Betrachtungen über das dritte Buch Mose
Reinheit im Kindbett
Der Mensch, in Sünde empfangen und geboren
Dieser kurze Abschnitt belehrt uns in seiner eigenartigen Weise über eine zweifache Wahrheit, nämlich über den Fall des Menschen und über das Heilmittel Gottes. Die Belehrung ist klar und eindrucksvoll. Sie ist demütigend und ermutigend zugleich. Wenn die Heilige Schrift der Seele durch die Kraft des Heiligen Geistes ausgelegt wird, so führt sie uns aus uns selbst heraus zu Christus. Wo wir auch unsere gefallene Natur sehen und auf welcher Stufe ihrer Geschichte wir sie betrachten mögen, sei es bei ihrer Empfängnis, bei ihrer Geburt oder bei irgendeinem Punkt unseres Lebenslaufs von der Wiege bis zum Grab, stets trägt sie das zweifache Kennzeichen der Hinfälligkeit und der Befleckung an sich. Diese Tatsache wird oft inmitten des Glanzes des menschlichen Lebens vergessen. Der Geist des Menschen ist reich an Erfindungen, um seinen demütigenden Zustand zu verdecken. Er sucht ihn auf allerlei Weise zu verzieren und zu vergolden und sich den Schein von Kraft und Herrlichkeit zu geben. Aber alle seine Anstrengungen sind vergeblich. Wir brauchen nur daran zu denken, wie der Mensch als ein armseliges, hilfloses Wesen in diese Welt eintritt oder wie er sie verlässt und wieder zu Staub wird, um einen unwiderlegbaren Beweis von der Nichtigkeit seines Stolzes, seiner Eitelkeit und seiner ganzen Herrlichkeit zu haben. Mag sein Weg durch diese Welt auch noch so glänzend und heiter gewesen sein – nackt und hilflos ist er gekommen und inmitten von Krankheit und Tod geht er dahin.
Doch das ist nicht alles. Nicht nur kennzeichnet Hilflosigkeit den Menschen bei dem Eintritt in dieses Leben. Er ist auch unrein und befleckt. „Siehe“, sagt der Psalmist, „in Ungerechtigkeit bin ich geboren, und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen“ (Ps 51,7). „Und wie könnte ein Mensch gerecht sein vor Gott, und wie könnte ein von einer Frau Geborener rein sein?“ (Hiob 25,4). Das vor uns liegende Kapitel belehrt uns, dass mit der Empfängnis und Geburt eines „männlichen Kindes“ für die Mutter eine siebentägige Unreinheit und überdies noch eine dreiunddreißigtägige Absonderung vom Heiligtum verbunden waren. Diese beiden Zeiten verdoppelten sich bei der Geburt eines „weiblichen Kindes“. Redet diese Verordnung nicht laut zu unseren Herzen? Liegt hierin nicht eine demütigende Lehre für uns? Verkündet diese Verordnung nicht unzweideutig, dass der Mensch ein unreines Wesen ist und dass er des Sühnungsblutes bedarf, um gereinigt zu werden? Ohne Zweifel. Der Mensch mag sich einbilden, eine eigene Gerechtigkeit aufrichten zu können. Er mag auf die Würde der menschlichen Natur pochen, mag mit stolzer Miene seinen Weg verfolgen. Aber wenn er ein wenig über unser kurzes Kapitel nachsinnen würde, so würden sein Stolz, seine Anmaßung und seine Gerechtigkeit bald spurlos verschwinden, und er würde stattdessen die Grundlage aller wahren Würde und den festen Grund göttlicher Gerechtigkeit in dem Kreuz unseres Herrn Jesus Christus entdecken.
Wir finden den Schatten dieses Kreuzes in unserem Kapitel in zweifacher Weise: zunächst in der Beschneidung des kleinen Jungen, wodurch es als ein Glied des Israel Gottes in die Gemeinde aufgenommen wurde, und dann in dem Brandopfer und Sündopfer, durch die die Mutter von aller Befleckung gereinigt und fähig gemacht wurde, aufs Neue dem Heiligtum zu nahen und mit den heiligen Dingen in Berührung zu treten. „Und wenn die Tage ihrer Reinigung erfüllt sind für einen Sohn oder für eine Tochter, so soll sie ein einjähriges Lamm bringen zum Brandopfer und eine junge Taube oder eine Turteltaube zum Sündopfer an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft zu dem Priester. Und er soll es vor dem HERRN darbringen und Sühnung für sie tun, und sie wird rein sein von ihrem Blutfluss. Das ist das Gesetz der Gebärenden, bei einem männlichen oder bei einem weiblichen Kind“ (V. 6.7). Der Tod Christi wird uns hier in seinen zwei großen Charakterzügen vor Augen gestellt, und zwar als das einzige Mittel, das der mit der natürlichen Geburt des Menschen verbundenen Befleckung begegnen und sie völlig beseitigen konnte. Bekanntlich stellt das Brandopfer den Tod Christi aus der Sicht Gottes dar, während das Sündopfer mehr das zeigt, was dem Bedürfnis des Sünders entspricht.
Das Versöhnungsblut reicht für jeden
„Und wenn ihre Hand das zu einem Schaf Erforderliche nicht aufbringen kann, so soll sie zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben nehmen, eine zum Brandopfer und eine zum Sündopfer; und der Priester soll Sühnung für sie tun, und sie wird rein sein“ (V. 8). Nichts als Blutvergießung konnte Reinheit verschaffen. Das Kreuz ist das einzige Heilmittel für die Schwachheit und Unreinheit des Menschen. Wo dieses herrliche Werk im Glauben erfasst wird, da wird auch eine vollkommene Reinheit empfunden. Das Erfassen mag schwach, der Glaube schwankend und die Erfahrung gering sein, aber stets dürfen wir uns zu unserem Trost daran erinnern, dass es nicht die Tiefe unserer Erfahrung noch die Festigkeit unseres Glaubens noch endlich die Kraft unseres Erfassens ist, worauf es ankommt, sondern vielmehr der göttliche Wert und die unveränderliche Wirksamkeit des Blutes Jesu. Das gibt dem Herzen wahre Ruhe und einen vollkommenen Frieden. Das Opfer des Kreuzes ist für jedes Glied des Israel Gottes stets das Gleiche, mag auch der Zustand der Einzelnen sehr verschieden sein. Die zärtliche Fürsorge unseres Gottes zeigt sich in der Tatsache, dass das Blut einer Turteltaube für den Armen ebenso wirksam war wie das Blut eines Stieres für den Reichen. In beiden wurde gleicherweise der volle Wert des Versöhnungswerkes dargestellt. Wäre dies nicht so gewesen, so hätte bei einer Verunreinigung ein bedürftiger Israelit im Blick auf die großen Herden seines wohlhabenden Nachbarn ausrufen können: „Ach!, was soll ich anfangen? Wie soll ich rein werden? Wodurch soll ich meinen Platz, meine Vorrechte in der Gemeinde wieder gewinnen? Ich habe keine Herde und bin arm!“ Doch Gott sei Dank! Für einen solchen Fall waren geeignete Maßregeln getroffen. Eine Taube und eine Turteltaube genügten völlig. Dieselbe vollkommene und kostbare Gnade finden wir in Kapitel 14 im Blick auf den Aussätzigen (V. 21.30–32).
So begegnet die Gnade einem jeden, wo er ist und wie er ist. Das Versöhnungsblut ist für den Geringsten, den Ärmsten und Schwächsten erreichbar. Jeder, der es nötig hat, kann es empfangen. Der Ausdruck „was seine Hand aufbringen kann“ zeigt, dass selbst für den Bedürftigsten Vorsorge getroffen ist. Welch eine Gnade! „Armen wird das Evangelium verkündigt“ (Lk 4). Niemand kann sagen: „Das Blut Jesu war für mich nicht zu erreichen.“ Jedem wird es nahe gebracht und angeboten. „Ich habe meine Gerechtigkeit nahe gebracht“ (Jes 46,13). Wie nahe? So nahe, dass sie für den, „der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt“ (Röm 4,5) greifbar ist. Und wiederum: „Das Wort ist dir nahe.“ Wie nahe? So nahe, „dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst“ (Röm 10,8.9). Höre die rührende und herrliche Einladung: „He, ihr Durstigen alle, kommt zu den Wassern! Und die ihr kein Geld habt, kommt, kauft ein und esst!“ (Jes 55,1).
Welch eine unvergleichliche Gnade strahlt uns in den Ausdrücken „der nicht wirkt“ und „die ihr kein Geld habt“ entgegen! Sie entsprechen dem Wesen Gottes ebenso sehr, wie sie dem Wesen des Menschen fremd sind. Die Errettung ist ebenso frei wie die Luft, die wir einatmen. Wir erlangen sie ohne eigene Mühe und Anstrengung. Wir zehren von dem Reichtum eines anderen. Wir ruhen in dem vollbrachten Werk eines anderen, und indem wir dies tun, sind wir fähig gemacht, ihm zu dienen.
Die Erniedrigung des Herrn Jesus
Unser Kapitel gibt uns noch eine andere unschätzbare Belehrung. Wir begegnen hier nicht nur der Gnade Gottes für den Armen, sondern wir finden auch, wenn wir den letzten Vers mit Lukas 2,24 vergleichen, die Tiefe, bis zu der Gott herabgestiegen ist, um jede Gnade zu offenbaren. Der Herr Jesus Christus, Gott offenbart im Fleisch, das reine und fleckenlose Lamm, der Heilige, der Sünde nicht kannte, wurde „geboren von einer Frau“, und diese Frau musste – o wunderbares Geheimnis! – nachdem sie das Heilige in ihrem Schoß getragen und jenen reinen, vollkommenen, heiligen und fleckenlosen menschlichen Leib geboren hatte, sich dem gewöhnlichen Zeremoniell unterwerfen und nach dem Gesetz Moses die Tage ihrer Reinigung erfüllen. Und nicht nur in der Tatsache dieser Reinigung selbst, sondern auch in der Art und Weise, in der sie stattfand, entdecken wir die göttliche Gnade. „... und ein Schlachtopfer zu geben nach dem, was im Gesetz des Herrn gesagt ist: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben“ (Lk 2,24). Aus diesem Umstand ersehen wir, dass die Pflegeeltern unseres Heilands so arm waren, dass sie von der gnädigen Vorsorge Gebrauch machen mussten, die Gott für jene getroffen hatte, deren Mittel es nicht erlaubten, „ein Lamm zum Brandopfer“ darbringen zu können. Welch ein Gedanke! Der Herr der Herrlichkeit, der höchste Gott, der Besitzer des Himmels und der Erde, der sagen kann: „Mein ist alles Getier des Waldes, das Vieh auf tausend Bergen“ (Ps 50,10), ja, dem alle Reichtümer des Weltalls gehören – er erscheint in dieser Welt, die seine Hand geschaffen hat, in den ärmlichsten Umständen. Die levitische Haushaltung hatte für die Armen Vorsorge getroffen, und die Mutter Jesu nahm diese für sich in Anspruch. In der Tat, hierin liegt eine tiefe Lehre für das menschliche Herz. Der Herr Jesus erschien in dieser Welt nicht in Verbindung mit den Großen oder den Edlen. Er wurde für uns arm und nahm seinen Platz unter den Armen ein. „Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, da er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet“ (2. Kor 8,9). Er entäußerte sich alles dessen, was die Liebe schenken konnte, damit wir bekleidet und reich werden möchten. Er starb, um uns das Leben zu schenken. In seiner unendlichen Gnade stieg Er von der Höhe göttlichen Reichtums in die Tiefe menschlicher Armut herab, damit wir aus dem Kot des menschlichen Verderbens erhoben und für ewig unter die Fürsten seines Volkes versetzt werden könnten (1. Sam 2,8). Möchte das Bewusstsein dieser Gnade, das durch die Kraft des Heiligen Geistes in unseren Herzen gewirkt ist, uns anspornen zu einer größeren Hingabe an ihn, der die Quelle unseres gegenwärtigen und ewigen Glücks, unseres Reichtums, unseres Lebens, ja, der unser Alles ist!