familien der Kinder Manasse, des Sohnes Josephs, wurden sie zu Frauen. Und so verblieb ihr Erbteil bei dem Stamm der Familie ihres Vaters“ (Kap. 36,10–12).

So ist alles geordnet. Das Wirken des Glaubens wird von der Wahrheit Gottes geleitet, und persönliche Rechte werden mit den Interessen aller in Übereinstimmung gebracht. Zugleich wird der Ehre Gottes so vollkommen entsprochen, dass für die Zeit des Jubeljahres eine Verwirrung in den Grenzen Israels ausgeschlossen und die Unversehrtheit des Erbteils gemäß der göttlichen Anordnung gesichert ist.

Mose kurz vor seinem Tod

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels ist ernst. Die Wege der Regierung Gottes werden in einer Weise gezeigt, die uns tief beeindruckt. „Und der HERR sprach zu Mose: Steige auf dieses Gebirge Abarim und sieh das Land, das ich den Kindern Israel gegeben habe. Und hast du es gesehen, so wirst auch du zu deinen Völkern versammelt werden, so wie dein Bruder Aaron versammelt worden ist; weil ihr in der Wüste Zin, beim Hadern der Gemeinde, widerspenstig gewesen seid gegen meinen Befehl, mich durch das Wasser vor ihren Augen zu heiligen“ (V. 12–14).

Mose darf nicht über den Jordan gehen. Es ist nicht nur so, dass nicht er das Volk offiziell hinüberführen kann, sondern auch er selbst darf nicht gehen. Das war der Regierungsbeschluss Gottes. Aber andererseits sehen wir die Gnade in ungewöhnlichem Glanz strahlen in der Tatsache, dass Mose von Gottes eigener Hand auf den Gipfel des Pisga geführt wird. Von dort aus sieht er das Land der Verheißung in seiner ganzen Pracht, nicht nur so, wie Israel es nachher besaß, sondern so, wie Gott es ursprünglich gegeben hatte.

Das war die Frucht der Gnade, die sich noch deutlicher am Schluss des fünften Buches Mose zeigt. Dort wird uns zugleich erzählt, dass Gott seinen Knecht begrub. Ist das nicht wunderbar? Es gibt wirklich nichts Vergleichbares in der Geschichte der Heiligen Gottes. Mose hatte mit seinen Lippen unbedacht geredet, und deshalb durfte er nicht den Jordan überschreiten. Das war Gott in seiner Regierung. Aber dann wurde er auf den Pisga hinaufgeführt, um dort in Gemeinschaft mit dem HERRN das ganze Erbteil zu sehen. Und schließlich machte der HERR ein Grab für seinen Knecht und begrub ihn darin. Das war Gott in Gnade, in dieser wunderbaren, unvergleichlichen Gnade, die immer „aus dem Fresser Fraß und aus dem Starken Süßigkeit“ (Ri 14,14) kommen lässt. Wie herrlich ist es, Gegenstand einer solchen Gnade zu sein!

Wir schließen diesen Abschnitt mit einem kurzen Hinweis auf die schöne Uneigennützigkeit Moses bei der Bestimmung seines Nachfolgers. Dieser gesegnete Mann Gottes zeichnete sich immer aus durch einen Geist der Uneigennützigkeit, diese seltene und bewundernswerte Gnade. Wir sehen ihn nie seine eigenen Interessen suchen; im Gegenteil, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, seinen eigenen Ruf und sein Glück zu suchen, zeigte er wieder und wieder, dass die Ehre Gottes und das Wohl seines Volkes sein Herz so sehr ausfüllten, dass für persönliche Rücksichten kein Raum blieb.

So ist es auch in diesem Abschnitt unseres Kapitels. Als Mose hörte, dass er nicht über den Jordan gehen soll, bewegen ihn nicht Trauer und Schmerz, sondern er denkt einzig und allein an die Interessen der Gemeinde. „Und Mose redete zu dem HERRN und sprach: Der HERR, der Gott der Geister allen Fleisches, bestelle einen Mann über die Gemeinde, der vor ihnen her aus- und einzieht, und der sie aus- und einführt, damit die Gemeinde des HERRN nicht sei wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (V. 15–17).

Was für uneigennützige Worte sind das! Wie wertvoll müssen sie für das Herz Gottes gewesen sein, der sein Volk so sehr liebte und so unermüdlich umsorgte! Wenn nur dem entsprochen war, was Israel brauchte, war Mose zufrieden. Wenn nur das Werk ausgeführt wurde – ihm lag nichts daran, wer es tat. Im Blick auf seine Person, seine Interessen und seine Bestimmung konnte er ruhig alles der Hand Gottes überlassen. Er wusste, dass Gott für ihn sorgen würde; aber er ist wegen des geliebten Volkes Gottes bewegt. In demselben Augenblick, als er Josua als dessen Führer eingesetzt sieht, ist er bereit, Abschied zu nehmen und ewig auszuruhen. Gesegneter Knecht! Glücklicher Mann! Möchte es doch unter uns nur einige wenige geben, die sich in geringem Maß durch diesen vortrefflichen Geist der Selbstverleugnung und der eifersüchtigen Sorge für die Ehre Gottes und das Wohl seines Volkes auszeichnen! Aber müssen wir nicht mit immer stärkerem Nachdruck die Worte des Apostels wiederholen: „Alle suchen das Ihre, nicht das, was Jesu Christi ist“ (Phil 2,21)? Möchten wir doch die Wahrheit lernen, nicht uns selbst, sondern dem zu leben, der für uns gestorben ist, der unserer Sünden wegen vom Himmel auf diese Erde gekommen und von der Erde in den Himmel zurückgegangen ist, wo Er sich mit unseren Schwachheiten beschäftigt, und der bald wiederkommen wird zu unserem ewigen Heil und zu unserer immerwährenden Herrlichkeit!

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