Betrachtungen über das dritte Buch Mose
Vorschriften im Einzelnen
„Seid heilig, denn ich bin heilig“
Die Kapitel 18–20 zeigen uns in beachtenswerter Weise die persönliche Heiligkeit und moralische Wohlanständigkeit, die Gott bei denen suchte, die Er in seiner Gnade in Beziehung zu sich gebracht hatte, und sie liefern uns gleichzeitig ein demütigendes Gemälde von den Gräueln, deren die menschliche Natur fähig ist.
„Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Ich bin der HERR, euer Gott“ (Kap. 18,1.2). Hier haben wir die Grundlage für das ganze moralische Verhalten, das uns in diesen Kapiteln vor Augen gestellt wird. Die Handlungen Israels mussten der Tatsache entsprechen, dass der HERR ihr Gott war. Sie waren berufen, sich dieser hohen und heiligen Stellung würdig zu betragen. Gott hatte sich herabgelassen, seinen Namen mit diesem Volk zu verbinden, und nun war es sein Recht, ihnen Richtlinien für ihr Verhalten und ihr Tun zu geben. Daher die häufige Wiederholung der Worte: „Ich bin der HERR“ – „Ich bin der HERR, euer Gott“ – „Ich bin der HERR, der euch heiligt“. Der HERR war ihr Gott und Er war heilig und darum waren auch sie zur Heiligkeit berufen. Bei ihrem Verhalten und bei allen ihren Handlungen stand sein Name auf dem Spiel.
Das ist der wahre Grundsatz der Heiligkeit für das Volk Gottes zu allen Zeiten. Die Gläubigen müssen beherrscht und charakterisiert werden durch die Offenbarung, die Gott von sich selbst gegeben hat. Ihr Verhalten muss auf das, was Er ist, und nicht auf das, was sie in sich selbst sind, gegründet sein. Das ist etwas völlig anderes als der Grundsatz, der sich in den Worten ausdrückt: „Bleib für dich und nahe mir nicht, denn ich bin dir heilig“ (Jes 65,5) – ein Grundsatz, den jeder, der mit Gottes Gedanken einigermaßen vertraut ist, mit Recht zurückweist. Es handelt sich in unserem Abschnitt nicht um den Vergleich eines Menschen mit einem anderen, sondern um eine einfache Darstellung des Verhaltens, das Gott von denen erwartet, die ihm angehören.
Sowohl die Ägypter als auch die Kanaaniter befanden sich auf einem verkehrten Weg (V. 3). Das war Gottes Urteil über diese Völker. Es handelte sich nicht um das Urteil eines Israeliten im Gegensatz zu dem Urteil eines Ägypters oder eines Kanaaniters, sondern einfach um das über alles erhabene Urteil Gottes. Ägypten mochte seine Gewohnheiten und Meinungen haben und ebenso Kanaan, aber für Israel galt, was Gott in seinem Wort niedergelegt hatte. „Meine Rechte sollt ihr tun, und meine Satzungen sollt ihr halten, um darin zu wandeln. Ich bin der HERR, euer Gott. Und meine Satzungen und meine Rechte sollt ihr halten, durch die der Mensch, wenn er sie tut, leben wird. Ich bin der HERR“ (V. 4.5).
Das Wort Gottes muss jede Frage entscheiden und jedes Gewissen leiten. Gegen seine ernste und gewichtige Entscheidung darf keine Berufung eingelegt werden. Wenn Gott spricht, so muss jedes Herz sich beugen. Die Menschen mögen ihre Meinungen bilden und aufrechterhalten, sie mögen sich allerlei Gewohnheiten aneignen und sie verteidigen, aber einer der schönsten Züge in dem Charakter des „Israel Gottes“ ist die von tiefer Ehrfurcht begleitete, unbedingte Unterwerfung unter „alles, das aus dem Mund Gottes hervorgeht“ (5. Mo 8,3). Es hat mit Hochmut nichts zu tun, wenn wir uns vor den Zeugnissen des inspirierten Wortes ehrfürchtig beugen. Nichts liegt dem Eigendünkel ferner, als sich uneingeschränkt der göttlichen Autorität der Heiligen Schrift zu unterwerfen.
Allerdings sollten wir immer darauf achten, dass wir im rechten Ton von der Autorität für unsere Überzeugungen und unser Verhalten reden. Es muss so weit wie möglich deutlich werden, dass wir uns einzig und allein durch das Wort Gottes und nicht durch unsere eigenen Meinungen leiten lassen. Wir sind immer in Gefahr, auf irgendeine Meinung besonderen Wert zu legen, bloß weil wir sie angenommen haben. Gegen diese Gefahr müssen wir auf der Hut sein. Das eigene Ich kann sich ebenso gut bei der Verteidigung unserer Meinungen einschleichen und seine Hässlichkeit entfalten wie bei irgendeiner anderen Sache, aber wir müssen ihm entgegentreten, in welcher Form es sich auch zeigen mag, und uns in allen Dingen leiten lassen durch ein „So spricht der HERR!“.
Dann aber dürfen wir auch nicht erwarten, dass jeder sofort bereit ist, die volle Kraft der Anordnungen Gottes anzuerkennen. Je nachdem jemand in der Lauterkeit und Kraft der göttlichen Natur lebt, wird er auch das Wort Gottes anerkennen, schätzen und ehren. Die Ägypter und Kanaaniter waren unfähig, die Bedeutung und den Wert jener Anordnungen, die dem Verhalten des Volkes Gottes zur Richtschnur dienen sollten, zu verstehen oder zu würdigen, aber dies berührte nicht die Frage des Gehorsams der Kinder Israel. Sie waren in ein bestimmtes Verhältnis zu dem HERRN gebracht, und dieses Verhältnis hatte seine besonderen Vorrechte und Verantwortlichkeiten. „Ich bin der HERR, euer Gott.“ Das musste die Grundlage ihres Verhaltens bilden. Sie hatten in einer Weise zu handeln, die dessen würdig war der ihr Gott geworden war und der sie zu seinem Volk erkoren hatte. Nicht dass sie ein Tüttelchen besser gewesen wären als andere Völker. Keineswegs. Die Ägypter und Kanaaniter mögen gedacht haben, dass die Israeliten sich einbildeten, höher zu stehen als sie, weil sie sich weigerten, ihre Gebräuche anzunehmen. Aber der tatsächliche Grund zu ihrem besonderen Verhalten lag in den Worten: „Ich bin der HERR, euer Gott.“
In dieser großen Realität, die auch in praktischer Hinsicht so wichtig ist, gab der HERR den Seinen eine unveränderliche Grundlage für ihr Betragen und einen Maßstab für ihre Ethik, der ebenso erhaben und dauerhaft war wie der ewige Thron selbst. Von dem Augenblick an, wo Er sich mit einem Volk verband, mussten dessen Sitten einen Charakter annehmen, der seiner würdig war. Es handelte sich nicht länger darum, was die Israeliten in sich selbst oder im Vergleich mit anderen waren, sondern darum, was Gott im Vergleich mit allen war. Das eigene Ich zum Grund meines Handelns oder zum Maßstab meiner Ethik zu machen, ist nicht nur Torheit, sondern bringt mich auch auf eine abschüssige Bahn. Wenn es mir nur um das eigene Ich geht, muss ich mit jedem Tag tiefer sinken. Stelle ich aber den Herrn beständig vor meine Augen (Ps 16,8), so werde ich mich höher und höher erheben; durch die Kraft des Heiligen Geistes wachse ich zur Gleichförmigkeit mit jenem vollkommenen Vorbild heran, das dem Auge des Glaubens in der Heiligen Schrift enthüllt ist. Ohne Zweifel werde ich mich in den Staub beugen müssen, wenn ich sehe, wie weit ich hinter dem gesteckten Ziel zurückbleibe, aber dennoch werde ich mir keinen niedrigeren Maßstab wünschen, und ebenso wenig werde ich befriedigt sein, solange ich nicht in allen Dingen ihm gleich bin, der mein Stellvertreter am Kreuz war und nun mein Vorbild in der Herrlichkeit ist.
Wozu der Mensch alles fähig ist
Nach diesen Andeutungen über den Hauptgedanken dieses Abschnitts wird es kaum nötig sein, zu einer näheren Erläuterung der einzelnen Anordnungen überzugehen, da diese klar für sich selbst reden. Ich möchte nur noch bemerken, dass diese Anordnungen sich in zwei Hauptklassen einteilen lassen, in solche nämlich, die die schändlichen Gräuel behandeln, die aus dem menschlichen Herzen kommen, und in solche, die uns die bewundernswerte Zärtlichkeit und Sorge des Gottes Israels vor Augen stellen.
Es liegt auf der Hand, dass der Heilige Geist nie Gesetze hätte aufstellen können in der Absicht, Übeln vorzubeugen, die nicht bestanden. Er baut keinen Damm auf, wo es keiner Flut Widerstand zu bieten gilt. Er beschäftigt sich nicht mit wesenlosen Vorstellungen, sondern mit Wirklichkeiten. Der Mensch ist zur Ausübung eines jeden der in diesem Kapitel aufgezählten scheußlichen Verbrechen fähig. Sonst wäre es nicht nötig gewesen, ihm diese Dinge zu verbieten. Für Engel wäre ein solches Gesetzbuch überflüssig, da sie unfähig sind, die angedeuteten Sünden zu begehen, aber für den Menschen ist es durchaus am Platz, weil er den Keim zu diesen Sünden in seiner Natur trägt. Das ist sehr demütigend. Es ist ein neues Zeugnis dafür, dass der Mensch eigentlich ein Wrack ist. Im Licht der Gegenwart Gottes betrachtet ist vom Scheitel bis zur Fußsohle nichts Gesundes an ihm. Das Wesen, für das der HERR es nötig erachtet hat, solche Worte niederschreiben zu lassen, muss tief gefallen sein, und dieses Wesen ist der Mensch. Wie wahr ist es: Die, „die im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen“. Gott sei Dank! Der Gläubige „ist nicht im Fleisch, sondern im Geist“ (Röm 8,8.9). Er ist seiner Stellung nach völlig aus der alten Schöpfung herausgenommen und in die neue Schöpfung gebracht worden, in der die in unserem Schriftabschnitt angedeuteten sittlichen Übel nicht bestehen können. Wohl trägt er die alte Natur noch in sich, aber es ist sein Vorrecht, sich als gestorben zu betrachten und in der beständigen Kraft der neuen Schöpfung zu leben, in der „alle Dinge aus Gott sind“ (1. Kor 8,6). Das ist christliche Freiheit, die Freiheit, sich frei bewegen zu können in jener herrlichen Schöpfung, in der niemals eine Spur von Sünde gefunden werden wird, es ist die Freiheit, in Reinheit und Heiligkeit vor Gott und Menschen jenen erhabenen Weg persönlicher Heiligkeit zu gehen, auf den das Vaterauge Gottes stets mit Freude blickt. Das ist die christliche Freiheit. Der Gläubige muss nicht mehr in die Sünde einwilligen, sondern er darf die himmlische Schönheit eines Lebens wahrer Heiligkeit und sittlicher Erhabenheit genießen.
Rücksicht auf den Armen und den Fremden
Und nun noch ein Wort über die Anordnungen, in denen die Zärtlichkeit und Fürsorge Gottes so rührend ans Licht tritt. Lesen wir z. B. folgende Worte: „Und wenn ihr die Ernte eures Landes erntet, so sollst du den Rand deines Feldes nicht vollständig abernten und sollst keine Nachlese deiner Ernte halten. Und in deinem Weinberg sollst du nicht nachlesen, und die abgefallenen Beeren deines Weinbergs sollst du nicht auflesen: Für den Armen und für den Fremden sollst du sie lassen. Ich bin der HERR, euer Gott“ (Kap. 19,9.10) Dieser Verordnung werden wir im 23. Kapitel noch einmal begegnen, und zwar dort in ihrer prophetischen Bedeutung. Hier betrachten wir sie von einem moralischen Gesichtspunkt aus, als eine Entfaltung der großen Gnade des Gottes Israels. Er gedachte des „Armen“ und des „Fremden“, und Er wollte, dass sein Volk diese Gedanken mit ihm teilt. Wenn die goldenen Garben eingeerntet und die reifen Trauben gesammelt wurden, musste Israel auch des Armen und des Fremden gedenken, weil der HERR der Gott Israels war. Der Schnitter und der Winzer sollten nicht von einem Geist gieriger Habsucht beseelt sein, die die Ränder des Feldes kahl macht und den Weinstock bis auf die letzte Beere aberntet, sondern vielmehr von dem Geist jenes weitherzigen Wohlwollens, das für den Armen und den Fremden eine Garbe oder eine Traube übrig lässt, damit auch sie sich der unumschränkten Güte des Gebers erfreuen können, „dessen Spuren von Fett triefen“ (Ps 65,12) und auf dessen geöffnete Hand jedes bedürftige Menschenkind mit Zuversicht vertrauen darf.
Das Buch Ruth liefert uns ein schönes Beispiel von einem Mann, der ganz in dem Geist dieser wohlwollenden Anordnung handelte (Rt 2,14–16). Es ist heilsam für unsere armen, selbstsüchtigen Herzen, mit solch einer Güte in Berührung zu kommen. Welch ein Zartgefühl spricht aus den Worten: „Ihr sollt sogar aus den Bündeln Ähren für sie herausziehen!“ Es war offensichtlich der Wunsch dieses edelmütigen Israeliten, dass die „Fremde“ Überfluss haben sollte, und dies mehr als ein Ergebnis ihres Sammelns, als seiner Wohltätigkeit. Es hieß, die arme Moabitin in unmittelbare Verbindung mit dem Gott Israels zu bringen, der so reichlich für den „Nachleser“ gesorgt hatte. Dieselbe Gnade, die Boas das Feld gegeben hatte, schenkte Ruth die Nachlese. Beide waren Schuldner der Gnade. Sie war die glückliche Nutznießerin der Güte des HERRN, und er der bevorzugte Ausführende seines gnadenreichen Gebots. Alles zeigte sich in wunderbarer Ordnung. Das Geschöpf war gesegnet und Gott wurde verherrlicht. Wer wollte leugnen, dass es heilsam für uns ist, eine solch reine Luft einzuatmen?
Der gerechte Lohn des Arbeiters
Wenden wir uns zu einer anderen Verordnung unseres Abschnitts: „Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken und sollst ihn nicht berauben. Der Lohn des Tagelöhners soll nicht über Nacht bei dir bleiben bis an den Morgen“ (Kap. 19,13). Hier haben wir die gleiche zärtliche Fürsorge. Der „Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt“ (Jes 57,15), nimmt Kenntnis von den Gedanken und Gefühlen, die in dem Herzen eines armen Tagelöhners aufsteigen. Der Arbeiter rechnet auf seinen Lohn. Der Lebensunterhalt seiner Familie hängt davon ab. Und Gott sagt gleichsam: „Enthalte ihm seinen Lohn nicht vor! Sende den Arbeiter nicht mit einem beschwerten Herzen heim, damit nicht das Herz seiner Frau und seiner Kinder ebenfalls beschwert wird. Gib ihm in jedem Fall den Lohn, auf den er ein Recht hat und nach dem er verlangt. Täusche ihn nicht in seinen Erwartungen. Gib ihm, was ihm zukommt.“ So nimmt Gott Notiz von den Gedanken des Arbeiters und trägt Sorge für die von ihm gehegten Erwartungen. Welch eine Gnade! Welch eine zärtliche, herablassende Liebe! Könnte jemand solche Stellen lesen, ohne davon berührt zu werden? Könnte jemand sie lesen und einen Arbeiter gedankenlos abweisen, ohne zu wissen, ob dieser mit seiner Familie ausreichend versorgt ist?
Der „Herr Zebaoth“ hört den Schrei des bekümmerten und in seinen Erwartungen getäuschten Arbeiters (vgl. Jak 5,4). Seine Liebe leuchtet aus den Verordnungen seiner Regierung hervor, und sollte unser Herz nicht durch die Gnade, die sich in diesen Verordnungen zeigt, erweicht werden, so sollten wir doch wenigstens empfinden, wie gerecht sie sind und uns dementsprechend verhalten. Gott wird nicht zulassen, dass der Arme um seine rechtmäßigen Forderungen betrogen wird durch solche, deren Herzen durch den Reichtum gefühllos geworden sind und die nicht bedenken, wie es einem Mann zumute ist, der seine Tage unter schwerer Arbeit oder gar in tatsächlicher Not zubringen muss. Die Armen sind besondere Gegenstände der Fürsorge Gottes. Immer und immer wieder denkt Er an sie in den Anordnungen seiner Regierung, und von ihm, der bald in der offenbarten Herrlichkeit die Zügel des Regiments in die Hand nehmen wird, wird mit Bestimmtheit angekündigt: „Denn erretten wird er den Armen, der um Hilfe ruft, und den Elenden, der keinen Helfer hat; er wird sich des Geringen und des Armen erbarmen, und die Seelen der Armen wird er retten. Von Bedrückung und Gewalttat wird er ihre Seele erlösen, und ihr Blut wird teuer sein in seinen Augen“ (Ps 72,12–14).
Möchten wir doch Nutzen ziehen aus der Betrachtung dieser so praktischen Wahrheiten! Möchte unser Leben unter ihrem Einfluss stehen! Wir leben in einer herzlosen Welt, und in unseren eigenen Herzen gibt es viel Selbstsucht. Der Gedanke an die Not anderer bewegt unser Herz oft wenig. Wenn aber schon die Juden durch die Gesetze und Verordnungen der mosaischen Haushaltung belehrt wurden, freundliche Gefühle gegen die Armen zu haben und gütig und liebreich zu sein gegen alle, die schwere Arbeiten zu verrichten hatten, wie viel mehr sollte die erhabenere und geistlichere Sittenlehre des Evangeliums in jedem Christen ein weitherziges Wohlwollen gegen alles menschliche Elend hervorrufen! Jeder Arbeitgeber sollte auch, so viel an ihm ist, Sorge tragen, dass das verdiente Brot ausreicht. Der Mensch sorgt für seine Pferde und hält sie gut instand. Wie viel mehr sollte er für seinen Mitmenschen besorgt sein, der vom Montag bis zum Samstag für ihn arbeitet.
„Aber“, wird vielleicht jemand einwenden, „jedes Ding hat seine zwei Seiten.“ Das stimmt zweifellos, und sicher findet sich unter den Armen manches, was den Wert der Wohltätigkeit und des wahren Mitgefühls fragwürdig erscheinen lässt – manches, was das Herz verhärten und die Hand verschließen will. Aber eins steht fest: Es ist besser, in neunundneunzig von hundert Fällen getäuscht zu werden, als einem einzigen wirklich Bedürftigen gegenüber das Herz zu verschließen. Unser himmlischer Vater lässt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Dieselben Sonnenstrahlen, die das Herz eines treuen Dieners Christi erfreuen, fallen auch auf den Pfad eines gottlosen Sünders, und derselbe Regenschauer, der auf das Feld eines wahren Gläubigen fällt, tränkt auch die Furchen des Gotteslästerers. Das sollte uns stets als Vorbild dienen. „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48). Nur dann, wenn wir den Herrn stets vor uns stellen und in der Kraft seiner Gnade leben, werden wir fähig sein, allem menschlichen Elend mit einem wohlwollenden Herzen und einer offenen Hand zu begegnen. Nur insofern wir aus der nie versiegenden Quelle der Liebe und Güte Gottes trinken, werden wir imstande sein, die menschliche Not zu lindern, ohne uns durch die immer wiederkehrende Erfahrung menschlicher Verdorbenheit ermüden zu lassen. Unser winziges Bächlein wird bald austrocknen, wenn es nicht in ununterbrochener Verbindung mit der ewig sprudelnden Quelle bleibt.
Fürsorge für den Tauben und den Blinden
Auch die nächste Verordnung liefert uns wieder ein Beispiel von der zärtlichen Fürsorge des Gottes Israels. „Du sollst einem Tauben nicht fluchen und vor einen Blinden keinen Anstoß legen, und du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Ich bin der HERR“ (V. 14). Hier wird der Reizbarkeit, mit der die menschliche Natur dem Gebrechen der Taubheit so leicht begegnet, eine Schranke gesetzt. Wir finden es lästig, unsere Worte öfter wiederholen zu müssen, um uns so einem Schwerhörigen verständlich zu machen. Der HERR dachte daran und traf seine Vorkehrungen. Und in welcher Weise? „Du sollst dich fürchten vor deinem Gott.“ Wenn du durch das Zusammentreffen mit einem Tauben auf die Probe gestellt wirst, so erinnere dich des Herrn und bitte ihn um Gnade. Er schenkt dir Ruhe und du bleibst vor der Reizbarkeit bewahrt.
Der zweite Teil dieser Verordnung offenbart einen tief demütigenden Grad von Bosheit in der menschlichen Natur. Gibt es wohl eine größere Bosheit, als wenn jemand einem Blinden einen Anstoß in den Weg legt? Und doch ist der Mensch dazu fähig, sonst würde es nicht nötig sein, ihn davor zu warnen. Ohne Zweifel lässt diese Verordnung, wie so viele andere, eine geistliche Anwendung zu, aber dies schließt keineswegs die darin ausgedrückte ursprüngliche wörtliche Bedeutung aus. Der Mensch ist fähig, in den Weg eines durch Blindheit ohnehin schwer genug geprüften Mitmenschen einen Anstoß zu legen. Wahrlich, der Herr wusste, was in dem Menschen war, als Er die Rechte und Satzungen des dritten Buches Mose niederschreiben ließ (Joh 2,25).
Ich überlasse es dem Leser, über den Rest unseres Abschnittes allein nachzudenken. Er wird finden, dass jede Verordnung eine zweifache Unterweisung in sich schließt, eine bezüglich der bösen Neigungen der menschlichen Natur, und eine zweite hinsichtlich der väterlichen Fürsorge des HERRN.
Üble Nachrede
Die Verse 16 und 17 erfordern noch einen Hinweis. „Du sollst nicht als ein Verleumder unter deinen Völkern umhergehen.“ Das ist eine äußerst wichtige Ermahnung für das Volk Gottes zu allen Zeiten. Ein Verleumder richtet unberechenbares Unheil an. Mit Recht ist gesagt worden, dass der Verleumder drei Personen benachteiligt: sich selbst, den Zuhörer und den Verleumdeten. Alles das tut er unmittelbar, und wer könnte die indirekten Folgen seines Tuns berechnen? Möchte doch nie ein verleumdendes Wort über unsere Lippen kommen und bleiben wir nie stehen, um einem Verleumder zuzuhören! Weisen wir stets eine verleumdende Zunge mit gerechtem Unwillen ab! Der 17. Vers zeigt uns, was statt Verleumdung und Ohrenbläserei getan werden sollte: „Du sollst deinen Nächsten ernstlich zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld trägst.“ Anstatt über meinen Nächsten mit anderen zu sprechen, bin ich berufen, mich direkt an ihn selbst zu wenden und ihn, wenn es nötig ist, zurechtzuweisen. Das ist die göttliche Weise, während Satan es liebt, als Verleumder zu handeln.