Betrachtungen über das vierte Buch Mose
Die letzte Etappe der Wüstenreise
Der Tod Mirjams
„Und die Kinder Israel, die ganze Gemeinde, kamen in die Wüste Zin, im ersten Monat; und das Volk blieb in Kades; und Mirjam starb dort und wurde dort begraben“ (V. 1).
Das 20. Kapitel gibt uns einen bemerkenswerten Bericht von dem Leben in der Wüste und den Erfahrungen dort. Es zeigt uns, wie Mose, der Knecht Gottes, einige der für ihn traurigsten Ereignisse durchlebt. Zuerst stirbt Mirjam. Die, die damals am Ufer des Roten Meeres ein Siegeslied angestimmt hatte, verlässt diesen Schauplatz, und ihre sterbliche Hülle wird in der Wüste Kades beigesetzt. Ihr Tamburin ist beiseitegelegt, die Stimme des Gesanges ist verstummt im Schweigen des Todes. Mirjam kann nicht mehr den Reigen führen. Sie hatte in ihrem Leben besonders schön gesungen. Sie hatte damals den Anstoß zu dem Lobgesang gegeben, der am Auferstehungsufer des Roten Meeres angestimmt worden war. Ihr kurzes Lied besang die Grundwahrheit der Erlösung: „Singen will ich dem HERRN, denn hoch erhaben ist er; das Pferd und seinen Reiter hat er ins Meer gestürzt!“ (2. Mo 15,1). Das war in der Tat ein erhabenes Lied und ein treffender Ausdruck in der Freude dieser Stunde.
Jetzt aber ist die Prophetin nicht mehr da, und der Gesang verwandelt sich in Murren. Das Leben in der Wüste wird ermüdend. Die Versuchungen dort stellen die Natur auf die Probe; sie decken auf, was im Herzen ist. Vierzig Jahre voller Mühe und Arbeit bewirken in einem Menschen eine große Veränderung. Man findet wirklich selten Christen, bei denen Kraft und Frische des geistlichen Lebens in allen Lagen erhalten geblieben oder gar noch gewachsen sind. Es sollte ja umgekehrt sein, denn gerade in den Einzelheiten und in den ernsten Wirklichkeiten unseres Weges durch diese Welt erfahren wir, was Gott für uns ist. Er benutzt die Schwierigkeiten als Anlässe, um uns den Wert und die Zartheit seiner Liebe, die keinen Wechsel kennt, zu zeigen. Nichts kann die Quellen, die in dem lebendigen Gott sind, ausschöpfen. Er bleibt immer, was Er ist, trotz aller unserer Verkehrtheiten. Und Gott wird Gott bleiben – mag der Mensch sich auch als noch so glaubensleer und fehlerhaft erweisen.
Das ist unser Trost, unsere Freude und die Quelle unserer Kraft. Wir haben es mit dem lebendigen Gott zu tun. Ganz gleich, was kommt – Er wird immer beweisen, dass Er über allen Ereignissen steht und für das, was in jedem Augenblick nötig ist, genügt. Seine langmütige Gnade kann unsere vielen Schwachheiten, Fehler und Versäumnisse ertragen. Seine Kraft erweist sich in unserer Schwachheit als vollkommen. Seine Treue hört nie auf. Seine Gnade währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Freunde täuschen und verlassen uns. Die beste Freundschaft kann in dieser kalten und herzlosen Welt zerreißen. Mitarbeiter verlassen ihre Gefährten. Mirjam und Aaron sterben. Aber Gott bleibt. Hier ist das tiefe Geheimnis aller wahren und unerschütterlichen Freude. Wenn wir sagen können: „Der HERR ist mein Hirte“, so können wir voller Sicherheit hinzufügen: „Mir wird nichts mangeln“ (Ps 23,1).
Die Erbitterung von Meriba
Dennoch gibt es in der Wüste Ereignisse, die uns Kummer und Versuchung bringen, und wir müssen durch sie hindurch. So erging es auch Israel in der Zeit, von der unser Kapitel redet. Sie sollten den Angriffen der Wüste standhalten, und sie taten es in Ungeduld und mit Unzufriedenheit. „Und es war kein Wasser da für die Gemeinde, und sie versammelten sich gegen Mose und gegen Aaron. Und das Volk haderte mit Mose, und sie sprachen und sagten: Wären wir doch umgekommen, als unsere Brüder vor dem HERRN umkamen! Und warum habt ihr die Versammlung des HERRN in diese Wüste gebracht, dass wir da sterben, wir und unser Vieh?“ (V. 2–4).
Das war eine ernste Prüfung für das Herz Moses. Wir können uns keinen Begriff davon machen, was es sein musste, sechshunderttausend Murrenden entgegenzutreten, ihre Schmähreden zu hören und von ihnen als Urheber alles Ungemachs beschuldigt zu werden, das ihr eigener Unglaube über sie gebracht hatte! Das war keine gewöhnliche Geduldsprobe, und wir sollten uns nicht darüber wundern, dass der treue und geehrte Knecht unter der Schwere der Probe wankte.
„Und Mose und Aaron gingen von der Versammlung weg zum Eingang des Zeltes der Zusammenkunft und fielen auf ihr Angesicht; und die Herrlichkeit des HERRN erschien ihnen“ (V. 6). Es ist ergreifend, Mose immer wieder auf dem Angesicht vor Gott zu sehen. Es war eine Erleichterung für ihn, sich von einer tobenden Menge zurückziehen und seine Zuflucht zu dem nehmen zu können, dessen Hilfsquellen allein einer solchen Lage gewachsen waren. „Sie fielen auf ihr Angesicht; und die Herrlichkeit des HERRN erschien ihnen.“ Anscheinend haben Mose und Aaron bei dieser Gelegenheit gar nicht erst versucht, dem Volk eine Antwort zu geben. „Sie gingen von der Versammlung weg“ und übergaben sich dem lebendigen Gott. Sie hätten nichts Besseres tun können. Wer anders als der Gott aller Gnade konnte den tausend Bedürfnissen des Wüstenlebens entsprechen? Die Schatzkammer Gottes ist unerschöpflich. Er kann ein Herz, das ihm vertraut, nie täuschen. Vergessen wir das nie! Gott hat Wohlgefallen daran, wenn man mit ihm rechnet. Er wird nie müde, für sein Volk zu sorgen. Wenn wir uns dessen immer bewusst wären, dann wäre das Murren der Ungeduld und der Unzufriedenheit weniger zu hören, die schöne Sprache des Dankes und Lobes aber umso mehr. Doch das Leben in der Wüste ist, wie schon wiederholt bemerkt, ein Prüfstein für jedermann. Es offenbart, was in uns ist; aber es zeigt uns auch, was Gott für uns ist.
Der zu Unrecht geschlagene Fels
„Und der HERR redete zu Mose und sprach: Nimm den Stab und versammle die Gemeinde, du und dein Bruder Aaron, und redet vor ihren Augen zu dem Felsen, so wird er sein Wasser geben; und du wirst ihnen Wasser aus dem Felsen hervorbringen und der Gemeinde zu trinken geben und ihrem Vieh. Und Mose nahm den Stab vor dem HERRN weg, so wie er ihm geboten hatte. Und Mose und Aaron versammelten die Versammlung vor dem Felsen; und er sprach zu ihnen: Hört doch, ihr Widerspenstigen! Werden wir euch Wasser aus diesem Felsen hervorbringen? Und Mose erhob seine Hand und schlug den Felsen mit seinem Stab zweimal; da kam viel Wasser heraus, und die Gemeinde trank und ihr Vieh“ (V. 7–11).
In dieser Stelle sind zwei Dinge besonders wichtig: der Fels und der Stab. Beide stellen sie Christus dar, jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten. In 1. Korinther 10,4 lesen wir: „Sie tranken aus einem geistlichen Felsen, der sie begleitete. Der Fels aber war der Christus.“ Das ist klar und bestimmt und lässt der Phantasie keinen Raum. „Der Fels war der Christus“, Christus, geschlagen für uns.
Was den Stab betrifft, so müssen wir uns daran erinnern, dass es nicht der Stab Moses, also der Stab der Autorität und der Macht, war. Der wäre hier nicht passend gewesen. Er hatte sein Werk getan. Er hatte den Felsen einmal geschlagen, und das war genug. Das sehen wir in 2. Mose 17,5.6, wo wir lesen: „Und der HERR sprach zu Mose: Geh vor dem Volk her, und nimm mit dir einige von den Ältesten Israels; und deinen Stab, womit du den Strom geschlagen hast, nimm in deine Hand und geh hin. Siehe, ich will dort vor dir stehen auf dem Felsen am Horeb; und du sollst auf den Felsen schlagen, und es wird Wasser daraus hervorkommen, dass das Volk trinke. Und Mose tat so vor den Augen der Ältesten Israels.“
Hier wird uns ein Bild von Christus gezeigt, der von der Hand Gottes für uns im Gericht geschlagen wurde. Beachtenswert ist der Ausdruck: „den Stab, womit du den Strom geschlagen hast“. Warum wird dieser besondere Schlag mit dem Stab hier erwähnt? 2. Mose 7,20 gibt uns die Antwort: „Und er [Mose] erhob den Stab und schlug das Wasser, das im Strom war, vor den Augen des Pharaos und vor den Augen seiner Knechte. Da wurde alles Wasser, das im Strom war, in Blut verwandelt.“ Der Stab, der das Wasser in Blut verwandelt hatte, sollte „den Felsen, der Christus war“, schlagen, damit Ströme des Lebens und der Erfrischung für uns daraus hervorfließen möchten.
Aber dieses Schlagen sollte nur einmal stattfinden. Es darf niemals wiederholt werden. Es kann keine Wiederholung des Todes Christi geben. Daher tat Mose unrecht, als er den Felsen zweimal mit seinem Stab schlug. Es war falsch, dass er ihn hier überhaupt schlug. Er hatte den Auftrag, „den Stab“, den Stab Aarons, den priesterlichen Stab, zu nehmen und zu dem Felsen zu reden. Das Versöhnungswerk ist vollbracht, und nun ist unser großer Hoherpriester in die Himmel eingegangen, um dort vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen für uns. Die Ströme geistlicher Erfrischung fließen uns zu infolge der vollbrachten Erlösung und im Zusammenhang mit dem priesterlichen Dienst Christi, von dem Aarons sprossender Stab ein so treffendes Bild ist.
Es war daher ein Fehler von Mose, dass er den Felsen zum zweiten Mal schlug; und es war ein Fehler, dass er seinen Stab überhaupt gebrauchte. Hätte er mit dem Stab Aarons geschlagen, so wären dessen schöne Blüten verdorben worden, wie wir uns leicht vorstellen können. Aber ein Wort in Verbindung mit dem Stab des Priestertums, dem Stab der Gnade, wäre genug gewesen. Mose erkannte dies nicht; er versagte hier darin, Gott zu verherrlichen. Er redete unbedacht. Die Folge davon war, dass er nicht über den Jordan gehen durfte. Sein Stab konnte das Volk nicht hinüberbringen; denn was hätte bloße Gewalt mit einem murrenden Volk ausrichten können? Aber auch ihm selbst wurde nicht erlaubt, hinüberzugehen, weil er den HERRN nicht vor den Augen der Versammlung geheiligt hatte.
Doch der HERR trug Sorge für seine Verherrlichung. Er heiligte sich selbst vor dem Volk; denn trotz ihres aufrührerischen Murrens und trotz des traurigen Fehlers von Mose empfing die Versammlung des Herrn Wasser aus dem geschlagenen Felsen. Aber die Gnade triumphierte nicht nur dadurch, dass sie den murrenden Heeren Israels zu trinken gab, sie strahlte auch herrlich in Bezug auf Mose selbst, wie wir aus 5. Mose 34 ersehen können. Die Gnade war es, die Mose auf den Gipfel des Pisga führte und ihm von dort aus das Land Kanaan zeigte. Die Gnade war es, die den HERRN für seinen Diener ein Grab bereiten und ihn darin begraben ließ. Es war besser, das Land in Gemeinschaft mit Gott zu sehen, als es in Gemeinschaft mit Israel zu betreten. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass Mose wegen seines unbedachten Redens nicht in das Land hineingehen durfte. Nach seiner Regierung hielt Gott Mose außerhalb Kanaans, in seiner Gnade aber führte Er Mose auf den Pisga. Diese beiden Tatsachen in der Geschichte Moses zeigen sehr klar den Unterschied zwischen Gnade und Regierung. Die Gnade vergibt und segnet; aber die Regierung geht unabhängig hiervon ihren eigenen Gang. „Denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7). Dieser Grundsatz zieht sich durch alle Regierungswege Gottes hin und das ist sehr ernst. Aber nichtsdestoweniger herrscht die Gnade „durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21).
Botschaften an den König von Edom
In den Versen 14–20 finden wir die Verhandlungen zwischen Mose und dem König von Edom. Es ist lehrreich und interessant, die Handlungsweise eines jeden zu beobachten und sie mit der Geschichte in 1. Mose 32 und 33 zu vergleichen. Esau (Edom) hatte einen tiefen Groll gegen Jakob. Aber obwohl er durch Gottes unmittelbares Eingreifen seinem Bruder kein Haar krümmen durfte, sollte doch andererseits das von Jakob abstammende Volk die Besitzungen Edoms nicht antasten. Jakob hatte Esau verdrängt, Israel durfte Edom nicht beunruhigen. „Und gebiete dem Volk und sprich: Ihr werdet nun durch das Gebiet eurer Brüder, der Kinder Esau, ziehen, die in Seir wohnen, und sie werden sich vor euch fürchten. Aber hütet euch sehr! Lasst euch nicht in Streit mit ihnen ein; denn ich werde euch von ihrem Land auch nicht den Tritt einer Fußsohle geben; denn das Gebirge Seir habe ich Esau als Besitztum gegeben. Speise sollt ihr für Geld von ihnen kaufen, dass ihr esst, und auch Wasser sollt ihr für Geld von ihnen kaufen, dass ihr trinkt“ (5. Mo 2,4–6). So sehen wir, dass derselbe Gott, der Esau nicht erlaubte, seinem Bruder zu schaden (1. Mo 33), jetzt nicht duldete, dass Israel Edom anrührte.
Der Tod Aarons
Der letzte Abschnitt unseres Kapitels ist sehr beeindruckend (vgl. 2. Mo 4,1–17). Mose hatte gemeint, die Begleitung Aarons sei unumgänglich nötig. Später entdeckte er, dass er für ihn ein schlimmer „Dorn für das Fleisch“ (2. Kor 12,7) war. Hier nun musste er ihm die Kleider ausziehen und Abschied von ihm nehmen. Aaron wurde zu seinen Vätern versammelt. Alles das ist voller Warnungen für uns, von welcher Seite aus wir es auch betrachten mögen – sei es im Blick auf Mose oder im Blick auf Aaron. Wir haben schon an früherer Stelle diesen Teil der Geschichte Moses erwähnt und brauchen deshalb hier nicht ausführlicher darauf einzugehen.