Betrachtungen über das zweite Buch Mose
Israels Abfall und Gottes Gnade Das goldene Kalb
Mache uns Götter, die vor uns hergehen
Wir kommen jetzt zu einem Ereignis, das ganz und gar verschieden ist von dem, was uns bisher beschäftigt hat. Die „Bilder der Dinge in den Himmeln“ (Heb 9,23) sind an uns vorübergezogen. Wir sahen Christus in seiner herrlichen Person und in seinem vollkommenen Werk, wie Er in der Stiftshütte und ihren Geräten dargestellt war. Wir hörten auf dem Berg die Worte Gottes und die Ratschlüsse, von denen Jesus das „Alpha und das Omega“, der Anfang und das Ende ist.
Jetzt aber müssen wir auf die Erde zurückblicken, um dort die traurigen Trümmer zu sehen, in die der Mensch alles verwandelt, was ihm anvertraut wird. „Und als das Volk sah, dass Mose zögerte, vom Berg herabzukommen, da versammelte sich das Volk zu Aaron, und sie sprachen zu ihm: Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen! Denn dieser Mose, der Mann, der uns aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat – wir wissen nicht, was ihm geschehen ist“ (V. 1). Welch ein niedriger Zustand offenbart sich hier! „Mache uns einen Gott!“ Israel sagte sich von seinem HERRN los und unterwarf sich der Führung eines von Menschenhänden gemachten Gottes. Der Berg war von undurchdringlichen Wolken verhüllt, und die Israeliten waren müde geworden, auf Mose zu warten und auf einen unsichtbaren, aber starken Gott zu vertrauen. Sie bildeten sich ein, dass ein mit einem Meißel gemachter, sichtbarer Gott besser sei als der unsichtbare, aber allgegenwärtige HERR.
In der Geschichte der Menschen ist dies leider eine bekannte Erscheinung. Der Mensch liebt etwas, was er wahrnehmen kann, was seinen Sinnen entspricht und sie befriedigt. Nur der Glaube vermag standhaft zu bleiben, „als sähe er den Unsichtbaren“ (Heb 11,27). Daher hat der Mensch zu allen Zeiten die Neigung offenbart, menschliche Nachbildungen göttlicher Wirklichkeiten aufzustellen und auf sie zu vertrauen. Auch heute gibt es zahlreiche solcher Nachbildungen. Viele Dinge, die wir aufgrund des Wortes Gottes als göttliche und himmlische Wirklichkeiten kennen, hat die bekennende Christenheit sichtbar nachzubilden versucht. Müde geworden, sich auf einen unsichtbaren Gott zu stützen oder auf ein unsichtbares Opfer zu vertrauen, bei einem unsichtbaren Hohenpriester Hilfe zu suchen oder sich der Leitung eines unsichtbaren Führers anzuvertrauen, hat sie sich darangemacht, diese Dinge selbst zu „bilden“, und so ist sie von Jahrhundert zu Jahrhundert eifrig beschäftigt gewesen, mit dem Meißel in der Hand ein Ding nach dem anderen nachzubilden, so dass wir jetzt zwischen einem großen Teil dessen, was wir um uns her sehen, und dem, was wir im Wort Gottes lesen, nicht viel mehr Ähnlichkeit entdecken als zwischen einem gegossenen Kalb und dem Gott Israels.
„Mache uns Götter!“ Welch ein Gedanke! Ein Mensch wird aufgefordert, einen Gott zu machen, und ein Volk erklärt sich bereit, ihm sein Vertrauen zu schenken! Es ist sicher aufschlussreich, in uns hinein und um uns her zu blicken, ob wir da nicht Ähnliches entdecken. Wir lesen in Bezug auf die Geschichte Israels in 1. Korinther 10,11: „Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf die das Ende der Zeitalter gekommen ist“. Sehen wir daher zu, dass wir uns dieser Ermahnung nicht entziehen. Zwar haben wir wohl nicht gerade die Absicht, ein gegossenes Kalb zu machen, um uns vor ihm niederzuwerfen, dennoch ist die Sünde Israels ein „Vorbild“ von etwas, das auch für uns eine große Gefahr sein kann. Sobald wir aufhören, wegen unseres Heils oder wegen unserer praktischen Bedürfnisse ausschließlich auf Gott zu vertrauen, sagen wir im Prinzip schon: „Auf, mache uns Götter.“ Es ist unnötig zu sagen, dass wir in uns selbst um nichts besser sind als Aaron und die Kinder Israel. Während sie anstelle des HERRN ein Kalb verehrten, sind wir in Gefahr, nach demselben Grundsatz zu handeln und denselben Geist zu offenbaren. Unser einziges Bewahrungsmittel ist, viel in der Gegenwart Gottes zu sein. Mose wusste, dass das gegossene Kalb nicht der HERR war, und deshalb erkannte er es nicht an. Aber wenn wir die Gegenwart Gottes verlassen, können wir zu unzählbaren groben Irrtümern und Sünden fortgerissen werden.
Wir sind berufen, durch Glauben zu leben. Unsere leiblichen Augen können uns dabei nicht helfen. Jesus ist jetzt im Himmel, und wir haben die Weisung, mit Geduld auf seine Erscheinung zu warten. Das Wort Gottes, angewandt auf das Herz in der Kraft des Heiligen Geistes, ist die Grundlage des Vertrauens in allen Dingen – seien sie zeitlich oder geistlich, gegenwärtig oder zukünftig. Der Heilige Geist redet zu uns von dem vollkommenen Opfer Christi. Wir glauben es durch die Gnade, stellen unsere Seelen unter die Wirksamkeit dieses Opfers und wissen, dass wir nie und nimmer beschämt werden können. Er redet zu uns von einem großen, durch die Himmel gegangenen Hohenpriester, von Jesus, dem Sohn Gottes, dessen Fürbitte allmächtig ist. Wir glauben es durch die Gnade, ruhen im Vertrauen auf seine Macht und wissen, dass wir völlig gerettet werden. Er redet zu uns von dem lebendigen Haupt, mit dem wir durch das Auferstehungsleben verbunden sind und von dem uns kein Einfluss der Engel, der Menschen oder der Teufel je zu trennen vermag. Wir glauben es durch die Gnade, klammern uns in einfältigem Glauben an dieses Haupt und wissen, dass wir nie zuschanden werden. Er redet zu uns von der herrlichen Erscheinung des Sohnes vom Himmel. Wir glauben es durch die Gnade, versuchen die reinigende und befreiende Kraft dieser wunderbaren Hoffnung auf uns wirken zu lassen und wissen, dass wir nie enttäuscht werden können. Er redet zu uns von einem „unverweslichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbteil, das in den Himmeln aufbewahrt ist“ für uns, die wir „durch Gottes Macht durch Glauben bewahrt werden“ (1. Pet 1,4) – von einem Erbteil, das wir zu seiner Zeit in Besitz nehmen werden. Wir glauben es durch die Gnade und wissen, dass wir niemals beschämt werden können. Er sagt uns, dass alle Haare unseres Hauptes gezählt sind und dass uns nichts Gutes mangeln soll. Wir glauben es durch die Gnade und unsere Herzen können in jeder Hinsicht vollkommen ruhig sein. So ist es oder wenigstens möchte unser Gott, dass es so sei. Aber der Feind ist immer auf dem Plan und will uns verleiten, diese göttlichen Wirklichkeiten zu verwerfen und den „Meißel“ des Unglaubens zur Hand zu nehmen, um uns selbst einen Gott zu machen. Lasst uns vor ihm auf der Hut sein! Wappnen wir uns gegen ihn durch anhaltendes Gebet! Leisten wir ihm Widerstand in Wort und Tat! Auf diese Weise wird seine Absicht vereitelt, Gott wird verherrlicht, und wir selbst werden reich gesegnet.
Israel hat in dieser Hinsicht seinen HERRN vollständig verworfen. „Und Aaron sprach zu ihnen: Reißt die goldenen Ringe ab, die in den Ohren eurer Frauen, eurer Söhne und eurer Töchter sind, und bringt sie zu mir … Und er nahm es aus ihrer Hand und bildete es mit einem Meißel und machte ein gegossenes Kalb daraus. Und sie sprachen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben. Und als Aaron es sah, baute er einen Altar vor ihm; und Aaron rief aus und sprach: Ein Fest dem HERRN ist morgen!“ (V. 2–5) Damit wurde Gott gänzlich beiseitegesetzt und ein Kalb an seinen Platz gestellt. Wenn die Israeliten sagen konnten, ein Kalb habe sie aus Ägypten geführt, dann hatten sie offenbar jedes Bewusstsein von der Gegenwart und dem Charakter des wahren Gottes verloren. Wie „schnell“ mussten sie „von dem Weg abgewichen sein“ (V. 8), um in einen so groben und entsetzlichen Fehler verfallen zu können! Und Aaron, der Bruder und Leidensgefährte Moses, war in dieser Sache ihr Leiter. Er konnte angesichts eines Kalbes sagen: „Ein Fest dem HERRN ist morgen!“ Wie beschämend! Gott musste einem Götzen Platz machen. Ein elendes Ding, von der Hand und nach dem Plan eines Menschen gebildet, wurde an die Stelle des „Herrn der ganzen Erde“ gesetzt.
Die Fürsprache Moses
Die Israeliten haben mit vollem Bewusstsein das Verhältnis zu ihrem Gott gekündigt. Infolgedessen begegnete ihnen Gott nun auf dem Boden, auf den sie sich gestellt hatten. „Da sprach der HERR zu Mose: Geh, steige hinab! Denn dein Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, hat sich verdorben. Sie sind schnell von dem Weg abgewichen, den ich ihnen geboten habe … Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk; und nun lass mich, dass mein Zorn gegen sie entbrenne und ich sie vernichte; dich aber will ich zu einer großen Nation machen“ (V. 7–10). Mit diesen Worten wurde Mose eine weite Tür geöffnet, aber er zeigt hier eine ungewöhnliche Gnade und eine sehr ähnliche Gesinnung wie jener Prophet, gleich ihm, den der Herr in späteren Tagen erwecken wollte (5. Mo 18,15). Er weigerte sich, etwas zu sein oder etwas zu empfangen ohne dieses Volk. Er verhandelt mit Gott auf dem Boden seiner eigenen Herrlichkeit und wirft das Volk auf ihn zurück mit den rührenden Worten: „Warum, HERR, sollte dein Zorn entbrennen gegen dein Volk, das du aus dem Land Ägypten herausgeführt hast mit großer Kraft und mit starker Hand? Warum sollten die Ägypter also sprechen: Zum Unglück hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge zu töten und sie von der Fläche des Erdbodens zu vernichten? Kehre um von der Glut deines Zorns und lass dich des Übels gegen dein Volk gereuen. Gedenke Abrahams, Isaaks und Israels, deiner Knechte, denen du bei dir selbst geschworen hast, und hast zu ihnen gesagt: Mehren will ich eure Nachkommen wie die Sterne des Himmels; und dieses ganze Land, von dem ich geredet habe, werde ich euren Nachkommen geben, dass sie es als Erbteil besitzen auf ewig“ (V. 11–13). Das war eine gewaltige Verteidigung. Die Herrlichkeit Gottes, die Ehre seines heiligen Namens, die Erfüllung seines Eidschwurs – das waren die Gründe, auf die Mose sich stützte, um den Zorn seines Herrn abzuwenden. In Israel konnte er nichts finden, worauf er seine Fürsprache hätte gründen können. Er fand alles in Gott selbst.
Der Herr hatte zu Mose gesagt. „Dein Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast“, aber Mose antwortet dem Herrn: „Dein Volk, das du herausgeführt hast“. Trotz allem war und blieb Israel das Volk Gottes; sein Name, seine Herrlichkeit und sein Eidschwur standen mit dem Schicksal Israels unmittelbar in Verbindung. Wenn Gott sich mit einem Volk einsmacht, dann ist Er in seiner ganzen Herrlichkeit mit ihm verbunden, und auf dieser unerschütterlichen Grundlage ruht auch der Glaube. Mose verliert sich selbst ganz und gar aus dem Auge. Seine ganze Seele ist erfüllt mit der Herrlichkeit Gottes und mit dem Volk Gottes. Welch ein Diener! Wie wenige gleichen ihm! Und doch, wie unendlich weit war er selbst in diesem Dienst von unserem Herrn Jesus entfernt! Mose stieg vom Berg herab, und als er das Kalb und die Reigentänze sah, „da entbrannte der Zorn Moses, und er warf die Tafeln aus seinen Händen und zerbrach sie unten am Berg“ (V. 19). Der Bund war gebrochen, die Zeugnisse davon lagen in Stücken am Boden, und dann, nachdem Mose in gerechtem Zorn das Gericht vollzogen hatte, sagte er zu dem Volk: „Ihr habt eine große Sünde begangen: und nun will ich zu dem HERRN hinaufsteigen, vielleicht kann ich Sühnung für eure Sünde tun“ (V. 30).
Etwas völlig anderes sehen wir bei Christus. Er war aus der Gegenwart des Vaters gekommen, nicht mit Gesetzestafeln in seiner Hand, sondern mit dem Gesetz in seinem Herzen. Er brauchte den Zustand des Volkes nicht erst kennenzulernen, sondern Er kam in vollkommener Kenntnis dieses Zustandes. Anstatt die Zeugnisse des Bundes zu zerstören und Gericht auszuüben, verherrlichte Er das Gesetz und ertrug am Kreuz an sich selbst das Gericht seines Volkes; und nachdem alles vollbracht war, ging Er in den Himmel zurück, und zwar nicht mit einem: „Vielleicht kann ich Sühnung für eure Sünde tun“, sondern um vor dem Thron Gottes Zeugnis davon zu geben, dass die Erlösung vollbracht ist. Das ist ein unermesslicher und herrlicher Unterschied. Gott sei Dank! Wir haben nicht nötig, ängstliche Blicke auf unseren Mittler zu richten, um zu erfahren, ob Er Sühnung für uns tun und der beleidigten Gerechtigkeit Gottes Genüge tun werde. Nein, Er hat alles vollbracht. Seine Gegenwart in den Himmeln ist für uns die Garantie, dass das ganze Werk vollendet ist.
Am Ende dieses Kapitels stellt Gott die Grundsätze fest, nach denen Er künftig das Volk regieren wird: „Wer gegen mich gesündigt hat, den werde ich aus meinem Buch auslöschen. Und nun geh hin, führe das Volk, wohin ich dir gesagt habe. Siehe, mein Engel wird vor dir herziehen; und am Tag meiner Heimsuchung, da werde ich ihre Sünde an ihnen heimsuchen“ (V. 33.34). Hier sehen wir Gott in seiner Regierung und nicht im Evangelium. Hier redete Er von dem Auslöschen des Sünders, während Er im Evangelium die Sünde auslöscht. Das ist ein großer Unterschied.
Das Volk sollte also unter der Mittlerschaft Moses durch einen Engel weitergeführt werden. Auf dem Weg von Ägypten bis zum Sinai war es noch ganz anders gewesen. Aber nun stand Israel auf dem Boden des Gesetzes und konnte daher keine Gnade mehr erwarten. Auch für Gott blieb nichts anderes übrig, als in seiner Unumschränktheit zu sagen: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadigen werde, und werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarmen werde“ (Kap. 33,19).