Betrachtungen über das vierte Buch Mose
Die Aussendung der Kundschafter
Der Ursprung dieser Sendung
„Und der HERR redete zu Mose und sprach: Sende Männer aus, dass sie das Land Kanaan auskundschaften, das ich den Kindern Israel gebe; je einen Mann für den Stamm seiner Väter sollt ihr aussenden, jeder ein Fürst unter ihnen. Und Mose sandte sie aus der Wüste Paran aus nach dem Befehl des HERRN“ (V. 1–3).
Um dieses Gebot besser zu verstehen, müssen wir es in Verbindung mit einer Stelle im fünften Buch Mose sehen, wo Mose, indem er die Begebenheiten der wunderbaren Geschichte Israels in der Wüste aufzählt, dem Volk eine wichtige Einzelheit in Erinnerung ruft: „Und wir brachen auf vom Horeb und zogen durch diese ganze große und schreckliche Wüste, die ihr gesehen habt, den Weg zum Gebirge der Amoriter, so wie der HERR, unser Gott, uns geboten hatte; und wir kamen bis Kades-Barnea. Und ich sprach zu euch: Ihr seid bis zum Gebirge der Amoriter gekommen, das der HERR, unser Gott, uns gibt. Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; zieh hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht! Und ihr tratet alle zu mir und spracht: ‚Lasst uns Männer vor uns hersenden, damit sie uns das Land erkunden und uns Bericht erstatten über den Weg, auf dem wir hinaufziehen, und über die Städte, zu denen wir kommen sollen'“ (5. Mo 1,19–22).
Hier wird der Ursprung der Begebenheit gezeigt, die uns in 4. Mose 13,2 mitgeteilt wird. Es ist klar, dass der Herr das Gebot bezüglich der Kundschafter wegen des moralischen Zustandes des Volkes gab. Hätten sie sich durch einen einfachen Glauben leiten lassen, so hätten sie nach den beeindruckenden Worten Moses gehandelt: „Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; zieh hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht!“ (5. Mo 1,21). In dieser schönen Stelle werden mit keiner Silbe die Kundschafter erwähnt. Wozu braucht der Glaube Kundschafter, wenn er das Wort und die Gegenwart des lebendigen Gottes hat? Wenn der HERR ihnen ein Land gegeben hatte, so musste es der Mühe wert sein, es in Besitz zu nehmen. Und außerdem hatte Er über die Natur und die Beschaffenheit dieses Landes Folgendes gesagt: „Denn der HERR, dein Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein Land von Wasserbächen, Quellen und Gewässern, die in der Talebene und im Gebirge entspringen; ein Land von Weizen und Gerste und Weinstöcken und Feigenbäumen und Granatbäumen; ein Land von ölreichen Olivenbäumen und Honig; ein Land, in dem du nicht in Dürftigkeit Brot essen wirst, in dem es dir an nichts mangeln wird; ein Land, dessen Steine Eisen sind, und aus dessen Bergen du Kupfer hauen wirst“ (5. Mo 8,7–9).
Hätte das dem Volk Israel nicht genügen sollen? Hätten sie mit dem Zeugnis Gottes nicht zufrieden sein sollen? Hatte nicht Er selbst das Land für sie ausgesucht und ihnen alles Nötige darüber gesagt? Wozu waren noch Männer nötig, die das Land auskundschaften sollten? Gab es von Dan bis Beerseba einen einzigen Ort, der Gott nicht vollkommen bekannt war? Kannte Er nicht alle Schwierigkeiten, und war Er nicht imstande, sie zu überwinden? Warum traten sie alle zu Mose und sprachen: „Lasst uns Männer vor uns hersenden, dass sie uns das Land erkunden und uns Bericht erstatten über den Weg“?
Diese Fragen richten sich unmittelbar an uns selbst. Sie ertappen uns geradezu und machen deutlich, wo wir stehen. Es ist nicht unsere Sache, über die Wege Israels in der Wüste zu Gericht zu sitzen, hier einen Irrtum und dort ein Versagen herauszustellen. Wir haben alle diese Dinge als Bilder zu betrachten, die zu unserer Warnung vor uns hingestellt sind. Sie sind wie Leuchttürme, die eine freundliche Hand aufgestellt hat, um uns vor den gefährlichen Sandbänken, Untiefen und Klippen zu warnen, die unsere Sicherheit bedrohen.
Es könnte jedoch jemand fragen: „Befahl denn der Herr nicht ausdrücklich, Kundschafter auszusenden? Und wenn das der Fall ist, warum war es verkehrt von Israel, dem Befehl zu folgen?“ Allerdings befahl der Herr nach 4. Mose 13, Kundschafter auszusenden; aber nach 5. Mose 1 war der Befehl nur die Konsequenz des wirklichen Zustandes des Volkes. Der Gedanke, Kundschafter zu senden, war im Herzen Israels entstanden. Gott aber sah seinen Zustand, und Er gab ein Gebot, das diesem Zustand angemessen war.
Im Anfang des ersten Buches Samuel finden wir in Verbindung mit der Erwählung eines Königs etwas Ähnliches. Der Herr befahl Samuel, auf die Stimme des Volkes zu hören und ihm einen König zu geben (1. Sam 8,22). Geschah dies etwa, weil Er ihre Absicht billigte? Im Gegenteil, Er erklärte unmissverständlich, dass diese Absicht ganz eindeutig seine Verwerfung bedeutete. Der Befehl wurde nur als Folge des Zustandes Israels erteilt. Sie wurden es müde, gänzlich von einer unsichtbaren Kraft abhängig zu sein. Sie sehnten sich nach der Kraft des Fleisches. Sie wünschten, wie die Nationen in ihrer Umgebung einen König zu haben, der vor ihnen herziehen und ihre Schlachten für sie schlagen sollte. Und Gott gab ihnen, was sie verlangten; aber sie mussten sehr bald erkennen, wie abwegig ihre Gedanken waren. Ihre Erwartungen schlugen fehl, und sie mussten erfahren, dass es eine böse und bittere Sache ist, den lebendigen Gott zu versuchen und sich auf ein zerbrochenes Rohr zu stützen, das man selbst gewählt hatte.
Dasselbe sehen wir in der Geschichte, die uns jetzt beschäftigt. Zweifellos war die Absicht, Kundschafter auszusenden, die Frucht des Unglaubens. Ein einfacher Glaube, der auf Gott vertraut, hätte nie an so etwas gedacht. Sollten wir sterbliche Boten aussenden, um ein Land zu erforschen, das der ewige Gott uns gnädig verliehen und das Er so genau und zuverlässig beschrieben hat? Nein, wir sagen doch lieber: „Das Land ist die Gabe Gottes, und darum muss es gut sein. Sein Wort ist unserem Herzen genug. Wir brauchen keine Kundschafter, wir brauchen nicht die Aussage eines Menschen zur Bestätigung des Wortes des lebendigen Gottes. Er hat gegeben; Er hat gesprochen; das ist genug.“
Israel war nicht fähig, so zu reden. Sie wollten nun einmal Kundschafter senden. Der HERR wusste das, und darum gab Er ein Gebot, das mit dem moralischen Zustand des Volkes in unmittelbarer Beziehung stand. Die ganze Sache war die Frucht ihrer Schwachheit und ihres Unglaubens, obwohl Gott in seiner unendlichen Güte und nie irrenden Weisheit schließlich alles zur Entfaltung dessen, was seine Wege waren, und zur Offenbarung seiner Herrlichkeit ausschlagen ließ.
Die Verse 17–27 bestätigen alles, was der Herr über das Land gesagt hatte. Sie enthalten das Zeugnis von zwölf Männern darüber, dass das Land in der Tat von Milch und Honig floss. Ja, das Volk konnte sich mit eigenen Augen überzeugen, was für herrliche Früchte in dem Land wuchsen. Die zwölf Männer waren wirklich in dem Land gewesen, waren vierzig Tage lang darin umhergewandert, hatten aus seinen Quellen getrunken und von seinen Früchten gegessen. Der Glaube hätte hieraus nun nur den einen Schluss ziehen können: Dieselbe Hand, die zwölf Männer in das Land geführt hatte, war fähig, auch die ganze Gemeinde dorthin zu führen.
Das Ergebnis der Erkundung
Aber ach! Das Volk wurde nicht durch Glauben geleitet, sondern von einem finsteren, niederdrückenden Unglauben beherrscht, und selbst die Männer, die ausgesandt worden waren, um die Gemeinde zu überzeugen und zu befestigen, standen – mit nur zwei glänzenden Ausnahmen – unter der Macht des gleichen, Gott verunehrenden Unglaubens. Der Ausgang der ganzen Sache machte nur den wahren Zustand des Volkes offenbar. Der Unglaube war herrschend. Das Zeugnis war klar genug: „Wir sind in das Land gekommen, wohin du uns gesandt hast; und wirklich, es fließt von Milch und Honig, und dies ist seine Frucht.“ An der Aussage Gottes über das Land war nichts falsch. Es war ganz so, wie Er gesagt hatte. Die Kundschafter selbst waren Zeugen davon. Aber hören wir, was folgt: „Nur dass das Volk stark ist, das in dem Land wohnt, und die Städte befestigt, sehr groß; und auch die Kinder Enaks haben wir dort gesehen“ (V. 27.28).
Da, wo der Mensch beteiligt ist und der Unglaube wirkt, folgt mit Sicherheit immer ein „Aber“, ein „Nur“. Die ungläubigen Kundschafter sahen die Schwierigkeiten: große Städte, hohe Mauern, mächtige Riesen; aber den HERRN sahen sie nicht. Sie sahen auf die sichtbaren Dinge; aber ihr Auge war nicht auf den gerichtet, der unsichtbar ist. Ohne Zweifel waren die Städte groß; aber Gott war größer. Die Mauern waren hoch; aber Gott war größer. Die Riesen waren stark, aber Gott war stärker.
So urteilt der Glaube immer. Er zieht seine Schlüsse von Gott aus auf die Schwierigkeiten. Er beginnt mit ihm. Der Unglaube dagegen beginnt mit den Schwierigkeiten und schließt von diesen auf Gott. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir gegen die Schwierigkeiten unempfindlich oder dass wir sorglos sein sollten! Weder Unempfindlichkeit noch Sorglosigkeit sind Glaube. Es gibt viele Leute, die leicht durchs Leben zu gehen scheinen, weil sie grundsätzlich alles von der angenehmsten Seite aufzufassen suchen. Aber das ist nicht Glaube. Der Glaube sieht den Schwierigkeiten ins Gesicht. Er sieht und fühlt die raue, schlimme Seite der Dinge. Er ist nicht unwissend, nicht gleichgültig, nicht sorglos, aber – er bringt den lebendigen Gott mit allem in Verbindung. Er schaut auf ihn, stützt sich auf ihn und nimmt alles, was er braucht, von ihm. Darin liegt das Geheimnis seiner Kraft. Er hat die tiefe und feste Überzeugung, dass für den allmächtigen Gott nie eine Mauer zu hoch, nie eine Stadt zu groß und nie ein Riese zu stark ist. Der Glaube allein gibt Gott den ihm zukommenden Platz, und daher ist er es auch allein, der die Seele über die Einflüsse äußerer Umstände erhebt, mögen diese sein, wie sie wollen. Kaleb offenbarte diesen wertvollen Glauben, als er sagte: „Lasst uns nur hinaufziehen und es in Besitz nehmen, denn wir werden es gewiss überwältigen“ (V. 30). So spricht der lebendige Glaube, der Gott verherrlicht und sich durch die Umstände nicht erschrecken lässt.
Leider beherrschte dieser lebendige Glaube die große Mehrzahl der Kundschafter ebenso wenig wie die, die sie ausgesandt hatten, und daher wurde der eine Gläubige von den zehn Ungläubigen übertönt: „Aber die Männer, die mit ihm hinaufgezogen waren, sprachen: Wir vermögen nicht gegen das Volk hinaufzuziehen“ (V. 31). Die Sprache des Unglaubens war der Sprache des Glaubens genau entgegengesetzt. Der eine sprach, indem er auf Gott schaute: „Wir werden es gewiss überwältigen.“ Die anderen aber sagten im Blick auf die Schwierigkeiten: „Wir können nicht.“ Und wie es damals war, so ist es heute noch. Der Glaube sieht nur den lebendigen Gott und darum nicht die Schwierigkeiten; der Unglaube aber sieht nur die Schwierigkeiten und nicht Gott. Der Glaube rechnet mit Gott, und alles ist hell und leicht. Der Unglaube schließt Gott aus, und alles ist dunkel und schwierig.
„Und sie verbreiteten unter die Kinder Israel ein böses Gerücht über das Land, das sie ausgekundschaftet hatten, und sprachen: Das Land, das wir durchzogen haben, um es auszukundschaften, ist ein Land, das seine Bewohner frisst; und alles Volk, das wir darin gesehen haben, sind Leute von hohem Wuchs; auch haben wir dort die Riesen gesehen, die Kinder Enaks, von den Riesen; und wir waren in unseren Augen wie Heuschrecken, und so waren wir auch in ihren Augen“ (V. 32.33). Kein Wort von Gott! Er ist gänzlich ausgeschlossen. Hätten die Kundschafter an ihn gedacht, hätten sie die Riesen mit ihm verglichen, so hätte es ihnen nichts ausgemacht, ob sie selbst wie Heuschrecken waren oder Männer. Aber durch ihren traurigen Unglauben stellten sie den Gott Israels auf die gleiche Ebene mit einer Heuschrecke.
Es ist merkwürdig, dass der Unglaube, wo und wann immer er auch wirksam wird, stets durch die gleiche Tatsache charakterisiert wird: Er schließt Gott aus. Eine Ausnahme von dieser Regel gibt es nicht. Alle Urteile und Schlüsse des Unglaubens beruhen auf der Ausschließung Gottes.