Betrachtungen über das vierte Buch Mose
Der Nasir
Die Einführung des Nasiräertums
Die Verordnungen bezüglich des Nasirs sind interessant und lehrreich. Sie zeigen, wie sich jemand auf besondere Weise absondert, und zwar von Dingen, die, obwohl sie an und für sich nicht böse sind, dennoch einer von ganzem Herzen praktizierten Absonderung, die in dem Stand des Nasirs ihren Ausdruck findet, schaden konnten.
Vor allem sollte der Nasir keinen Wein trinken. Die Frucht des Weinstocks in jeder Form war ihm verboten. Nun ist der Wein, wie wir wissen, das Sinnbild irdischer Freude, der Ausdruck derjenigen gesellschaftlichen Genüsse, zu denen wir von Natur aus eine so starke Neigung haben. Der Nasir in der Wüste sollte sich davon enthalten. Er musste sich buchstäblich nach den Verordnungen richten. Er sollte sich nicht durch starke Getränke aufreizen. Während der ganzen Zeit seiner Absonderung war er berufen, sich streng von Wein zu enthalten. Die Verordnungen bezüglich des Nasirs stehen in Einklang mit dem Charakter des vierten Buches Mose, das, wie schon bemerkt worden ist, alles enthält, was mit dem Wüstenleben in Verbindung steht. Wir wollen deshalb untersuchen, welche Belehrung für uns darin liegt, dass sich der Nasir von allem, was zum Weinstock gehörte, „von den Kernen bis zur Hülse“ (Kap. 6,4), enthalten sollte.
Der vollkommene Nasir
Es hat in dieser Welt nur einen wahren und vollkommenen Nasir gegeben, nur Einen, der vom Anfang bis zum Ende seines Weges sich vollständig von jeder rein irdischen Freude getrennt hielt. Von dem Augenblick an, da Er sein öffentliches Werk begann, hielt Er sich von allem fern, was von dieser Welt war. Sein Herz war mit einer Hingabe, die nichts erschüttern konnte, auf Gott und sein Werk gerichtet. Niemals erlaubte Er irgendwelchen Ansprüchen der Erde oder der Natur, zwischen sein Herz und das Werk zu treten, das zu vollenden Er gekommen war. „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49), und: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?“ (Joh 2,4). Mit solchen Worten wies der wahre Nasir die Ansprüche der Natur zurück an ihren wahren Platz. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und für diese Aufgabe sonderte Er sich vollkommen ab. Sein Auge war einfältig und sein Herz ungeteilt. Das wird in seinem ganzen Leben deutlich. Er konnte zu seinen Jüngern sagen: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt“, und als sie dann, weil sie die tiefe Bedeutung seiner Worte nicht verstanden, fragten: „Hat ihm wohl jemand zu essen gebracht?,“ antwortete Er: „Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe“ (Joh 4,32–34). So hören wir ihn auch am Ende seiner Laufbahn hier auf der Erde, als Er den Kelch, des Passahmahles in seine Hand nahm, die Worte sprechen: „Nehmt diesen und teilt ihn unter euch. Denn ich sage euch, dass ich von jetzt an nicht von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis das Reich Gottes kommt“ (Lk 22,17.18).
Wir sehen hier den Verhaltensgrundsatz des vollkommenen Nasirs. Er konnte weder an der Erde noch am Volk Israel Freude haben. Die Zeit dafür war noch nicht gekommen, und darum trennte Er sich von allem, was eine rein menschliche Liebe in der Verbindung mit den Kindern Gottes finden konnte, um sich dem einen großen Ziel zu widmen, das immer vor seiner Seele stand. Die Zeit, in der Er sich als der Messias an seinem Volk und an der Erde erfreuen wird, wird kommen; aber bis zu diesem segensreichen Augenblick bleibt Er als der wahre Nasir abgesondert, und sein Volk ist mit ihm verbunden. „Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin. Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt; und ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit“ (Joh 17,16–19).
Absonderung von weltlichen Freuden
Dieser auffallendste Charakterzug des Nasirs ist es wert, dass wir gründlich über ihn nachdenken. Es ist wichtig für uns, dass wir uns in seinem Licht aufrichtig prüfen. Die Frage ist, bis zu welchem Grad wir als Christen die Bedeutung und Kraft der völligen Absonderung von den Wünschen der Natur und rein irdischen Freuden verstehen. Es handelt sich hierbei nicht darum, ob dies oder jenes schaden könnte. Der Wein an sich schadete nichts, und in der Frucht des Weinstocks war an und für sich nichts Schlechtes. Doch entscheidend war: Wenn jemand sich vornahm, ein Nasir zu sein, wenn er nach dieser heiligen Absonderung für den Herrn strebte, dann musste er gänzlich dem Genuss von Wein und starken Getränken entsagen. Andere mochten Wein trinken, aber der Nasir durfte ihn nicht anrühren.
Auch uns stellt sich die Frage: Streben wir danach, Nasire zu sein? Sehnen wir uns nach einer völligen Absonderung und Hingabe unserer ganzen Person, d. h. nach einer Absonderung nach Leib, Seele und Geist für Gott? Wenn dies der Fall ist, dann müssen wir allem fernbleiben, was lediglich unserer Natur Freude macht. Das ist der Angelpunkt, um den sich die ganze Frage dreht. Die Frage ist nicht etwa: „Sollen wir Mönche werden?“, sondern: „Möchten wir Nasire sein?“ Ist es der Wunsch unseres Herzens, uns aller rein irdischen Freuden zu enthalten – wie Christus unser Herr –, uns für Gott von all den Dingen zu trennen, die, wenn sie auch nicht gerade böse sind, dennoch die völlige Hingabe des Herzens, in der das wahre Geheimnis alles geistlichen Nasirtums besteht, verhindern? Es gibt viele Dinge, die einen zerstreuenden und schwächenden Einfluss auf den Geist des Gläubigen ausüben, die aber, wenn sie nach dem Maßstab der gewöhnlichen Sittenlehre gemessen würden, als harmlos bezeichnet werden könnten.
Vergessen wir nie, dass die Nasire Gottes die Dinge nicht nach einem solchen Maßstab messen! Sie betrachten die Dinge von einem göttlichen und himmlischen Standpunkt aus, und deshalb können sie nichts als harmlos hinnehmen, was in irgendeiner Weise ihre Hingabe an Gott beeinträchtigt, nach der ihre Seele verlangt.
Der Herr gebe uns Gnade, dass wir diese Dinge erwägen und dass wir gegen jeden schädlichen Einfluss wachen. Jeder muss wissen, was in seiner Umwelt auf ihn wie Wein und starkes Getränk wirken würde. Man mag diese Überlegungen für kleinlich halten; aber könnte etwas kleinlich sein, was die innige Gemeinschaft unserer Seele mit Gott unterbricht, die zu kennen unser Vorrecht ist?
Verzicht auf persönliche Ehre
Aber es gab noch etwas anderes, was den Nasir kennzeichnete: Er sollte sein Haupt nicht scheren. „Alle Tage des Gelübdes seiner Absonderung soll kein Schermesser über sein Haupt gehen; bis die Tage erfüllt sind, die er sich für den HERRN absondert, soll er heilig sein; er soll das Haar seines Hauptes frei wachsen lassen“ (V. 5).
In 1. Korinther 11,14 erfahren wir, dass es für einen Mann eine Unehre ist, wenn er langes Haar trägt. „Lehrt euch nicht auch die Natur selbst, dass, wenn ein Mann langes Haar hat, es eine Unehre für ihn ist?“ Daraus lernen wir, dass zur Absonderung für Gott die Bereitschaft gehört, unsere natürliche Ehre oder Würde aufzugeben. Unser Herr tat es vollkommen. Er erniedrigte sich. Er entsagte seinen Rechten in allen Dingen. Er konnte sagen: „Ich bin ein Wurm und kein Mann“ (Ps 22,7). Er machte sich selbst zu nichts und nahm den letzten Platz ein. Er vernachlässigte sich selbst, während Er für andere sorgte.
Gerade dies aber tun wir so ungern. Wir stehen naturgemäß für unsere Ehre ein und suchen unsere Rechte geltend zu machen. Man hält solches Verhalten für männlich. Aber der vollkommene Mensch, Christus Jesus, handelte nicht so, und wenn wir Nasire zu sein wünschen, dann werden wir es auch nicht tun. Wir müssen der Würde der Natur entsagen und auf die Freuden der Erde verzichten, wenn wir in dieser Welt den Weg der völligen Absonderung für Gott gehen wollen.
Beachten wir auch hier wieder, dass es sich nicht um die Frage handelt, was recht oder unrecht ist. Für einen Menschen war es an sich recht, sich zu scheren oder Wein zu trinken; aber es war nicht recht, ja es war sogar ganz verkehrt, wenn ein Nasir es tat. Der Nasir war eben kein gewöhnlicher Mensch. Er war von allem, was üblich war, abgesondert, um einen besonderen Weg zu gehen, und er hätte diesen Weg verlassen, wenn er ein Schermesser gebraucht oder Wein angerührt hätte. Wenn darum jemand fragt: „Ist es nicht recht, die Freuden der Erde zu genießen und die Würde der Natur zu bewahren?“, dann ist die Antwort: „Es ist recht, falls wir wie alle anderen einfach als Menschen leben wollen; aber es ist ganz und gar verkehrt, wenn wir als Nasire zu leben wünschen.“
Das macht die Sache sehr einfach und antwortet auf tausend Einwände. Die Frage ist lediglich: „Was ist unser wirkliches Ziel?“ Möchten wir uns nur wie alle Menschen betragen, oder möchten wir als wirklicher Nasir leben? Nach der Sprache von 1. Korinther 3,3 sind die Ausdrücke: „nach Menschenweise wandeln“ und „fleischlich“ gleichbedeutend. Empfinden wir die Bedeutung, die Kraft einer solchen Schriftstelle, oder werden wir von dem Geist und den Grundsätzen einer Welt regiert, die ohne Gott und ohne Christus ist. Wir sehen in 4. Mose 6, dass ein Nasir das Haupt seiner Weihe verunreinigte, wenn er Wein trank oder sein Haar schor. Das lehrt uns klar und deutlich, dass wir uns der Freuden der Erde enthalten und die Ehre und die Rechte der Natur verleugnen müssen, wenn unsere Seele einen Weg völliger Absonderung für Gott gehen will. Es kann nicht anders sein, weil Gott und Welt, Fleisch und Geist sich nie miteinander vereinigen können. Die Zeit wird kommen, wo es anders sein wird; aber jetzt müssen alle, die für Gott leben und im Geist wandeln wollen, von der Welt getrennt leben und „die Handlungen des Leibes töten“. Gott wolle uns in seiner großen Gnade befähigen, das zu tun!
Keine Toten berühren
Noch eine letzte Eigenart des Nasirs muss erwähnt werden: Er sollte keinen Toten anrühren. „Alle Tage, die er sich für den HERRN absondert, soll er zu keiner Leiche kommen. Wegen seines Vaters und wegen seiner Mutter, wegen seines Bruders und wegen seiner Schwester, ihretwegen soll er sich nicht verunreinigen, wenn sie sterben; denn die Weihe seines Gottes ist auf seinem Haupt“ (V. 6.7).
Ob es sich um das Trinken von Wein, das Scheren des Haares oder das Anrühren eines Toten handelte, die Wirkung war dieselbe: Durch jede dieser Handlungen wurde die Weihe eines Nasirs in gleicher Weise unrein. Die Weihe stellte einen solchen Menschen auf einen völlig neuen und besonderen Boden und machte es ihm zur Pflicht, alles von einem neuen und besonderen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Er hatte nur zu fragen, was ihm als Nasir angemessen war. Wenn daher sein liebster Freund tot neben ihm lag, sollte er ihn doch nicht anrühren. Er war berufen, sich von dem verunreinigenden Einfluss des Todes fernzuhalten, „weil die Weihe seines Gottes auf seinem Haupt war“.
Gemeinschaft mit Gott
Es ist zu beachten, dass es in dem, was der Nasir darstellt, keinesfalls um die Errettung, das ewige Leben oder die völlige Sicherheit des Gläubigen in Christus geht. Es gibt im Christentum zwei wichtige Verbindungen, die, obwohl sie eng miteinander verbunden, doch vollkommen verschieden sind: das Band des ewigen Lebens und das Band der persönlichen Gemeinschaft. Jenes kann durch nichts, dieses dagegen kann in einem Augenblick durch die geringste Ursache zerrissen werden. Das Bild vom Nasir bezieht sich auf das Letztere.
Wie gesagt, sahen wir in der Person des Nasirs das Bild eines Menschen, der eine besondere Hingabe an Christus zeigt. Die Kraft dafür, auf diesem Weg zu bleiben, liegt in der verborgenen Gemeinschaft mit Gott, so dass die Kraft verschwunden ist, wenn diese Gemeinschaft unterbrochen wird. Das macht die Sache so besonders ernst. Es ist sehr gefährlich, einen Weg verfolgen zu wollen ohne die Quelle der hierzu nötigen Kraft. In dieser Beziehung sollten wir äußerst wachsam sein. Nichts ist gefährlicher, als den Schein, man sei ein „Nasir“ zu wahren, während die innere Wirklichkeit verschwunden ist. Es ist weit besser, unsere Fehler zu bekennen und unseren wirklichen Platz einzunehmen, als etwas vortäuschen zu wollen, was wir nicht sind. Gott will Wirklichkeit haben, und wir können sicher sein, dass früher oder später unsere Schwäche und Torheit allen offenbar werden wird. Es ist traurig und demütigend, wenn die „Nasire“, die „reiner als Schnee“ waren, „dunkler als Schwärze“ werden; aber noch weit schlimmer ist es, wenn die, die so schwarz und dunkel geworden sind, sich den Schein geben, als seien sie weiß (vgl. Klgl 4,7.8).
Das Beispiel Simsons
Werfen wir einen Blick auf den ersten Fall Simsons, wie er uns in Richter 16 dargestellt wird! In einer bösen Stunde verriet er sein Geheimnis und verlor seine Kraft. Er verlor sie, ohne es zu wissen; aber der Feind wusste es auf der Stelle. Es wurde sofort vor allen offenbar, dass der Nasir das Haupt seiner Weihe verunreinigt hatte. „Und es geschah, als [Delila] ihn alle Tage mit ihren Worten drängte und ihn plagte, da wurde seine Seele sterbensmatt; und er tat ihr sein ganzes Herz kund und sprach zu ihr: Kein Schermesser ist auf mein Haupt gekommen, denn ein Nasir Gottes bin ich von Mutterleib an; wenn ich geschoren würde, so würde meine Stärke von mir weichen, und ich würde schwach werden und würde sein wie alle Menschen“ (V. 16.17).
Er verriet das heilige Geheimnis seiner ganzen Kraft. Bis dahin war sein Weg ein Weg der Kraft und des Sieges gewesen, einfach deshalb, weil es der Weg eines heiligen Nasir gewesen war. Aber das Herz Simsons wurde von den Verführungen Delilas besiegt, und was tausend Philister nicht hatten ausrichten können, das gelang dem bestrickenden Einfluss einer einzigen Frau. Simson stürzte von der erhabenen Höhe des Nasirs in den Zustand eines gewöhnlichen Menschen hinab.
Damit war seine Kraft von ihm gewichen. Der Herr hatte sich von ihm abgewandt, und der einst so kraftvolle Nasir wurde ein Gefangener, dem man die Augen ausstach. Anstatt über die Philister zu triumphieren, musste er fortan in ihrem Gefängnis mahlen. Das sind die Folgen, wenn man der Natur nachgibt. Simson erlangte seine Freiheit nie wieder. Es wurde ihm durch die Barmherzigkeit Gottes gewährt, noch einen Sieg über die Unbeschnittenen davonzutragen; aber dieser Sieg kostete ihn selbst das Leben. Die Nasire Gottes müssen sich selber rein bewahren, oder sie verlieren ihre Kraft. Bei ihnen sind Kraft und Reinheit untrennbar. Sie können nicht ohne innere Heiligkeit vorangehen und müssen daher immer sorgfältig auf der Hut sein vor Dingen, die das Herz beschäftigen, den Geist zerstreuen und den Grad der Geistlichkeit verringern. Halten wir uns diese Worte unseres Kapitels allezeit vor Augen: „Alle die Tage seiner Absonderung ist er dem HERRN heilig“ (V. 8). Heiligkeit ist das große und unerlässliche Merkmal des Nasirs, und zwar vom ersten bis zum letzten Tag; verschwindet sie, so endet auch der Stand als Nasir.
Göttliche Hilfsquellen
Aber, so möchte man fragen, was soll dann geschehen? Unser Schriftabschnitt gibt uns die Antwort: „Und wenn jemand unversehens, plötzlich, bei ihm stirbt und er das Haupt seiner Weihe verunreinigt, so soll er sein Haupt an dem Tag seiner Reinigung scheren; am siebten Tag soll er es scheren. Und am achten Tag soll er zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben zum Priester bringen an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft. Und der Priester soll eine zum Sündopfer und eine zum Brandopfer opfern und Sühnung für ihn tun, weil er sich an der Leiche versündigt hat; und er soll sein Haupt an diesem Tag heiligen. Und er soll die Tage seiner Absonderung nochmals für den HERRN absondern und ein einjähriges Lamm zum Schuldopfer bringen; die vorigen Tage aber sind verfallen, denn seine Weihe ist verunreinigt worden“ (Kap. 6,9–12).
Wir finden hier, dass das Versöhnungswerk in seinen beiden wichtigen Seiten die einzige Grundlage war, auf der der Nasir wieder in die Gemeinschaft zurückgeführt werden konnte. Er hatte sich verunreinigt, und diese Verunreinigung konnte allein durch das Blut des Opfers weggenommen werden. Wir mögen es als eine sehr geringfügige Sache betrachten, einen Leichnam zu berühren, besonders, wenn es in einer solchen Situation geschieht. Man könnte sagen: „Wie konnte der Nasir das Anrühren verhindern, wenn ein Mensch neben ihm plötzlich tot umfiel?“ Die Antwort darauf ist einfach und zugleich ernst: Gottes Nasire müssen die persönliche Reinheit bewahren, und außerdem ist der Maßstab, nach dem ihre Reinheit gemessen wird, nicht menschlich, sondern göttlich. Schon das Berühren eines Toten reichte aus, um das Band der Gemeinschaft zu zerreißen, und hätte der Nasir gewagt, weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre, so hätte er den Geboten Gottes nicht gehorcht und ein schweres Gericht über sich gebracht.
Aber Gott in seiner Gnade hat Vorsorge getroffen. Da war das Brandopfer, das Bild des Todes Christi in seiner Beziehung zu Gott, sowie das Sündopfer, das Bild desselben Todes in seiner Beziehung zu uns. Da war außerdem das Schuldopfer, das Bild des Todes Christi, nicht allein in seiner Anwendung auf die Wurzel oder den Grundsatz der Sünde in der Natur, sondern auch auf die gerade begangene Sünde. Und so war die ganze Kraft und Wirkung des Todes Christi nötig, um die Verunreinigung wegzunehmen, die durch das Berühren eines toten Körpers verursacht worden war. Das ist ganz besonders ernst. Die Sünde ist in den Augen Gottes eine furchtbare Sache. Ein einziger sündhafter Gedanke, ein sündiger Blick, ein sündhaftes Wort reichen aus, um über die Seele eine schwere und finstere Wolke zu bringen, die unseren Augen das Licht des Angesichts Gottes verbirgt und uns in Not und Elend stürzt.
Hüten wir uns also, die Sünde gleichgültig zu behandeln! Denken wir daran, dass, bevor ein einziger Flecken der Sündenschuld beseitigt werden konnte, unser Herr durch die unsagbaren Schrecken Golgathas gehen musste. Allein der bittere Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34), kann uns vielleicht eine in etwa angemessene Vorstellung von dem geben, was Sünde ist, obwohl kein Sterblicher, kein Engel in die unendlichen Tiefen dieser Leiden je eindringen kann. Aber obwohl wir die Tiefen der Leiden Christi niemals erforschen können, sollten wir es uns doch wenigstens mehr zur Gewohnheit machen, sein Kreuz und seine Leiden zu betrachten, um auf diese Weise eine tiefere Erkenntnis von der Abscheulichkeit der Sünde in den Augen Gottes zu gewinnen. Wenn wirklich die Sünde für einen heiligen Gott so schrecklich, so furchtbar ist, dass Er gezwungen war, sein Angesicht von diesem Einen abzuwenden, der von Ewigkeit her in seinem Schoß war, als Er ihn verlassen musste, weil Er die Sünde an seinem eigenen Leib auf das Holz trug – was muss dann Sünde sein?
Denken wir ernsthaft über diese Dinge nach! Wie oberflächlich denken wir manchmal über das, was es den Herrn Jesus alles gekostet hat – nicht nur das Leben, sondern auch das, was besser und wertvoller ist als das Leben: das Licht des Angesichts Gottes. Möchten wir ein tiefes Gefühl von der Hässlichkeit der Sünde haben! Möchten wir doch sehr aufpassen, dass unser Auge nicht in eine verkehrte Richtung sieht! Denn sehr bald wird das Herz dem Auge folgen und die Füße dem Herzen. Ehe wir es ahnen, entfernen wir uns so von dem Herrn, verlieren das Gefühl seiner Gegenwart und seiner Liebe und werden unglücklich oder, was noch viel trauriger ist, gleichgültig, kalt, gefühllos, „verhärtet durch Betrug der Sünde“ (Heb 3,13).
Gott helfe uns, besser vor allem auf der Hut zu sein, was das „Haupt unserer Weihe“ verunreinigen könnte! Es ist eine ernste Sache, die Gemeinschaft zu verlieren, und es ist eine sehr gefährliche Sache, wenn man es wagt, mit einem befleckten Gewissen den Dienst für den Herrn fortzusetzen. Wohl ist es wahr, dass die Gnade vergibt und wiederherstellt; aber wir erlangen nie wieder, was wir verloren haben. Das wird mit allem Nachdruck in der vor uns liegenden Schriftstelle gesagt. Wir lesen: „Und er soll die Tage seiner Absonderung nochmals für den HERRN absondern und ein einjähriges Lamm zum Schuldopfer bringen; die vorigen Tage aber sind verfallen, denn seine Weihe ist verunreinigt worden“ (V. 12).
Abweichen und Rückkehr
Das ist für uns voller Belehrung und Mahnung. Wenn der Nasir sich durch irgendetwas, und war es nur die Berührung eines Toten, verunreinigt hatte, so musste er wieder von vorn anfangen. Nicht nur die Tage seiner Verunreinigung waren verloren und galten nichts, sondern auch die vorausgegangenen Tage seiner Absonderung als Nasir.
Was lehrt uns dies? Es bezeugt uns jedenfalls das eine, dass wir, wenn wir uns von dem Herrn entfernt haben, zu dem Punkt zurückkehren müssen, von dem aus wir abgewichen sind. Wir finden viele Beispiele dafür in der Schrift, und wir sind klug, wenn wir sie beachten und über die große praktische Wahrheit nachdenken, die sie ans Licht stellen.
Betrachten wir z. B. Abraham, wie er nach Ägypten zog (1. Mo 12)! Er war offensichtlich vom richtigen Weg abgewichen. Und was war die Folge? Diese Zeit war verloren, und Abraham musste zu dem Punkt zurückkehren, von wo er abgeirrt war, und von neuem beginnen. So lesen wir in 1. Mose 12,8: „Und er brach auf von dort in das Gebirge östlich von Bethel und schlug sein Zelt auf, Bethel im Westen und Ai im Osten; und er baute dort dem HERRN einen Altar und rief den Namen des HERRN an.“ Dann, nach seiner Rückkehr aus dem Land Ägypten, heißt es: „Und er ging auf seinen Zügen vom Süden bis Bethel, bis zu dem Ort, wo im Anfang sein Zelt gewesen war, zwischen Bethel und Ai, zu der Stätte des Altars, den er dort zuvor gemacht hatte. Und Abram rief dort den Namen des HERRN an“ (1. Mo 13,3.4). Die ganze in Ägypten verbrachte Zeit galt nichts. Es gab dort keinen Altar, keinen Gottesdienst, keine Gemeinschaft, und Abraham musste an den Ort zurückkehren, von dem er ausgegangen war, und musste von neuem anfangen.
So ist es in allen Fällen, und das erklärt, wieso manche von uns in ihrem praktischen Leben so langsam Fortschritte machen. Wir fallen, wenden uns ab, entfernen uns vom Herrn und geraten in geistliche Dunkelheit. Wenn uns dann seine Stimme der Liebe in wiederherstellender Kraft ruft, so führt sie uns an den Punkt zurück, von dem wir abgeirrt waren. Unsere Seele wird wiederhergestellt; aber wir haben Zeit verloren und einen unberechenbaren Verlust erlitten. Wie ernst ist das, und wie sollte uns das dazu bringen, dass wir mit heiliger Wachsamkeit leben, so dass wir unseren Weg nicht zweimal machen müssen und verlieren, was nie wieder gewonnen werden kann! Wohl geben uns unsere Verirrungen, unser Straucheln und unser Fallen einen Einblick in unser Herz; diese Erfahrungen lehren uns, uns selbst zu misstrauen, und sie zeigen uns die unveränderte Gnade Gottes. Aber wie wahr das auch ist, so gibt es doch ein viel besseres Mittel, uns selbst und Gott kennen zu lernen, als dies, dass wir uns verirren und fallen. Das Ich in der ganzen schrecklichen Bedeutung dieses Wortes sollte in dem Licht der Gegenwart Gottes gerichtet werden, und hier sollte auch unsere Seele wachsen in der Erkenntnis Gottes, so wie Er sich durch den Heiligen Geist in Jesus Christus und in der Heiligen Schrift offenbart. Das ist gewiss ein besserer Weg, um sowohl uns selbst als auch Gott kennen zu lernen, und das ist auch die Kraft aller wirklichen nasiräischen Absonderung.
Das Ende der nasiräischen Absonderung
Der Abschnitt schließt mit dem „Gesetz des Nasirs“ (V. 13–21). Dieses Gesetz lenkt unseren Blick vorwärts auf etwas Zukünftiges, auf die Zeit, wo das ganze Ergebnis des Werkes Christi ans Licht treten wird und Er am Ende seiner nasiräischen Absonderung als der Messias Israels wahre Freude an seinem geliebten Volk und an dieser Erde haben wird. Dann wird für den Nasir die Zeit gekommen sein, Wein zu trinken. Von alledem hielt er sich getrennt, um das große Werk zu vollbringen, das nach allen seinen Seiten und in allen seinen Bedeutungen in dem „Gesetz des Nasirs“ dargestellt ist. Er ist von dem Volk getrennt, von dieser Welt getrennt in der Kraft eines vollkommenen Nasirs, so wie Er in jener denkwürdigen Nacht zu seinen Jüngern sagte: „Ich werde von jetzt an nicht von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis zu jenem Tag, wenn ich es neu mit euch trinke in dem Reich meines Vaters“ (Mt 26,29).
Doch der strahlende Tag kommt, an dem der HERR und Messias über Jerusalem frohlocken und an seinem Volk sich erfreuen wird. Die Propheten von Jesaja bis Maleachi sind voll herrlicher Hinweise auf diesen glänzenden und segensreichen Tag. Wenn man z. B. die letzten Kapitel des Propheten Jesaja nachschlägt, findet man eine Probe davon. Aber auch in den anderen prophetischen Büchern gibt es viele ähnliche Stellen. Nur möge man sich nicht irre machen lassen durch die in manchen Bibelübersetzungen enthaltenen, nicht zum Text gehörenden Überschriften, die sich auf die Zukunft Israels beziehen; die Überschriften lauten da z. B. manchmal: „Die Segnungen des Evangeliums“, „die Ausbreitung der Versammlung“ usw. In Wirklichkeit wird vom Anfang bis zum Ende der Propheten nicht eine Silbe von der Versammlung gesagt. Dass die Versammlung in diesem Teil des inspirierten Wortes wertvolle Belehrungen, Trost und Erbauung finden kann, ist wahr, und ebenso wahr ist es, dass in „Mose und den Propheten“ überall Dinge sind, die den Herrn selbst betreffen. Das geht aus Lukas 24,27 klar hervor. Aber es bezieht sich auf ihn in seiner Regierung über diese Welt und insbesondere über Israel. Wenn wir diese Tatsache nicht begreifen, so werden wir das Alte Testament mit wenig Verständnis und Nutzen lesen.
Die Versammlung ist nicht Gegenstand des Alten Testaments
Vielleicht mag es manchem als starke Behauptung erscheinen, wenn man sagt, dass sich im ganzen Alten Testament keine Spur von der Versammlung findet. Jedoch einige Zeilen, die der Apostel Paulus schrieb, werden die Frage für jeden lösen, der sich wirklich der Autorität der Heiligen Schrift unterwerfen will. So lesen wir in Römer 16,25–26: „Dem aber, der euch zu befestigen vermag nach meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, nach der Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten hindurch verschwiegen war, jetzt aber offenbart und durch prophetische Schriften [offenbar des Neuen Testaments], nach Befehl des ewigen Gottes, zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan worden ist.“
Ebenso lesen wir in Epheser 3: „Deshalb ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch, die Nationen – wenn ihr nämlich gehört habt von der Verwaltung der Gnade Gottes, die mir in Bezug auf euch gegeben ist, dass mir durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan worden ist – wie ich es zuvor in kurzem beschrieben habe, woran ihr beim Lesen mein Verständnis in dem Geheimnis des Christus wahrnehmen könnt –, das in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden ist, wie es jetzt offenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geist1: dass die aus den Nationen Miterben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber der Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium … Mir, dem allergeringsten von allen Heiligen, ist diese Gnade gegeben worden, den Nationen den unergründlichen Reichtum des Christus zu verkünden und alle zu erleuchten, welches die Verwaltung des Geheimnisses sei, das von den Zeitaltern her verborgen war in Gott, der alle Dinge geschaffen hat; damit jetzt den Fürstentümern und den Gewalten in den himmlischen Örtern durch die Versammlung kundgetan werde die mannigfaltige Weisheit Gottes“ (V. 1–10).
Doch können wir dieses Thema, so interessant es ist, hier nicht weiter verfolgen. Wir haben diese Schriftstellen nur angeführt, um zu zeigen, dass sich die Lehre über die Versammlung, wie Paulus sie mitgeteilt hat, im Alten Testament nirgends findet. Wenn man daher in den Büchern der Propheten des Alten Testaments die Wörter „Israel“, „Jerusalem“, „Zion“ liest, sind diese Ausdrücke nicht auf die Versammlung Gottes anzuwenden; diese Ausdrücke meinen das eigentliche Volk Israel, die Nachkommen Abrahams, das Land Kanaan und die Stadt Jerusalem. 2
Die endgültige Segnung des Volkes Israel
Hiermit sind wir am Schluss eines deutlichen Abschnittes des vierten Buches Mose angelangt. Das Lager ist in passender Weise eingerichtet.
Jeder Krieger nimmt seinen besonderen Platz ein (Kap. 1 u. 2). Jeder Arbeiter ist an seine eigene Arbeit gestellt (Kap. 3 u. 4). Die Versammlung ist von Verunreinigung gereinigt (Kap. 5), und für den erhabenen Charakter der Absonderung für Gott ist Vorsorge getroffen (Kap. 6). Alles das ist sehr genau beschrieben. Die Ordnung ist von beeindruckender Schönheit. Wir haben nicht nur ein gereinigtes und wohlgeordnetes Lager vor uns, sondern auch eine Weihe für Gott, die unmöglich höher sein könnte und die in vollkommener Weise allein in dem Leben unseres Herrn Jesus Christus selbst zu sehen ist. Nachdem dieser Punkt erreicht ist, bleibt für den HERRN nur noch eins: seinen Segen über die ganze Versammlung auszusprechen, und wir finden demzufolge auch diesen Segen am Ende des 6. Kapitels.
„Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu Aaron und zu seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr die Kinder Israel segnen; sprecht zu ihnen: Der HERR segne dich und behüte dich! Der HERR lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig! Der HERR erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden! Und so sollen sie meinen Namen auf die Kinder Israel legen, und ich werde sie segnen“ (V. 22–27).
Dieser reiche Segen strömt durch den Kanal des Priestertums. Aaron und seine Söhne werden beauftragt, den Segen auszusprechen. Die Gemeinde Gottes muss fortwährend von dem HERRN gesegnet und bewahrt werden. Immer soll sie sich freuen über das gnadenvolle Angesicht des HERRN. Ihr Friede soll fließen wie ein Strom. Der Name des HERRN soll über der Gemeinde angerufen werden. Er ist immer da, um zu segnen.
Was für eine Vorsorge! Hätte doch Israel davon wirklich Gebrauch gemacht, hätte es doch in dieser Kraft gelebt! Aber das Volk tat es nicht. Sie wandten sich schnell ab, wie wir sehen werden. Sie vertauschten das Licht des Angesichts Gottes mit der Finsternis des Berges Sinai. Sie verließen den Boden der Gnade und stellten sich unter das Gesetz. Anstatt mit dem zufrieden zu sein, was ihnen in dem Gott ihrer Väter zugeteilt worden war, gelüstete es sie nach anderen Dingen (vgl. Ps. 105 u. 106). Anstelle der Ordnung, der Reinheit und der Absonderung für Gott, womit unser Buch beginnt, sehen wir Unordnung, Unreinheit und Hingabe an den Götzendienst.
Doch es kommt der Augenblick, wo der herrliche Segen von 4. Mose 6 seine volle Verwirklichung finden wird: dann nämlich, wenn die zwölf Stämme Israels um das unvergängliche Banner „Der HERR ist hier“ (Hes 48,35) versammelt, wenn sie von all ihrer Befleckung gereinigt und in der Kraft wahrer Nasire dem Herrn geweiht sein werden. Diese Dinge werden überall in den Propheten sehr klar dargestellt. Alle diese inspirierten Zeugen geben ohne Ausnahme Zeugnis von der zukünftigen Herrlichkeit, die das Volk Israel noch erwartet. Sie alle weisen auf die Zeit hin, wo die schweren Wolken, die sich am Horizont der Völker gesammelt haben, durch die glänzenden Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit aufgelöst werden. Dann wird Israel einen wolkenlosen Tag des Segens und der Herrlichkeit genießen, und zwar unter den Weinstöcken und Feigenbäumen des Landes, das Gott einst Abraham, Isaak und Jakob zum ewigen Besitztum gab.
Wollen wir das Gesagte leugnen, so müssen wir einen großen Teil des Alten und einen beträchtlichen Teil des Neuen Testaments aus unserer Bibel herausschneiden; denn in dem einen wie in dem anderen bezeugt der Heilige Geist klar und unwiderleglich die wunderbare Tatsache der Gnade, des Heils und des Segens für die Nachkommen Jakobs. Es gibt für das geliebte, obwohl jetzt verworfene Volk Gottes eine glänzende Zukunft. Achten wir darauf, wie wir diese Tatsache behandeln! Es ist sehr ernst, wenn man versucht, in irgendeiner Weise seine eigenen Gedanken mit dem Wort Gottes zu vermischen. Wenn Gott sich selbst verpflichtet hat, das Volk Israel zu segnen, so sollten wir uns hüten, den Strom des Segens in eine andere Richtung zwingen zu wollen. Gott hat erklärt, dass es sein Vorsatz sei, den Nachkommen Jakobs das Land Kanaan zum ewigen Besitz zu geben. Wenn dies infrage gestellt wird, dann kann kein Teil des Wortes Gottes mehr mit Sicherheit als unangreifbar betrachtet werden. Wenn wir uns erlauben, einen großen Teil des inspirierten Kanons leichtfertig zu behandeln – und wir tun dies sicherlich, wenn wir das, was er sagt, umzudeuten suchen –, welche Sicherheit haben wir dann überhaupt in Bezug auf die Anwendung der Schrift? Wenn unterstellt wird, dass Gott nicht meint, was Er sagt, wenn Er von Israel und dem Land Kanaan spricht, wie wissen wir dann, dass Er meint, was Er sagt, wenn Er von der Versammlung und von ihrem himmlischen Teil in Christus redet? Wenn Israel seiner herrlichen Zukunft beraubt wird, welche Sicherheit hat dann der Christ für seine Zukunft?
Denken wir daran, dass, „so viele der Verheißungen Gottes sind, in ihm das Ja, darum auch durch ihn das Amen“ (2. Kor 1,20) ist! Wenn wir uns darüber freuen, dass diese wichtige Feststellung im Blick auf uns selbst gilt, lasst uns nicht versuchen, abzustreiten, dass sie auch für andere wahr ist! Ja, die Kinder Israel werden noch den vollen Segen genießen, der uns am Ende des 6. Kapitels vorgestellt wird. Bis dahin ist die Versammlung berufen, sich über die ihr gehörenden besonderen Segnungen zu freuen. Sie hat das Vorrecht, Gott immer in ihrer Mitte zu wissen, in dem Licht seines Angesichts zu wohnen, aus dem Strom des Friedens zu trinken und durch ihn, der nie schlummert noch schläft, von Tag zu Tag gesegnet und bewahrt zu werden. Aber beherzigen wir doch auch immer, dass die praktisch erfahrene Freude an diesen unendlichen Segnungen und Vorrechten genau im Verhältnis steht zu dem Maß, in dem die Versammlung die Ordnung, die Reinheit und die nasiräische Absonderung zu bewahren sucht, wozu sie als die Wohnung Gottes, als der Leib Christi und der Tempel des Heiligen Geistes berufen ist!
Möchten diese Dinge unsere Herzen durchdringen und ihren heiligenden Einfluss auf unser ganzes Leben und auf unser ganzes Wesen ausüben!
Fußnoten
- 1 Die Propheten, von denen hier die Rede ist, sind, wie aus der Form des Ausdrucks hervorgeht, diejenigen des Neuen Testaments. Hätte der Apostel alttestamentliche Propheten gemeint, so hätte er gesagt: „Seine heiligen Propheten und Apostel“. Aber die Sache, auf die er dringt, ist gerade die, dass das Geheimnis bis zu dieser Zeit nie offenbart worden war, dass es den Söhnen der Menschen in anderen Zeitaltern nicht kundgetan worden ist, dass es in Gott – nicht in den Schriften, sondern in den unendlichen Gedanken Gottes – verborgen war.
- 2 Dies bezieht sich natürlich nur auf das Alte Testament. Es gibt in den Briefen an die Römer und an die Galater Abschnitte, in denen alle Gläubigen als Nachkommen Abrahams betrachtet werden (vgl. Röm 4,9-17; Gal 3,7.9.29; 6,16). Doch ist das augenscheinlich etwas anderes.