Betrachtungen über das dritte Buch Mose
Das Sündopfer (Kapitel 4 – 5,13)
Die Beziehung des Volkes zu Gott und das persönliche Gewissen
Wir verlassen nun die Opfer „lieblichen Geruchs“ und kommen zu den „Opfern für die Sünde“. Wir finden sie in zwei Klassen eingeteilt, nämlich in Sündopfer und Schuldopfer. Vom Sündopfer gab es drei oder, wenn man will, vier Arten:
- das Opfer für den gesalbten Priester
- für die ganze Versammlung
- für einen Fürsten und
- für jemand vom Volk des Landes.
Die beiden Ersteren unterschieden sich bezüglich ihrer Gebräuche und Zeremonien nicht voneinander (vgl. V. 3–12 mit V. 13–21). Das Ergebnis war dasselbe, ob der Stellvertreter der Gemeinde oder die Gemeinde selbst gesündigt hatte. In diesem Fall wurden drei Dinge davon berührt: die Wohnstätte Gottes in der Versammlung, die Anbetung der Versammlung und das persönliche Gewissen, und da für diese drei das Blut so grundlegend wichtig war, finden wir in diesen beiden Arten des Sündopfers drei Verrichtungen mittels des Blutes. Zunächst wurde es „siebenmal vor dem HERRN gesprengt gegen den Vorhang des Heiligtums hin“ (V. 6). Dadurch wurde die Verbindung des HERRN mit dem Volk und sein Wohnen in seiner Mitte sichergestellt. Dann lesen wir: „Und der Priester tue von dem Blut an die Hörner des Altars des wohlriechenden Räucherwerks, der im Zelt der Zusammenkunft ist, vor dem HERRN.“ Dies sicherte die Anbetung der Versammlung. Dadurch, dass das Blut auf den „goldenen Altar“ gebracht wurde, blieb die wahre Grundlage der Anbetung aufrechterhalten, so dass die Flamme des Weihrauchs und dessen Wohlgeruch beständig emporsteigen konnten. Endlich musste der Priester „alles Blut des Stieres an den Fuß des Brandopferaltars gießen, der am Eingang des Zeltes der Zusammenkunft ist“ (V. 7). Hierdurch wurde den Bedürfnissen des persönlichen Gewissens völlig entsprochen, denn der eherne Altar war die Stätte des persönlichen Hinzunahens, der Ort, wo Gott dem Sünder begegnete.
In den beiden übrigen Arten des Sündopfers für einen „Fürsten“ und für „jemand vom Volk des Landes“ handelte es sich nur um das persönliche Gewissen, und darum wurde mit dem Blut nur eine Handlung vollzogen. Der Priester musste es „an den Fuß des Brandopferaltars gießen“ (vgl. V. 7 mit V. 25.30). In diesem allem zeigt sich eine göttliche Genauigkeit.
Der Unterschied zwischen dem Opfer für einen „Fürsten“ und dem für „jemand vom Volk des Landes“ bestand darin, dass für Ersteren „ein Ziegenbock ohne Fehl“ und für Letzteren „eine Ziege ohne Fehl“ geschlachtet werden musste. Die Sünde eines Fürsten übte natürlich einen größeren Einfluss aus als die einer gewöhnlichen Person, und darum war eine kräftigere Anwendung des Wertes des Blutes erforderlich. Im 5. Kapitel finden wir sogar Fälle, wie z. B. unbedachtsames Schwören oder das Anrühren von Unreinem, die eine noch geringere Anwendung des Sündopfers erlaubten. Hier war selbst „ein Zehntel Epha Feinmehl zum Sündopfer“ (V. 11) genügend, um Sühnung zu tun. Doch wie groß der Unterschied zwischen einer durch den Ziegenbock des Fürsten und einer durch die Handvoll Feinmehl des armen Mannes dargestellten Versöhnung auch sein mochte, so heißt es doch in beiden Fällen: „Und es wird ihm vergeben werden.“ Kapitel 5,1–13 gehört eigentlich zu Kapitel 4 und stellt mit ihm die Lehre des Sündopfers in allen seinen Teilen dar, von dem jungen Stier bis zur Hand voll Feinmehl. Zu Beginn jeder Opferklasse finden wir die Worte: „Und der HERR redete zu Mose.“ Sie finden sich zu Beginn der Opfer des lieblichen Geruchs (Kap. 1,1), dann zu Beginn des Sündopfers (Kap. 4,1), ferner zu Beginn des Schuldopfers für Versündigungen „an den heiligen Dingen des HERRN“ (Kap. 5,15) und endlich zu Beginn des Schuldopfers für ein an dem Nächsten begangenes Unrecht. Diese Einteilung ist wunderschön einfach und erleichtert sehr das Verständnis der verschiedenen Opferklassen. Die verschiedenen Grade in jeder Klasse – sei es ein junger Farre, ein Ziegenbock, eine Ziege, eine Taube, oder eine Handvoll Feinmehl – scheinen ebenso viele verschiedene Anwendungen derselben großen Wahrheit zu sein.
Die Wirkung der persönlichen Sünde ging nicht über den Bereich des persönlichen Gewissens hinaus. Die Sünde „eines Fürsten“ oder von „jemanden vom Volk des Landes“ konnte in ihrem Einfluss weder den „Räucheraltar“, den Ort der priesterlichen Anbetung, noch den Vorhang „des Heiligtums“, die heilige Grenze der Wohnstätte Gottes in der Mitte seines Volkes, berühren. Das ist beachtenswert. An der Stätte der priesterlichen Anbetung oder, mit anderen Worten, in der Versammlung sollte niemals von persönlichen Sünden oder Fehltritten die Rede sein. Diese Dinge müssen beim persönlichen Hinzunahen in Ordnung gebracht werden. Viele irren in dieser Beziehung. Sie erscheinen in der Versammlung oder an der Stätte der priesterlichen Anbetung mit einem befleckten Gewissen und ziehen so die ganze Versammlung herab und hindern ihre Anbetung. Wenn wir fehlen, was ja leider so vielfältig geschieht, dann lasst uns im Verborgenen mit unseren Fehlern zu Gott kommen, damit die wahre Anbetung und die wahre Stellung der Versammlung stets lebendig und klar vor der Seele stehen.
Die Sünde aus Versehen oder aus Unwissenheit
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die drei Arten des Sündopfers kommen wir zu den einzelnen Grundsätzen, die in der ersten Art entfaltet werden. Auf diesem Weg können wir uns ein Urteil über die Grundsätze bilden, die alle drei Arten kennzeichnen. Vorher möchte ich jedoch die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen wichtigen Punkt in Kapitel 4,2 lenken. Ich meine die Worte: „Wenn jemand aus Versehen sündigt“. Hier wird uns in Verbindung mit dem Sühnopfer des Herrn Jesus Christus eine gesegnete Wahrheit gezeigt. Wenn wir dieses Sühnopfer betrachten, so entdecken wir weit mehr als die bloße Befriedigung selbst des zartesten, empfindlichsten Gewissens. Es ist unser Vorrecht, das darin zu erblicken, was alle Anforderungen der göttlichen Heiligkeit, Gerechtigkeit und Majestät völlig befriedigt hat. Für die Heiligkeit der Wohnung Gottes sowie für die Grundlage seiner Verbindung mit seinem Volk kann das Gewissen des Menschen, so zart es auch sein mag, nie zum Maßstab dienen. Es gibt viele Dinge, die von dem Gewissen des Menschen übersehen werden, viele Dinge, die der Kenntnis des Menschen entgehen, viele Dinge, die von seinem Herzen für ganz richtig gehalten werden mögen, während Gott sie nicht dulden kann, und die infolgedessen das Hinzunahen des Menschen zu Gott sowie seine Anbetung und seinen Umgang mit ihm verhindern. Hätte daher das Sühnungswerk Christi nur für solche Sünden vorgesorgt, die der Mensch selbst zu erkennen vermag, so würden wir noch sehr weit von dem wahren Grund des Friedens entfernt sein. Wir müssen verstehen, dass die Sünde, so wie Gott sie gemessen hat, gesühnt worden und dass den Ansprüchen seines Thrones vollkommen Genüge geschehen ist – dass die Sünde, wie sie im Licht seiner unwandelbaren Heiligkeit geschaut wird, auf göttliche Weise ihr Gericht gefunden hat. Das verleiht der Seele einen tief gegründeten Frieden. Sowohl für die Sünden des Gläubigen, die er aus Versehen als auch für die, die er wissentlich begangen hat, ist Sühnung geschehen. Das Opfer Christi legte den Grund zu dem Verhältnis und der Gemeinschaft des Gläubigen mit Gott, und zwar gemäß der göttlichen Schätzung der an dieses Verhältnis geknüpften Ansprüche.
Es ist von großem Wert, ein klares Verständnis über diese Dinge zu haben. Wenn diese Seite des Versöhnungswerkes nicht verstanden wird, so kann weder ein fester Friede noch ein richtiges Gefühl für die Fülle des Werkes Christi oder für die wahre Natur der darauf gegründeten Beziehungen vorhanden sein. Gott wusste, was der Mensch benötigte, um ohne Furcht in seiner Gegenwart sein zu können, und auf dem Kreuz hat Er da in jeder Hinsicht Vorsorge getroffen. Eine Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen wäre unmöglich gewesen, wenn nicht mit der Sünde gehandelt worden wäre gemäß den Gedanken Gottes über sie; denn wenn auch das Gewissen des Menschen Befriedigung gefunden hätte, so wäre doch immer wieder die Frage aufgetaucht: Ist Gott wirklich befriedigt worden? Und solange diese Frage nicht bejaht werden könnte, würde die Gemeinschaft unmöglich sein 1. Beständig würde sich uns der Gedanke aufdrängen, dass ja im täglichen Leben Dinge zutage treten, die die göttliche Heiligkeit nicht dulden kann. Freilich würden wir jene Dinge „aus Versehen“ tun, aber das würde vor Gott, da ihm ja alles bekannt ist, die Sache nicht ändern, und darum würde die Seele stets in Furcht und Zweifel sein. Allen diesen Dingen aber ist auf göttliche Weise durch die Tatsache, dass die Sünde gesühnt ist, begegnet worden, und zwar nicht nach dem Maßstab unseres „Versehens“, sondern nach der Kenntnis Gottes. Die Gewissheit hierüber verleiht dem Herzen und Gewissen völlige Ruhe.
Nichts kann des Menschen Unfähigkeit, der Sünde entgegenzutreten, besser beweisen als die Tatsache, dass er „aus Versehen“ sündigen kann. Wie könnte er einer Sache begegnen, deren er sich nicht bewusst ist? Wie könnte er sich von dem befreien, was nie in den Bereich seines Gewissens gekommen ist? Unmöglich! Wenn dem Menschen eine Sünde unbekannt ist, was kann er dann betreffs ihrer tun? Nichts. Er ist ebenso machtlos wie unwissend. Aber das ist nicht alles. Wenn nicht das Herz durch das Zeugnis der Heiligen Schrift zu der Gewissheit gebracht wird, dass die Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit befriedigt sind, so muss unbedingt ein Gefühl von Unruhe vorhanden sein, und jedes Gefühl dieser Art stellt für unsere Anbetung, für unsere Gemeinschaft und unser Zeugnis ein großes Hindernis dar. Wenn ich wegen der Regelung der Sündenfrage noch beunruhigt bin, so kann ich nicht anbeten. Ich kann keine Gemeinschaft genießen, weder mit Gott noch mit seinem Volk, und ebenso wenig kann ich ein wirksamer Zeuge für Christus sein. Das Herz muss bezüglich der Vergebung der Sünde in Ruhe vor Gott sein, bevor wir ihn „in Geist und Wahrheit anbeten“ (Joh 4,23) können. Liegt noch irgendeine Schuld auf dem Gewissen, so muss Furcht im Herzen sein, und ein mit Furcht erfülltes Herz kann kein glückliches oder anbetendes Herz sein. Nur aus einem Herzen, das mit der heiligen Ruhe, die das Blut Christi gibt, erfüllt ist, kann jene wahre Anbetung zum Vater emporsteigen. Derselbe Grundsatz gilt im Blick auf unsere Gemeinschaft mit dem Volk Gottes sowie betreffs unseres Dienstes und unseres Zeugnisses unter den Menschen.
Vergleich: Sündopfer und Brandopfer
Wenn wir jetzt das Sündopfer mit dem Brandopfer vergleichen, so werden wir zwei ganz verschiedene Seiten von Christus entdecken. Natürlich ist es immer ein und derselbe Christus, und deshalb war das Opfer in jedem Fall „ohne Fehl“. Das ist leicht zu verstehen. Von welchem Gesichtspunkt aus wir den Herrn Jesus auch betrachten mögen – immer stellt Er sich unseren Blicken als derselbe Reine, Heilige und Vollkommene dar. Freilich erniedrigte Er sich selbst in seiner überströmenden Gnade, um der Sündenträger seines Volkes zu werden, aber der dies tat, war ein vollkommener, fleckenloser Christus. Die innere Vortrefflichkeit, die ungetrübte Reinheit und die göttliche Herrlichkeit unseres Herrn erscheinen ebenso klar im Sündopfer wie im Brandopfer. Welche Stellung Er auch einnimmt, welchen Dienst Er erfüllt, welches Werk Er vollbringt – immer strahlt uns seine persönliche Herrlichkeit in ihrem göttlichen Glanz entgegen.
Diese Wahrheit, dass wir im Brandopfer wie im Sündopfer denselben Christus finden, geht nicht nur aus der Tatsache hervor, dass das Opfer in jedem Fall „ohne Fehl“ war, sondern findet auch in dem Gesetz des Sündopfers ihre Bestätigung. Wir lesen im 6. Kapitel: „Rede zu Aaron und zu seinen Söhnen und sprich: Dies ist das Gesetz des Sündopfers. An dem Ort, wo das Brandopfer geschlachtet wird, soll das Sündopfer geschlachtet werden vor dem HERRN: Hochheilig ist es“ (V. 17.18). Beide Bilder weisen also damit auf dasselbe große Gegenbild hin, obwohl sie den Herrn in solch entgegengesetzten Seiten seines Werkes darstellen. Im Brandopfer entspricht Christus den göttlichen Zuneigungen, im Sündopfer begegnet Er den Tiefen des menschlichen Bedürfnisses. Das eine stellt ihn dar als den, der den Willen Gottes erfüllt, das andere als den, der die Sünde des Menschen trägt. In einem lernen wir die Kostbarkeit des Opfers, im anderen die Hassenswürdigkeit der Sünde kennen.
Bei der Betrachtung des Brandopfers bemerkten wir, dass es dargebracht wurde „zum Wohlgefallen für ihn vor dem HERRN“ (Kap. 1,3). Diese Worte fehlen beim Sündopfer. Das Brandopfer stellt uns Christus als den dar, der sich freiwillig, ohne Flecken, in seinem ganzen kostbaren Wert Gott geopfert hat. Es war seine Speise und sein Trank, den Willen Gottes zu tun und ihn nach jeder Richtung hin zu verherrlichen. Im Sündopfer dagegen sehen wir eine ganz andere Seite der Wahrheit. Da erblicken wir Christus nicht als den, der „zum Wohlgefallen“ für uns den Willen Gottes erfüllte, sondern als den, der jene schreckliche Sache, „Sünde“ genannt, trägt, sowie als den, der alle ihre entsetzlichen Folgen erduldet, unter denen das Verbergen des Angesichts Gottes eine der schrecklichsten war. Die Worte „zum Wohlgefallen für ihn“ würden daher nicht mit dem Zweck des Geistes im Sündopfer in Einklang zu bringen sein. Ihr Vorhandensein in dem einen und ihr Fehlen in dem anderen Fall liefern einen Beweis für die göttliche Genauigkeit der Bilder des dritten Buches Mose.
Der soeben betrachtete Gegensatz erklärt zwei Aussprüche unseres Herrn oder bringt sie vielmehr in Übereinstimmung. Bei einer Gelegenheit sagt Er: „Den Kelch, den mir der Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“, und bei einer anderen: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“ (Joh 18,11; Mt 26,39). Der erste dieser Aussprüche war die völlige Verwirklichung der Worte: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun“ (Heb 10,7), mit denen Er seinen Weg auf der Erde begann. Zugleich vernehmen wir darin die Sprache Christi als Brandopfer. Der zweite Ausspruch ist eine Äußerung Christi, als Er auf den Platz schaute, den Er als Sündopfer einnehmen sollte. Was dieser Platz war und was er für ihn, indem Er ihn einnahm, enthielt, werden wir im Lauf unserer Betrachtungen deutlicher erkennen. Es war seine Wonne, den Willen Gottes zu tun, aber Er bebte vor dem Gedanken zurück, des Lichtes seines Angesichts beraubt zu sein. Kein Opfer hätte ihn in diesen beiden Stellungen zugleich darstellen können. Wir bedurften eines Bildes, um uns ihn als den vorstellen zu können, dessen Freude es war, den Willen Gottes zu tun, und eines anderen, um uns ihn als den vorzustellen, dessen heilige Natur vor den Folgen der Sünde zurückbebte, die ihm zugerechnet wurde. Gott sei Dank! Wir haben beides. Das Brandopfer zeigt uns die eine, das Sündopfer die andere Seite. Und das Sündopfer allein liefert uns das passende Bild von dem Herrn Jesus als dem, der jene Worte tiefster Seelenangst ausrief: „Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ Nur hier finden wir Umstände, die solche Worte aus seiner fleckenlosen Seele hervorkommen ließen. Der finstere Schatten des Kreuzes mit seiner Schande, seinem Fluch und dem Abgeschnittensein von dem Licht des Angesichts Gottes ging an seinem Geist vorüber, und Er vermochte es nicht anzuschauen, ohne auszurufen: „Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ Aber kaum war dieser Ausruf über seine Lippen gekommen, da offenbarte sich seine tiefe Unterwürfigkeit in den Worten: „Dein Wille geschehe!“ Welch ein bitterer Kelch muss es gewesen sein, der ein völlig ergebenes Herz zu den Worten veranlasste: „Er gehe an mir vorüber“! Und welch eine vollkommene Unterwürfigkeit, die angesichts eines so schrecklichen Kelches von Herzen ausrufen konnte: „Dein Wille geschehe“!
Handauflegung
Betrachten wir jetzt das „Händeauflegen“. Diese Handlung kam bei beiden Opfern, beim Brand- und Sündopfer, vor, aber während sie bei dem Ersteren den Opfernden mit einem fleckenlosen Opfer einsmachte, bedeutete sie bei dem Letzteren die Übertragung der Sünde des Opfernden auf das Haupt des Opfertieres.
Was wird uns nun in dem Händeauflegen vorgestellt? Christus wurde „für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm“ (2. Kor 5,21). Er nahm unsere Stellung mit allen ihren Folgen ein, damit wir seine Stellung mit allen ihren Folgen einnehmen könnten. Er wurde auf dem Kreuz als Sünde behandelt, damit wir in Gegenwart der unendlichen Heiligkeit als Gerechtigkeit behandelt werden könnten. Er wurde aus der Gegenwart Gottes verstoßen, weil Er durch Zurechnung die Sünde auf sich hatte, damit wir in das Haus Gottes und in seinen Schoß aufgenommen werden könnten, weil wir durch Zurechnung eine vollkommene Gerechtigkeit besitzen. Er musste es erdulden, dass Gott sein Angesicht vor ihm verbarg, damit wir das Licht seines Angesichts sehen könnten. Er musste durch jene drei schrecklichen Stunden der Finsternis gehen, damit wir in ewigem Licht wandeln möchten. Er wurde von Gott verlassen, damit wir seine Gegenwart für immer genießen möchten. Alles, was uns als verderbten Sündern gebührte, wurde auf ihn gelegt, damit alles, was ihm, dem Vollender des Erlösungswerkes, gebührte, unser Teil werden möchte. Alles war gegen ihn, als Er am Fluchholz hing, damit nichts gegen uns sein möchte. Er wurde in Gericht und Tod mit uns eins gemacht, damit wir in Leben und Gerechtigkeit mit ihm eins gemacht würden. Er trank den Kelch des Zorns, den Kelch des Zitterns, damit wir den Kelch des Heils, den Kelch unendlicher Gunst, trinken könnten. Er wurde nach unseren Verdiensten behandelt, damit wir nach seinen Verdiensten behandelt werden könnten.
Das ist die in dem Händeauflegen dargestellte Wahrheit. Hatte der Anbeter seine Hand auf den Kopf des Brandopfers gelegt, so handelte es sich nicht mehr um das, was er war oder was er verdiente, sondern allein um die Frage, was das Opfer nach dem Urteil des HERRN war. War das Opfer ohne Fehl, so war es auch der Opfernde. Wurde das Opfer angenommen, dann auch der Opfernde. Das Händeauflegen machte sie völlig eins in den Augen Gottes. Er betrachtete den Opfernden gleichsam mittels des Opfers. So war es beim Brandopfer. Beim Sündopfer war es umgekehrt. Sobald der Opfernde seine Hand auf das Opfer gelegt hatte, handelte es sich um das, was der Opfernde war und was er verdiente. Das Opfer wurde nach dem Verdienst des Opfernden behandelt. Im Sündopfer wurde die Sünde des Opfernden gesühnt, während im Brandopfer die Person des Opfernden Annahme fand. Obwohl daher beide Bilder das Händeauflegen gemeinsam hatten und obwohl in jedem Fall dadurch das Einssein ausgedrückt wurde, waren doch der Unterschied sehr groß und die Folgen denkbar verschieden. Der Gerechte wurde behandelt wie der Ungerechte und der Ungerechte angenommen in dem Gerechten. „Christus hat einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe“ (1. Pet 3,18). Das ist die Lehre. Unsere Sünden brachten Christus an das Kreuz. Er bringt uns zu Gott, und zwar in seiner eigenen Annehmlichkeit als der Auferstandene aus den Toten, nachdem Er gemäß der Vollkommenheit seines Werkes unsere Sünden hinweggetan hat. Er trug sie weit von dem Heiligtum Gottes hinweg, um uns nahe herzu, ja ins Allerheiligste führen zu können, in voller Freimütigkeit des Herzens und mit einem Gewissen, das durch sein kostbares Blut von jedem Sündenflecken gereinigt ist.
Unterschied zwischen Brand- und Sündopfer
Im ersten Kapitel dieses Buches, beim Brandopfer, traten „die Söhne Aarons“ in Tätigkeit. Beim Sündopfer finden wir sie nicht. Als Priester hatten sie das Vorrecht, um den Altar her zu stehen und die Flamme eines angenehmen Opfers zum Herrn emporsteigen zu sehen. Beim Sündopfer aber steht nicht priesterliche Anbetung oder Bewunderung, sondern das feierliche Gericht über die Sünde im Vordergrund, und darum treten hier die Söhne Aarons nicht in Erscheinung. Als überführte Sünder haben wir es mit Christus als dem Gegenbild des Sündopfers zu tun. Als anbetende und mit den „Kleidern des Heils“ bekleidete Priester betrachten wir Christus als das Gegenbild des Brandopfers.
Ferner wurde dem Brandopfer „die Haut abgezogen“, nicht aber dem Sündopfer. Auch musste das Brandopfer „in seine Stücke zerlegt“ werden, und „sein Eingeweide und seine Beine“ wurden „mit Wasser gewaschen“. Von alledem finden wir beim Sündopfer nichts. Schließlich musste das Brandopfer auf dem Altar, das Sündopfer aber außerhalb des Lagers verbrannt werden.
Das sind wesentliche Unterschiede, hinter denen wir die Absicht des Heiligen Geistes suchen sollten. Vielleicht müssen wir dabei unsere Unwissenheit eingestehen. Gleichgültigkeit solchen Unterschieden gegenüber wäre jedenfalls eine sehr bedauerliche Haltung; sollte der Heilige Geist sich bei der Inspiration Mühe gemacht haben, Dinge niederschreiben zu lassen, die wir für so wertlos halten, dass wir nicht einmal den Wunsch haben, sie zu verstehen? Das wäre eine glatte Geringschätzung des göttlichen Autors; viel Segen würde uns dabei verloren gehen. Wie oft dürfen wir doch in den kleinsten Einzelheiten Gottes Weisheit bewundern und anbeten!
Das Fett wird auf dem Altar dargebracht
Beim Sündopfer steht die Sünde im Vordergrund, das, was Christus für uns wurde, und nicht das, was Er in sich selbst war. Wenn wir das im Auge behalten, erklären sich die oben erwähnten Unterschiede zwanglos durch den unterschiedlichen Charakter der beiden Opfer. Eine Handlung jedoch bringt auch im Sündopfer die persönliche Annehmlichkeit Christi vor Gott lebendig zum Ausdruck. Wir finden sie in den Worten: „Und alles Fett vom Stier des Sündopfers soll er von ihm abheben: das Fett, das das Eingeweide bedeckt, und alles Fett, das am Eingeweide ist, und die beiden Nieren und das Fett, das an ihnen, das an den Lenden ist, und das Netz über der Leber, samt den Nieren soll er es abtrennen, so wie es abgehoben wird vom Rind des Friedensopfers; und der Priester soll es auf dem Brandopferaltar räuchern“ (4,8–10). So wird also die innere Vortrefflichkeit Christi selbst im Sündopfer nicht übergangen. Das auf dem Altar verbrannte Fett ist der Ausdruck der göttlichen Würdigung der Kostbarkeit der Person Christi, welchen Platz Er auch in vollkommener Gnade um unsertwillen oder an unserer statt einnehmen mochte. Er wurde für uns zur Sünde gemacht, und das Sündopfer ist in dieser Beziehung das göttlich entworfene Bild von ihm. Aber eben weil es der Herr Jesus Christus, der Auserwählte Gottes, sein Heiliger, sein reiner, fleckenloser und ewiger Sohn war, der zur Sünde gemacht wurde, so wurde das Fett des Sündopfers auf dem Altar als etwas verbrannt, was für jenes Feuer passend war, das die vollkommene göttliche Heiligkeit bildlich darstellte.
Aber selbst in diesem Punkt sehen wir, welch ein Gegensatz zwischen dem Sündopfer und dem Brandopfer bestand. Beim Brandopfer wurde, weil es Christus ohne jegliche Erinnerung an das Sündentragen darstellte, nicht nur das Fett, sondern das ganze Opfer auf dem Altar geräuchert, während dies beim Sündopfer nur mit dem Fett geschah, weil es sich um das Tragen der Sünden handelte, wiewohl Christus es war, der sie trug. Die göttliche Herrlichkeit der Person Christi leuchtet selbst aus den finstersten Schatten des Kreuzes hervor, an das Er sich als ein Fluch für uns nageln ließ. Die Hässlichkeit dessen, mit dem Er, in Ausübung der göttlichen Liebe, seine Person in Verbindung brachte, konnte nicht verhindern, dass der liebliche Geruch seiner Kostbarkeit zu dem Thron Gottes emporstieg. Auf diese Weise enthüllt sich das tiefe Geheimnis, wie das Angesicht Gottes sich vor dem verbarg, wozu Christus gemacht wurde, und wie sein Herz sich an dem erquickte, was Christus in sich selbst war. Das ist ein schöner und besonderer Zug des Sündopfers. Die glänzenden Strahlen der persönlichen Herrlichkeit Christi brachen mitten aus der schrecklichen Finsternis Golgathas hervor. Sein persönlicher Wert, dargestellt in den tiefsten Tiefen seiner Erniedrigung, die Wonne Gottes an ihm, vor dem Er zur Befriedigung seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit sein Angesicht verbergen musste – alles das wird in der Tatsache dargestellt, dass das Fett des Sündopfers auf dem Altar geräuchert wurde.
Der Körper des Opfers wird außerhalb des Lagers verbrannt
Nachdem wir gesehen haben, was mit dem Blut und mit dem Fett des Sündopfers geschehen musste, wollen wir noch betrachten, was mit dem Fleisch des Sündopfers gemacht wurde. „Und die Haut des Stieres und all sein Fleisch … Den ganzen Stier soll er hinausbringen außerhalb des Lagers an einen reinen Ort, zum Schutthaufen der Fettasche, und soll ihn auf Holzscheiten mit Feuer verbrennen; auf dem Schutthaufen der Fettasche soll er verbrannt werden“ (Kap. 4,11.12). In dieser Handlung erblicken wir die Hauptkennzeichen des Sündopfers, durch die es sich sowohl vom Brandopfer als auch vom Friedensopfer unterschied. Sein Fleisch wurde nicht, wie beim Brandopfer, auf dem Altar geräuchert noch wurde es, wie beim Friedensopfer, von dem Priester oder von dem Anbeter gegessen. Es wurde gänzlich außerhalb des Lagers verbrannt 2. „Alles Sündopfer, von dessen Blut in das Zelt der Zusammenkunft gebracht wird, um im Heiligtum Sühnung zu tun, soll nicht gegessen werden; es soll mit Feuer verbrannt werden“ (Kap. 6,23). „Denn von den Tieren, deren Blut für die Sünde in das Heiligtum hineingetragen wird durch den Hohenpriester, werden die Leiber außerhalb des Lagers verbrannt“ (Heb 13,11).
Der Wert des Blutes Christi
Bei einem Vergleich dessen, was mit dem Blut und was mit dem Fleisch oder dem Leib des Opfertieres geschah, treten zwei wichtige Dinge in unseren Gesichtskreis, nämlich Anbetung und Jüngerschaft. Das ins Heiligtum gebrachte Blut ist die Grundlage der Anbetung und der außerhalb des Lagers verbrannte Leib die Grundlage der Jüngerschaft. Bevor wir mit ruhigem Gewissen und in Freimütigkeit des Herzens anbeten können, müssen wir, gestützt auf die Autorität des Wortes und durch die Kraft des Heiligen Geistes, wissen, dass die Sündenfrage durch das Blut des göttlichen Sündopfers für immer geregelt, dass sein Blut vor den Herrn gesprengt, und dass allen Forderungen Gottes sowie allen unseren Bedürfnissen als verlorene und schuldige Sünder für immer begegnet worden ist. Das gibt vollkommenen Frieden, und im Genuss dieses Friedens beten wir Gott an. Wenn ein Israelit damals sein Sündopfer dargebracht hatte, so war sein Gewissen zur Ruhe gebracht, insoweit das Opfer Ruhe geben konnte. Freilich war es, als die Frucht eines zeitlichen Opfers, nur eine zeitliche Ruhe. Aber welche Art von Ruhe das Opfer auch zu schenken vermochte, der Opfernde durfte sie genießen. Da nun unser Opfer ewig und göttlich ist, so ist auch unsere Ruhe ewig und göttlich. Wie das Opfer, so ist auch die darauf gegründete Ruhe. Ein Jude hatte niemals ein für ewig gereinigtes Gewissen, weil er eben kein ewig wirksames Opfer hatte. Er konnte in einem gewissen Sinn sein Gewissen für einen Tag, für einen Monat oder für ein Jahr gereinigt haben, aber niemals für immer.
„Christus aber – gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter, in Verbindung mit der größeren und vollkommeneren Hütte, die nicht mit Händen gemacht, das heißt nicht von dieser Schöpfung ist, auch nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut – ist ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte. Denn wenn das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer jungen Kuh, auf die Unreinen gesprengt, zur Reinheit des Fleisches heiligt, wie viel mehr wird das Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen reinigen von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen“ (Heb 9,11–14).
Hier haben wir die volle, bestimmte Lehre des Neuen Testaments. Das Blut von Böcken und Kälbern verschaffte eine zeitliche Erlösung. Dem Blut Christi verdanken wir eine ewige Erlösung. Das Erstere reinigte äußerlich, das Letztere innerlich. Jenes reinigte das Fleisch für eine Zeit, dieses das Gewissen für immer. Es handelt sich hier nicht um den Charakter oder den Zustand des Opfernden, sondern um den Wert des Opfers. Es handelt sich durchaus nicht darum, ob ein Christ ein besserer Mensch ist als ein Jude, sondern ob das Blut Christi besser ist als das Blut eines Stieres. Der Sohn Gottes teilt den ganzen Wert seiner göttlichen Person dem Opfer mit, das Er dargebracht hat, und wenn das Blut eines Stieres das Fleisch für ein Jahr reinigte, „wie viel mehr“ wird dann das Blut des Sohnes Gottes das Gewissen für immer reinigen! Wenn jenes Blut einige Sünden wegnahm, wie viel mehr wird dann dieses alle wegnehmen!
Wodurch aber war ein Israelit, nachdem er sein Sündopfer dargebracht hatte, innerlich zur Ruhe gebracht? Wie wusste er, dass die besondere Sünde, für die er geopfert hatte, vergeben war? Weil Gott gesagt hatte: „Es wird ihm vergeben werden“ (Kap. 5,10). Der Friede seines Herzens bezüglich jener besonderen Sünde ruhte auf dem Zeugnis des Gottes Israels und auf dem Blut des Schlachtopfers. Ebenso ruht auch jetzt der Friede des Gläubigen bezüglich aller Sünden auf der Autorität des Wortes Gottes und auf dem kostbaren Blut Christi. Wenn ein Jude gesündigt hatte und sein Sündopfer darzubringen vernachlässigte, so musste er „aus seinen Völkern ausgerottet werden“. Wenn er aber seinen Platz als Sünder einnahm, wenn er seine Hand auf den Kopf eines Sündopfers legte, so wurde das Opfer an seiner statt „ausgerottet“ und er war insoweit frei. Das Opfer wurde behandelt nach dem Verdienst des Opfernden, und deshalb würde dieser, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, dass seine Sünden vergeben seien, Gott zu einem Lügner gemacht und das Blut des göttlich verordneten Sündopfers für nichts geachtet haben.
Und wenn das schon für jemand galt, der nur das Blut eines Bockes als Ruhestätte für sein Gewissen hatte, „wie viel mehr“ findet das dann Anwendung auf alle, die in dem kostbaren Blut Christi Ruhe gefunden haben! Der Gläubige schaut in Christus den, der für alle seine Sünden gerichtet worden ist, den, der, als Er am Kreuz hing, die ganze Last seiner Sünden trug, den, der sich für jede Sünde verantwortlich gemacht hat und nun sicher nicht zur Rechten Gottes sitzen könnte, wenn die ganze Frage der Sünde nicht gemäß allen Anforderungen der Gerechtigkeit Gottes in Ordnung gebracht worden wäre. So bedingungslos nahm Christus auf dem Kreuz den Platz des Gläubigen ein, so gänzlich war dieser mit ihm einsgemacht, und so völlig wurde Christus dort die Sünde des Gläubigen zugerechnet, dass jede Frage von Verantwortlichkeit für den Gläubigen, jeder Gedanke an seine Schuld, jede Befürchtung, dem Gericht und Zorn bloßgestellt zu werden, für ewig beseitigt ist. Auf dem Fluchholz wurde alles zwischen der göttlichen Gerechtigkeit und dem fleckenlosen Schlachtopfer geordnet, und nun ist der Gläubige so vollkommen mit Christus auf dem Thron eins gemacht, wie es Christus mit dem Gläubigen auf dem Kreuz war. Die Gerechtigkeit hat gegen den Gläubigen keine Anklage vorzubringen, weil sie keine Anklage gegen Christus vorzubringen hat. Und dabei bleibt es für immer. Könnte noch eine Anklage gegen den Gläubigen erhoben werden, so wäre sowohl die Wahrheit des Einsgemachtseins Christi mit ihm auf dem Kreuz, als auch die Vollkommenheit des um seinetwillen vollbrachten Werkes Christi infrage gestellt. Wenn damals ein Anbeter, nachdem er sein Sündopfer dargebracht hatte, auf dem Heimweg von irgendjemand wegen der besonderen Sünde, für die sein Opfer geblutet hatte, angeschuldigt worden wäre, was würde seine Antwort gewesen sein? Die Sünde ist durch das Blut des Schlachtopfers weggetan worden, und der HERR hat gesagt: „Es wird ihm vergeben werden“ (4,26). Das Schlachtopfer war an seiner Stelle gestorben, und er lebte anstelle des Schlachtopfers.
Christus gestorben und auferweckt
So war es bei dem alttestamentlichen Bild. Und wenn bei dem Gegenbild das Auge des Glaubens auf Christus als dem Sündopfer ruht, so schaut es in ihm den, der vollkommen sein vollkommenes menschliches Leben, das Er angenommen hatte, auf dem Kreuz dahingab, weil ihm dort und nur dort die Sünde zugerechnet wurde. Aber es schaut in ihm auch den, der im Besitz der Macht des göttlichen und ewigen Lebens aus dem Grab auferstand und jetzt dieses sein göttliches und ewiges Auferstehungsleben allen denen mitteilt, die an seinen Namen glauben. Die Sünde ist verschwunden, weil das Leben, an das sie geknüpft wurde, verschwunden ist, und anstatt eines mit der Sünde verbundenen Lebens besitzen jetzt alle wahren Gläubigen ein Leben, mit dem die Gerechtigkeit verbunden ist. In Bezug auf das siegreiche Auferstehungsleben Christi kann von Sünde nicht mehr die Rede sein, und gerade dieses Leben ist es, das die Gläubigen besitzen. Es gibt kein anderes Leben. Alles außer ihm ist der Tod, weil alles unter der Macht der Sünde ist. „Wer den Sohn hat, hat das Leben“ (1. Joh 5,12), und wer das Leben hat, hat auch die Gerechtigkeit. Die beiden Dinge sind untrennbar miteinander verbunden, weil Christus beides, das eine wie das andere ist. Waren das Gericht und der Tod Christi am Kreuz Wirklichkeiten, dann sind auch das Leben und die Gerechtigkeit des Gläubigen Wirklichkeiten. War die Zurechnung der Sünde für Christus eine Wirklichkeit, so ist auch die Zurechnung der Gerechtigkeit für den Gläubigen eine Wirklichkeit. Das eine ist so wahr und so wirklich wie das andere. Wenn es nicht so wäre, dann wäre Christus vergeblich gestorben. Der wahre und unumstößliche Grund des Friedens besteht darin, dass den Forderungen der Natur Gottes bezüglich der Sünde vollkommen entsprochen worden ist. Der Tod Jesu hat sie alle befriedigt, auf ewig befriedigt. Und worin findet das erwachte Gewissen einen vollgültigen Beweis hierfür? In der Tatsache der Auferstehung. Die Auferstehung Christi bestätigt die völlige Erlösung des Glaubenden, seine vollkommene Befreiung von jeder nur möglichen Forderung. Er ist „unserer Übertretungen wegen hingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden“ (Röm 4,25). Wenn ein Christ nicht weiß, dass seine Sünde weggetan, und zwar für immer weggetan ist, so bedeutet das eine Geringschätzung des Blutes seines göttlichen Sündopfers. Er leugnet damit die vollkommene Darbringung, das siebenmalige Sprengen des Blutes vor dem Auge Gottes.
Bevor wir weitergehen, noch eine persönliche Frage: Weißt du, ob deine Sünden vergeben sind? Hast du im Glauben deine Hand auf den Kopf des wahren Sündopfers gelegt? Oder klagt dein Gewissen dich noch an? Jeder Christ, auch der schwächste, darf sich aufgrund des Erlösungswerkes Christi der vollen und ewig gültigen Vergebung seiner Sünden erfreuen. Wer anders lehrt, erniedrigt das Opfer Christi auf das Niveau von „Böcken und Stieren“. Wenn wir nicht wissen können, ob uns unsere Sünden vergeben sind, wo bleibt dann die frohe Botschaft des Evangeliums? Sollte ein Christ in der Frage der Sündenvergebung gegenüber einem Juden benachteiligt sein? Der Jude wusste wenigstens, dass ihm durch das alljährliche Opfer für ein Jahr vergeben war.
Das Bewusstsein der vollen Vergebung ist grundlegend wichtig für die Anbetung. Es bewirkt nicht Selbstzufriedenheit, sondern Preis und Dank; es führt nicht zur Freude und zum Wohlgefallen an uns selbst, sondern zur Freude und zum Wohlgefallen an Christus. Wenn wir das Kreuz vor Augen behalten, können wir nicht oberflächlich oder leichtfertig gegenüber der Sünde werden. Hat der Heilige Geist uns die Gewissheit geschenkt, dass die Sünden gesühnt sind, dann ist die Folge tiefer Abscheu vor der Sünde und eine echte Liebe zu Christus, seinem Volk und seiner Sache.
Zu ihm hinausgehen außerhalb des Lagers
Betrachten wir jetzt, was mit dem Fleisch oder dem Leib des Opfertieres geschah, worin, wie bereits bemerkt, die wahre Grundlage der Jüngerschaft vorgebildet ist. „Den ganzen Stier soll er hinausbringen außerhalb des Lagers an einen reinen Ort, zum Schutthaufen der Fettasche, und soll ihn auf Holzscheiten mit Feuer verbrennen; auf dem Schutthaufen der Fettasche soll er verbrannt werden“ (Kap. 4,12). Diese Handlung ist von zwei Seiten zu betrachten. Zunächst bezeichnet sie den Platz, den der Herr Jesus als Träger unserer Sünden einnahm, und dann die Stätte, wohin ihn die Welt in ihrem Hass verstieß. Auf diesen letzten Punkt möchte ich hier aufmerksam machen.
Die Anwendung, die der Apostel in Hebräer 13 von der Tatsache macht, dass Christus „außerhalb des Tores gelitten hat“, ist praktisch sehr wichtig. „Deshalb lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend“ (V. 13). Wenn die Leiden Christi uns den Eingang in den Himmel gesichert haben, so drückt die Stätte, wo Er gelitten hat, unsere Verwerfung von Seiten der Welt aus. Sein Tod hat uns droben eine Stadt verschafft. Die Stätte seines Leidens nimmt uns eine Stadt auf der Erde 3. Er litt „außerhalb des Tores“ und zeigte dadurch, dass Er Jerusalem als den damaligen Mittelpunkt des göttlichen Handelns beiseitegesetzt hatte. Es gibt jetzt keinerlei geweihte Stätte mehr auf der Erde. Christus hat als Dulder seinen Platz außerhalb des Bereichs der Religion dieser Welt eingenommen, außerhalb ihrer Politik und alles dessen, was ihr angehört. Die Welt hat ihn gehasst und verworfen. Darum heißt es: „Lasst uns hinausgehen.“ Das ist der Wahlspruch in Bezug auf alles, was der Mensch hier in der Form eines „Lagers“, von welcher Art dieses auch sei, aufrichten mag. Wenn Menschen eine „heilige Stadt“ bauen, so musst du einen verworfenen Christus „außerhalb des Tores“ suchen. Wenn Menschen, unter welchem Namen es auch sei, ein religiöses Lager aufrichten, so musst du aus ihm „hinausgehen“, um einen verworfenen Christus zu finden. Der blinde Aberglaube sucht freilich unter den Ruinen Jerusalems eifrig nach irgendwelchen Reliquien von Christus. Er trachtet danach, die Stätte seines Kreuzes und seines Grabes zu entdecken und ihr Ehre zu erweisen. Die Habsucht der menschlichen Natur hat aus dem Aberglauben Nutzen gezogen und seit Jahrhunderten einen einträglichen Handel getrieben unter dem listigen Vorwand, die sogenannten heiligen Stätten des Altertums zu verehren. Doch ein einziger Lichtstrahl von dem himmlischen Leuchter der Offenbarung reicht hin, um dir die Notwendigkeit zu zeigen, dass du aus diesem allem „hinausgehen“ musst, wenn du mit dem verworfenen Christus Gemeinschaft haben willst.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die feierliche Aufforderung zum „Hinausgehen“ weit mehr in sich schließt als ein bloßes Sichabwenden von den Ungereimtheiten eines unwissenden Aberglaubens oder den listigen Plänen menschlicher Habsucht. Es gibt viele, die die genannten Dinge in ihrem wahren Licht darstellen können, die aber weit von dem Gedanken entfernt sind, der Aufforderung des Apostels Folge zu leisten. Wenn Menschen ein „Lager“ aufrichten und sich um ein Banner scharen, das mit irgendeinem wichtigen Lehrsatz oder einer wertvollen Verordnung geziert ist, wenn sie sich auf ein orthodoxes Glaubensbekenntnis, auf ein klares Lehrsystem, auf feierliche religiöse Gebräuche berufen können, die das fromme Sehnen der Natur des Menschen befriedigen, so erfordert es viel geistliche Einsicht, um die wahre Tragweite der Worte „Lasst uns hinausgehen!“ zu verstehen sowie viel geistliche Entschiedenheit, um dieser Aufforderung zu folgen. Es lohnt sich, sie zu verstehen und demgemäß zu handeln, denn es ist gewiss, dass die Atmosphäre eines Lagers (mag seine Grundlage und sein Banner bestehen, worin es will) für eine persönliche Gemeinschaft mit einem verworfenen Christus verderblich ist, und keine der sogenannten religiösen Vorteile können den Verlust dieser Gemeinschaft ersetzen. Unser Herz neigt stets dazu, in kalte Formen zu verfallen. Diese Neigung hat sich von jeher in der bekennenden Christenheit gezeigt. Jene Formen mögen ihren Ursprung in wirklicher Kraft gehabt haben; aber die Versuchung liegt nahe, die bloße Form festzuhalten, während der Geist und die Kraft längst geschwunden sind. Grundsätzlich heißt das nichts anderes als ein Lager aufrichten. Das jüdische System konnte sich eines göttlichen Ursprungs rühmen. Ein Israelit konnte auf den Tempel mit seinem Gottesdienst, seinem Priestertum, seinen Opfern und seinen ganzen Einrichtungen hinweisen und sagen, dass dies alles so von dem Gott Israels angeordnet worden sei. Er konnte, wie wir sagen, Kapitel und Vers für alles anführen, was mit dem System, zu dem er sich bekannte, in Verbindung stand. Wo ist ein System, sei es aus dem Altertum, dem Mittelalter oder der neueren Zeit, das solch hohe Ansprüche erheben oder mit einem solchen Gewicht von Autorität auf das Herz einwirken könnte? Und dennoch wurde gerade den gläubigen Hebräern gesagt: „Lasst uns hinausgehen!“
Das ist eine äußerst ernste Sache. Sie geht uns alle an, weil wir alle die Neigung haben, uns aus der Gemeinschaft mit dem lebendigen Christus zu entfernen und in tote Formen zu versinken. Daher die praktische Kraft der Worte: „Lasst uns zu ihm hinausgehen!“ Es heißt nicht: „Lasst uns von einem System zu einem anderen, von einer Art von Meinungen zu einer anderen gehen.“ Nein, wir sollen vielmehr von allem, was den Namen eines Lagers verdient, „zu ihm“ hinausgehen, der „außerhalb des Tores gelitten hat“. Der Herr Jesus ist heute ebenso außerhalb des Tores wie vor neunzehn Jahrhunderten, als Er dort litt. Was brachte ihn in diese Stellung? Die religiöse Welt jener Zeit. Und die damalige religiöse Welt ist nach Gesinnung und Grundsatz die religiöse Welt unserer Tage. Die Welt ist und bleibt die Welt. „Es gibt gar nichts Neues unter der Sonne“ (Pred 1,9). Christus und die Welt sind nie eins. Die Welt hat sich in den Mantel des Christentums gehüllt, aber nur, um unter ihm ihren Hass gegen Christus in noch tödlicheren Formen zu entfalten.
Täuschen wir uns nicht! Wollen wir mit einem verworfenen Christus unseren Weg gehen, so müssen wir ein verworfenes Volk sein. Hat unser Herr „außerhalb des Tores“ gelitten, so können wir nicht erwarten, innerhalb des Tores zu herrschen. Wenn wir in seinen Fußstapfen wandern, wohin werden sie uns führen? Ganz sicher nicht zu den Höhen dieser gottlosen, christuslosen Welt!
Unser Herr ist ein verachteter Christus, ein verworfener Christus, ein Christus außerhalb des Lagers. Darum gilt es, „zu ihm hinauszugehen, seine Schmach tragend“! Diese Welt hat den Geliebten gekreuzigt und hasst mit demselben ungeschwächten Hass noch heute ihn, dem wir alles, unser gegenwärtiges und ewiges Glück, zu verdanken haben und der uns mit einer Liebe liebt, die große Wasser nicht auszulöschen vermögen. Lasst uns daher nicht eine Sache anerkennen, die sich nach seinem heiligen Namen nennt, aber in Wirklichkeit seine Person, seine Wahrheit, ja selbst die bloße Erwähnung seiner Wiederkunft hasst. Lasst uns unserem abwesenden Herrn treu sein und ihm leben, der für uns gestorben ist! Möchten wir ihn, während unser Gewissen auf seinem vollbrachten Werk ruht, von ganzem Herzen lieben, damit unsere Trennung von dem „gegenwärtigen bösen Zeitlauf“ nicht nur eine Sache kalter Grundsätze, sondern die Entscheidung eines Herzens ist, das den Gegenstand seiner Liebe auf der Erde nicht findet! Möge der Herr uns befreien von dem Einfluss der heutzutage so verbreiteten, sich heilig dünkenden, weltklugen Selbstsucht, die nicht ohne Religion sein möchte, die aber das Kreuz Christi hasst! Um dieser schrecklichen Form des Bösen mit Erfolg entgegenzutreten, bedarf es nicht besonderer Ansichten, Grundsätze und Lehren, sondern einer tiefen Hingebung an die Person des Sohnes Gottes. Möchten wir uns nach Leib, Seele und Geist seinem Dienst weihen und aufrichtig nach seiner herrlichen Wiederkunft verlangen!
Fußnoten
- 1 Ich möchte daran erinnern, dass der vorliegende Text nur von Versöhnung redet. Der Besitz der „göttlichen Natur“ ist zur Gemeinschaft mit Gott unbedingt nötig. Ich brauche nicht nur das Recht, Gott nahen zu dürfen, sondern auch eine Natur, die fähig ist, ihn zu genießen. Jeder, der an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glaubt, hat aber das eine wie das andere (siehe Joh 1,12.13; 3,36; 5,24; 20,31; 1. Joh 5,11-13).
- 2 Dies bezieht sich jedoch nur auf die Sündopfer, deren Blut ins Heiligtum getragen wurde. Es gab Sündopfer, von denen Aaron und seine Söhne aßen (vgl. das Gesetz des Sündopfers im 6. Kapitel und 4. Mose 18,9.10).
- 3 Der Epheserbrief liefert uns die erhabenste Beschreibung von dem Platz der Versammlung droben, nicht nur betreffs des Anrechts auf ihn, sondern auch betreffs der Art und Weise, wie er ihr zuteil geworden ist. Das Anrecht gründet sich ohne Frage nur auf das Blut. Die Art und Weise wird mit den Worten beschrieben: „Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht – durch Gnade seid ihr errettet –, und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus“ (Eph 2,4-6).