Betrachtungen über das vierte Buch Mose
Mirjam mit Aussatz geschlagen
Der anschließende kurze Abschnitt unseres Buches kann unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden: zunächst unter dem seiner bildlichen, dann aber auch unter dem seiner moralischen bzw. praktischen Bedeutung.
Die Frau Moses – ein Bild der Versammlung
In der Verbindung Moses mit der „kuschitischen Frau“ wird das große und wunderbare Geheimnis von der Vereinigung der Versammlung mit Christus, ihrem Haupt, bildhaft dargestellt. Dieses Thema hat uns schon bei der Betrachtung des zweiten Buches Mose beschäftigt. Hier aber sehen wir es in einem besonderen Licht: der Anlass ist die Feindschaft Aarons und Mirjams. Das unumschränkte Handeln der Gnade ruft den Widerstand derer hervor, die irgendwelche fleischlichen Vorrechte haben. Wir wissen aus dem Neuen Testament, dass gerade die Tatsache, dass sich die Gnade auch auf die Heiden ausdehnte, bei den Juden wilden und schrecklichen Hass hervorrief. Sie wollten diese Ausdehnung der Gnade nicht, sie wollten sie nicht wahrhaben; sie wollten sogar nichts davon hören. Römer 11 enthält eine sehr bemerkenswerte Anspielung hierauf, wenn der Apostel dort im Blick auf die Heiden sagt: „Denn wie ihr einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung gekommen seid durch deren Unglauben, so haben auch jetzt diese [die Juden] an eure Begnadigung nicht geglaubt, damit auch sie unter die Begnadigung kommen“ (V. 30.31).
Das ist genau das, was wir in der Geschichte Moses bildlich vorgestellt finden. Mose stellte sich zuerst Israel dar, seinen Brüdern nach dem Fleisch; aber sie verwarfen ihn im Unglauben. Sie stießen ihn von sich und wollten ihn nicht. Das wurde in der Unumschränktheit Gottes der Anlass, dem Fremden Gnade zu erweisen; denn während der Zeit seiner Verwerfung durch Israel schloss Mose die Verbindung mit einer heidnischen Braut, eine Verbindung, die eine bildliche Bedeutung hat. Gegen diese Verbindung reden Aaron und Mirjam in diesem Kapitel, und ihr Widerstand bringt das Gericht Gottes auf sie. Mirjam wird aussätzig, eine elende, unreine Person, ein passender Gegenstand für die Barmherzigkeit, die sie gerade durch die Fürbitte dessen erfährt, gegen den sie geredet hatte.
Das Bild ist vollständig und sehr treffend. Die Juden haben nicht an die herrliche Wahrheit der Begnadigung der Heiden geglaubt, und daher ist der Zorn völlig über sie gekommen. Aber sie werden später wieder – und zwar ebenso wie die Heiden – auf den Boden der Gnade zurückgeführt werden. Das ist sehr demütigend für sie, die ja auf dem Boden der Verheißung und der nationalen Vorrechte zu stehen suchten. Aber so ist es nach dem Walten der Weisheit Gottes, und gerade der Gedanke daran bewirkt in dem Apostel den herrlichen Lobpreis am Ende von Römer 11: „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvor gegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen“ (V. 33–36).
Verleumdung eines Dieners Gottes
So viel über die bildliche Bedeutung dieses Kapitels. Sehen wir uns jetzt seine moralische und praktische Seite an!
Es ist eine sehr ernste Sache, gegen einen Knecht des Herrn zu reden. Wir können sicher sein, dass Gott früher oder später darauf zurückkommen wird. In dem Fall Mirjams kam das Gericht Gottes plötzlich und ernst. Gegen den zu sprechen, den Gott so deutlich erhoben und mit einem großen Auftrag betraut hatte, war ein schweres Unrecht, ja war in Wirklichkeit Empörung. Überdies hatte Mose gerade in der Sache, über die sie sich beklagten, in völliger Übereinstimmung mit den Ratschlüssen Gottes gehandelt, indem er von dem herrlichen Geheimnis, das von den Zeitaltern her in Gott verborgen war, d. h. von der Einheit Christi mit der Versammlung, ein Bild gab.
In jedem Fall aber ist es ein verhängnisvoller Fehler, gegen einen Knecht Gottes – und sei es der schwächste und niedrigste – zu reden.
Wenn der Knecht Böses tut, wenn er im Irrtum ist, wenn er in einer Sache versagt hat, so wird der Herr selbst sich mit ihm beschäftigen. Doch seine Mitknechte sollten sich hüten, die Sache in ihre Hände zu nehmen, damit sie nicht wie Mirjam sich selbst schaden.
Es ist manchmal schrecklich, zu hören, in welcher Weise man sich erlaubt, über Diener Christi zu reden und zu schreiben. Wohl mögen sie Anlass dazu geben. Sie können durchaus Fehler gemacht und einen verkehrten Geist, eine gereizte Stimmung offenbart haben. Aber dennoch ist es eine große Sünde gegen Christus, wenn man von seinen Knechten übel redet. Sicher sollten wir die Bedeutung und den Ernst der Worte fühlen: „Und warum habt ihr euch nicht gefürchtet, gegen meinen Knecht, gegen Mose, zu reden?“ (V. 8).
Gott gebe uns Gnade, dass wir uns vor diesem schlimmen Übel hüten! In jedem Kind Gottes können wir etwas Gutes finden, vorausgesetzt, dass wir es auf die rechte Weise suchen. Beschäftigen wir uns doch nur mit dem Guten! Bestehen wir darauf und versuchen wir, das Gute auf alle mögliche Weise zu stärken und zu entwickeln! Wenn wir andererseits aber in unserem Bruder oder Mitknecht nichts Gutes haben entdecken können, wenn wir nur Verkehrtes gesehen haben, wenn es uns nicht gelungen ist, den glühenden Funken in der Asche, den kostbaren Edelstein in dem ihn umgebenden Schutt zu finden, wenn alles, was wir gesehen haben, lediglich von der alten Natur zu sein scheint, nun, dann lasst uns schweigen und nur vor dem Thron der Gnade von unserem Bruder sprechen!
Und wenn wir mit solchen zusammenkommen, die gegen das Volk des Herrn reden, und wir können der Unterhaltung nicht eine andere Wendung geben, dann lasst uns aufstehen und den Raum verlassen und so Zeugnis ablegen gegen das, was so hassenswert ist für Christus. Lasst uns nie bei einem Verleumder und Ohrenbläser sitzen und ihm zuhören! Wir können sicher sein, dass er das Werk des Teufels tut. Er fügt drei verschiedenen Seiten Schaden zu: sich selbst, seinem Zuhörer und dem, über den er seine kritischen Bemerkungen macht.
Es liegt etwas außerordentlich Schönes in der Art und Weise, wie Mose sich hier verhält. Er erweist sich in Wahrheit als ein sanftmütiger Mann, nicht nur in der Angelegenheit mit Eldad und Medad, sondern auch in der schwierigeren Sache mit Mirjam und Aaron. Anstatt auf die Ersteren eifersüchtig zu werden, die berufen waren, seine Würde und Verantwortung zu teilen, freute er sich über ihr Werk und wünschte, das ganze Volk möchte dasselbe heilige Vorrecht besitzen. Und anstatt gegen seine Geschwister ein Gefühl der Rache aufkommen zu lassen, war er sofort bereit, Fürbitte zu tun. „Da sprach Aaron zu Mose: Ach, mein Herr! Lege doch nicht die Sünde auf uns, durch die wir töricht gehandelt und uns versündigt haben! Möge sie doch nicht sein wie ein totes Kind, dessen Fleisch, wenn es aus seiner Mutter Leib hervorkommt, zur Hälfte verwest ist! Und Mose schrie zu dem HERRN und sprach: O Gott, bitte, heile sie doch!“ (V. 11–13).
Hier offenbart Mose den Geist seines Meisters und bittet für die, die so bitter gegen ihn gesprochen hatten. Das war der Sieg eines sanftmütigen Mannes, der Sieg der Gnade. Ein Mensch, der seinen richtigen Platz in der Gegenwart Gottes kennt, kann sich über alle bösen Reden erheben. Sie betrüben ihn nicht – es sei denn um derer willen, die sie führen –, und er ist fähig, sie zu vergeben. Er ist nicht empfindlich, hartnäckig oder von sich selbst eingenommen. Er weiß, dass niemand ihn tiefer stellen kann, als er es verdient, und wenn deshalb jemand gegen ihn redet, kann er sich sanftmütig beugen und seinen Weg fortsetzen, indem er sich und seine Sache dem anheimstellt, der recht richtet und der gewiss einem jeden nach seinen Werken vergelten wird.
Das ist wahre Würde. Möchten wir sie besser verstehen! Dann würden wir nicht so schnell heftig werden, wenn jemand von uns oder unserem Werk verächtlich spricht. Wir würden im Gegenteil fähig sein, ernst für solche zu beten und so auf sie und auf uns Segen herabbringen.
Mirjam sieben Tage außerhalb des Lagers
Die Schlussverse unseres Kapitels (V. 14–16) sind eine Bestätigung für die bildliche Auslegung, auf die oben hingedeutet wurde. Wir können die aus dem Lager ausgeschlossene Mirjam als ein Bild vom gegenwärtigen Zustand des Volkes Israel betrachten, das wegen seines unversöhnlichen Widerstandes gegen Gottes Gedanken der Gnade über die Heiden beiseitegesetzt ist. Aber wenn die „sieben Tage“ verflossen sind, wird Israel aufgrund einer unumschränkten Gnade, die das Volk durch die Fürbitte Christi erfahren wird, wiederhergestellt werden.