Betrachtungen über das zweite Buch Mose
Die zehn Gebote
Gesetz und Gnade
Es ist von großer Wichtigkeit, den Charakter und die Absicht des Sittengesetzes zu verstehen, das uns in diesem Kapitel vorgestellt wird. Der Mensch ist nämlich immer geneigt, die Grundsätze des Gesetzes und die der Gnade durcheinanderzubringen, so dass weder das eine noch das andere richtig verstanden werden kann. Dadurch aber wird das Gesetz seiner strengen, unerbittlichen Majestät und die Gnade ihrer göttlichen Vollkommenheit beraubt. Die heiligen Forderungen Gottes bleiben unbeantwortet, und andererseits findet der Mensch keinen Ausweg aus der Not seiner Sünden. Gesetz und Gnade sind so verschieden voneinander, dass sie niemals in ein einziges System verwoben werden können. Das Gesetz ist der Ausdruck dessen, was der Mensch sein sollte, während die Gnade zeigt, was Gott ist. Deshalb ist es unmöglich für einen Sünder, teils durch Gesetz und teils durch Gnade errettet zu werden.
Das Gesetz ist gelegentlich der „Ausdruck der Gedanken Gottes“ genannt worden. Davon kann aber keine Rede sein. Es ist zwar der sittliche Maßstab Gottes für den Menschen, aber niemals der Inhalt aller seiner Gedanken! Gibt es denn nichts anderes in den Gedanken Gottes, als ein „Du sollst“ und „Du sollst nicht“? Findet sich in ihm kein Erbarmen, keine Güte? Will Gott nicht offenbaren, was Er ist – nämlich Liebe? Gibt es in seinem Wesen nichts als Forderungen und Verbote? Wäre es so, dann müsste man sagen: „Gott ist Gesetz“, und nicht: „Gott ist Liebe“. Aber Gott sei Dank! In seinem Herzen ist weit mehr, als was in den „Zehn Geboten“ je zum Ausdruck kommen könnte. Wenn ich Gott kennenlernen will, dann muss ich meine Blicke auf Christus richten, „denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9). „Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17). Gewiss war das Gesetz ein Teil der Wahrheit. Es enthielt die Wahrheit über das, was der Mensch sein sollte. Wie alles, was von Gott kommt, war auch das Gesetz in seiner Weise vollkommen, nämlich im Hinblick auf den Zweck, um dessentwillen es gegeben wurde. Worin aber bestand dieser Zweck? Sollte darin das Wesen Gottes vor den Augen der Sünder enthüllt werden? Ganz sicher nicht, denn in dem Gesetz gab es weder Gnade noch Barmherzigkeit. „Jemand, der das Gesetz Moses verworfen hat, stirbt ohne Barmherzigkeit“ (Heb 10,28). „Der Mensch, der diese Dinge tut, wird durch sie leben“ (Röm 10,5; 3. Mo 18,5). „Verflucht sei, wer nicht aufrechterhält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun!“ (5. Mo 27,26; vgl. Gal 3,10). Das war keine Gnade. Der Berg Sinai war gewiss nicht der Ort, wo man Gnade finden konnte. Dort offenbarte sich der HERR in erschreckender Majestät, in Dunkel gehüllt und mit Sturm, Donner und Blitz. Das deutete nicht auf ein Handeln Gottes in Gnade und Barmherzigkeit hin; aber es entsprach völlig einem Handeln in Wahrheit und Gerechtigkeit; und genau das und nichts anderes war das Gesetz.
In dem Gesetz legt Gott fest, wie der Mensch sich verhalten sollte und spricht einen Fluch über ihn aus, wenn er diesen Anforderungen nicht entspricht. Nun aber findet der Mensch, wenn er sich im Licht des Gesetzes prüft, dass er gar nicht imstande ist, zu erfüllen, was das Gesetz fordert. Wie könnte er nun durch das Gesetz Leben erlangen? Das Gesetz verheißt ihm zwar Leben und Gerechtigkeit, wenn er die Gebote hält; aber es zeigt ihm schon vom ersten Augenblick an, dass er sich in einem Zustand des Todes und der Ungerechtigkeit befindet. Er ist also von Anfang an auf die Dinge angewiesen, die das Gesetz ihm als Ziele hinstellt. Wie kann er diese nun erreichen? Um so zu sein, wie es das Gesetz verlangt, muss er Leben und Gerechtigkeit haben; und wenn ihm beides fehlt, ist er „verflucht“. Tatsächlich aber besitzt er weder Leben noch Gerechtigkeit. Was soll er tun? Das ist die Frage. Mögen die ihm Antwort geben, die „Gesetzeslehrer sein wollen“ (1. Tim 1,7); mögen sie in befriedigender Weise einem aufrichtigen Gewissen Rede stehen, das ohne Hoffnung ist angesichts der Heiligkeit und Unerbittlichkeit des Gesetzes und der unverbesserlichen menschlichen Natur.
Das Ziel des Gesetzes
Wozu dann aber das Gesetz? Es kam, wie der Apostel uns belehrt, „daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde“ (Röm 5,20). Das zeigt uns sehr klar den wahren Zweck des Gesetzes. Es kam daneben ein, um die Sünde als Sünde erkennbar zu machen (Röm 7,13).
Es gleicht in gewissem Sinn einem vollkommenen Spiegel, der von Gott gegeben wurde, um dem Menschen sein moralisches Verderben zu zeigen. Wenn ich mich mit unordentlichen, zerrissenen Kleidern vor einen Spiegel stelle, zeigt er mir zwar die Unordnung, hilft aber dem Übel nicht ab. Wenn ich mit einem guten Senkblei eine unebene Mauer untersuche, zeigt es mir wohl die hässliche Ausbuchtung, beseitigt sie aber nicht. Wenn ich in dunkler Nacht mit einer Laterne ausgehe, lässt sie mich wohl alle Hindernisse und Schwierigkeiten meines Weges erkennen, räumt sie aber nicht weg. Natürlich bringen weder der Spiegel noch das Senkblei noch die Lampe die Übel hervor, die durch sie ans Licht gebracht werden. Sie schaffen weder die Übel noch beseitigen sie diese; sie offenbaren sie nur. Genauso ist es mit dem Gesetz; es kann das Böse im Herzen des Menschen weder hervorbringen, noch beseitigen, aber es offenbart es mit untrüglicher Genauigkeit.
„Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt als nur durch Gesetz. Denn auch von der Begierde hätte ich nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren“ (Röm 7,7). Der Apostel sagt nicht, dass der Mensch kein Begehr gehabt, sondern dass er nichts davon gewusst habe. Die Begierde war in ihm; aber er war in völliger Unwissenheit über sie, bis die „Leuchte“ des Allmächtigen (Hiob 29,3) sein Herz erhellte und ihm das dort verborgene Böse offenbarte. So kann jemand in einem dunklen Zimmer von Staub und Unordnung umgeben sein, ohne es zu merken; sobald aber ein Sonnenstrahl ins Zimmer fällt, kann er alles unterscheiden. Haben die Sonnenstrahlen den Staub hervorgebracht? Natürlich nicht. Der Staub war vorhanden, und die Sonnenstrahlen bewirkten nur, dass er gesehen wurde. Das ist eine einfache Erklärung der Wirkung des Gesetzes. Es beurteilt den Charakter und den Zustand des Menschen. Es beweist ihm, dass er ein Sünder ist und stellt ihn unter den Fluch. Es beurteilt den Menschen und verflucht ihn, wenn er seinen Forderungen nicht völlig entspricht.
Niemals also kann ein Mensch durch das Gesetz Leben und Gerechtigkeit erlangen, weil das Gesetz ihn nur verurteilt; und solange nicht der Zustand des Sünders oder der Charakter des Gesetzes gänzlich verändert wird, kann das Gesetz nicht anders, als den Sünder verfluchen. Es erlaubt keine Schwachheiten und Gebrechen und begnügt sich nicht mit einem unvollkommenen, wenn auch aufrichtigen Gehorsam. Sonst wäre es nicht mehr „heilig und gerecht und gut“ (Röm 7,12). Gerade weil das Gesetz aber diesen Charakter trägt, kann der Sünder kein Leben daraus erlangen. Würde er es erlangen können, so wäre das Gesetz nicht vollkommen oder der Mensch kein Sünder. „Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20). Der Apostel sagt nicht: „Durch Gesetz kommt die Sünde“ sondern die „Erkenntnis der Sünde.“ „Denn bis zu dem Gesetz war Sünde in der Welt; Sünde aber wird nicht zugerechnet, wenn kein Gesetz da ist“ (Röm 5,13). Die Sünde war vorhanden, und es bedurfte nur des Gesetzes, um sie als „Übertretung“ zu enthüllen. Wenn ich zu meinem Kind sage: „Du darfst dieses Messer nicht anrühren“, dann wird gerade dieses Verbot die Neigung des Kindes, seinen eigenen Willen zu tun, ans Licht bringen. Er bewirkt die Neigung nicht, sondern offenbart sie nur.
Der Apostel Johannes sagt: „Die Sünde ist die Gesetzlosigkeit“ (1. Joh 3,4). Der Begriff „Übertretung“ würde den Gedanken des Heiligen Geistes in dieser Stelle nicht richtig wiedergeben, denn um ein „Übertreter“ sein zu können, muss ich zunächst eine eindeutig festgelegte Regel oder Richtschnur haben. Übertretung bedeutet das Überschreiten einer verbotenen Linie, und eine solche Linie finde ich im Gesetz. Es sagt: „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht ehebrechen“, „Du sollst nicht stehlen“ (20,12 f.) usw. Damit wird eine Regel oder eine Richtschnur vor mich gestellt, aber nun entdecke ich in mir selbst gerade jene Neigungen, gegen die die Verbote des Gesetzes gerichtet sind. Allein die Tatsache, dass mir geboten wird, nicht zu töten, zeigt, dass Mordlust in meiner Natur vorhanden ist (vgl. Röm 2,15). Es wäre sinnlos, nur eine Sache zu verbieten, wenn ich gar keine Neigung hätte, sie zu tun. Die Offenbarung des Willens Gottes verrät also die Neigung meines Willens, das zu sein, was ich nicht sein sollte. Das ist einfach und klar und entspricht vollkommen der apostolischen Belehrung über diese Sache.
Der Fluch des Gesetzes
Allerdings gibt es viele, die zwar wissen, dass es unmöglich ist, durch das Gesetz Leben zu erlangen, die aber dennoch das Gesetz zu ihrer Lebensregel machen. Der Apostel sagt aber ausdrücklich: „So viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch“ (Gal 3,10). Ihr persönlicher Zustand kommt hierbei gar nicht in Betracht. Stellen sie sich auf den Boden des Gesetzes, so sind sie unter Fluch. Vielleicht wird jemand sagen: „Ich bin wiedergeboren und darum nicht dem Fluch ausgesetzt.“ Aber wenn die Wiedergeburt den Menschen nicht vom Boden des Gesetzes entfernt, kann sie ihn auch nicht vor dem Fluch bewahren. Was hat aber das Gesetz überhaupt mit der Wiedergeburt zu tun? Finden wir in dem vorliegenden Kapitel irgendeine Spur davon? Das Gesetz hat nur eine, und zwar eine kurze, ernste und bestimmte Frage an den Menschen: „Bist du das, was du sein solltest?“ Wenn diese Frage verneint werden muss, so kann es dem Menschen nur seine schrecklichen Flüche entgegenhalten und ihn töten. Und wer wird so bereitwillig wie der wirklich wiedergeborene Mensch anerkennen, dass er in sich selbst alles andere ist als das, was er sein sollte? Wenn er daher unter dem Gesetz ist, dann ist er auch unausweichlich dem Fluch unterworfen. Die Forderungen des Gesetzes können niemals verringert werden – auch durch die Gnade nicht. Der Mensch aber, der seine Unzulänglichkeit vor dem Gesetz erkennt, versucht immer, das Gesetz in seinem Anspruch zu erniedrigen. Solche Anstrengungen sind jedoch vergeblich. Das Gesetz bleibt in seiner ganzen Reinheit, Majestät und Strenge bestehen und wird von seiner Forderung eines vollkommenen Gehorsams auch nicht um Haaresbreite ablassen. Wo aber ist der Mensch, wiedergeboren oder nicht wiedergeboren, der eine solche Forderung jemals erfüllen könnte? Man wird vielleicht sagen, dass wir in Christus die Vollkommenheit besitzen. Allerdings. Aber wodurch haben wir sie erlangt? Nicht durch Gesetz, sondern allein durch Gnade. Wir dürfen diese beiden Grundsätze auf keinen Fall durcheinanderbringen. Die Heilige Schrift belehrt uns ausführlich und deutlich, dass wir weder durch das Gesetz gerechtfertigt sind noch dass es die Richtschnur unseres Lebens ist. Das, was nur verfluchen kann, kann niemals rechtfertigen, und das, was nur zu töten vermag, kann niemals eine Lebensregel sein.
Ein untragbares Joch
Ein Blick in das 15. Kapitel der Apostelgeschichte zeigt uns, wie entschieden der Heilige Geist dem Versuch entgegentritt, nichtjüdische Gläubige unter das Gesetz als Richtschnur ihres Lebens zu stellen. „Einige aber von denen aus der Sekte der Pharisäer, die glaubten, traten auf und sagten: Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten“ (V. 5). Der traurige Rat jener Gesetzesmänner der ersten Zeit war nichts anderes als das Zischen der alten Schlange. Der Heilige Geist aber hat durch die einmütige Stimme der zwölf Apostel und der ganzen Versammlung diese Zumutung zurückgewiesen: „Als aber viel Wortwechsel entstanden war, stand Petrus auf und sprach zu ihnen: Brüder, ihr wisst, dass Gott mich vor längerer Zeit unter euch dazu auserwählt hat, dass die Nationen durch meinen Mund das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten“ (V. 7). Was sollten sie hören? Etwa die Forderungen und Flüche des Gesetzes Moses? Das war – Gott sei Dank! – nicht die Botschaft für hilflose Sünder. Was aber sollten sie hören und glauben? Das Wort des Evangeliums! Das allein war dem Wesen Gottes angemessen, und die Pharisäer, die sich gegen Paulus und Barnabas erhoben, waren weit davon entfernt, seine Boten zu sein. Sie hatten keine gute Botschaft und keinen Frieden zu verkünden, und darum war ihre Predigt auch nicht im Sinn Gottes, der nur an Barmherzigkeit Gefallen findet (vgl. Röm 10,15).
„Nun denn“, fährt der Apostel fort, „was versucht ihr Gott, indem ihr ein Joch auf den Hals der Jünger legt, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten?“ (V. 10). Das war eine deutliche, ernste Sprache. Gott wollte nicht „ein Joch auf den Hals“ derer legen, die durch das Evangelium des Friedens befreit worden waren. Er wollte sie lieber ermahnen, festzustehen in der Freiheit Christi und sich „nicht wieder unter einem Joch der Knechtschaft“ halten zu lassen (Gal 5,1). Er wollte nicht, dass erlöste Sünder, denen Er einen Platz an seinem Herzen gegeben hatte, durch das Dunkel und die Finsternis und den Sturm des Berges Sinai wieder entmutigt würden (Heb 12). Wie könnten wir dem Gedanken Raum geben, dass Gott sie, nachdem Er sie in Gnaden angenommen hatte, wieder unter die Herrschaft des Gesetzes bringen wollte? „Wir glauben“, sagt Petrus, „durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden, wie auch jene“ (Apg 15,11). Sowohl die Juden, die das Gesetz empfangen hatten, als auch die Heiden, die ohne Gesetz waren, sollten hinfort alle „durch Gnade“ errettet werden, ja, nicht nur „errettet“ werden durch Gnade, sondern auch in der Gnade „stehen“ (Röm 5,2; Gal 5,1) und in ihr „wachsen“ (2. Pet 3,18). Wer anders lehrt, „versucht Gott“ (Apg 15,10). Jene Pharisäer tasteten die Grundlagen des christlichen Glaubens an, und dasselbe tut jeder, der die Gläubigen unter das Gesetz zu stellen versucht. Es gibt in den Augen des Herrn kein schrecklicheres Übel, keinen verwerflicheren Irrtum als die Gesetzlichkeit. Man höre nur die scharfe Sprache, die Ausdrücke des Unwillens, die der Heilige Geist in Bezug auf jene Gesetzeslehrer benutzt: „Ich wollte, dass sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln!“ (Gal 5,12).
Und haben sich die Gedanken des Heiligen Geistes im Hinblick auf diese Frage etwa geändert? Heißt es heute nicht mehr „Gott versuchen“, wenn man einem Sünder das Joch des Gesetzes auferlegt? Ist es etwa jetzt in Übereinstimmung mit seiner Gnade, einem Sünder das Gesetz zu predigen? Diese Frage ist im Licht des 15. Kapitels der Apostelgeschichte und des Galaterbriefs leicht zu beantworten. Selbst wenn keine anderen vorhanden wären, würden diese Schriftstellen zur Genüge beweisen, dass es niemals in der Absicht Gottes lag, die Nationen unter das Gesetz zu stellen. Sonst hätte Er sicher jemanden auserwählt, um es ihnen zu verkünden. Als Gott sein Gesetz gab, redete Er nur in einer einzigen Sprache. Als Er aber die frohe Botschaft des Heils durch das Blut des Lammes verkündigte, redete Er in der Sprache jeder Nation derer, die unter dem Himmel sind. Er redete in einer Weise, dass jeder in seiner eigenen Mundart, in der er geboren war, die frohe Botschaft der Gnade vernehmen konnte (Apg 2,1–11).
Und weiter, als Gott vom Berg Sinai aus die harten Forderungen des Bündnisses der Werke vernehmen ließ, richtete Er sich ausschließlich an ein einziges Volk. Nur die Juden sollten seine Stimme hören. Aber als der auferstandene Christus seine Heilsboten aussandte, geschah es mit dem Auftrag: „Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung“ (Mk 16,15; vgl. Lk 3,6). Die unendliche Gnade Gottes, deren Schleusen durch das Blut des Lammes geöffnet worden waren, sollte durch die wirksame Kraft des Heiligen Geistes über die engen Grenzen des Judentums hinaus der ganzen sündenbeladenen Welt zugutekommen. Alle Völker sollten die Botschaft des Friedens, das Wort des Evangeliums durch das Blut des Kreuzes in ihrer eigenen Sprache hören.
Das Gesetz und das Evangelium
Die Grundlage des Lebens für den Sünder und die Richtschnur des Lebens für den Gläubigen ist also nicht im Gesetz zu finden, sondern nur in Christus. Er ist unser Leben, und Er ist die Richtschnur unseres Lebens. Das Gesetz kann nur verfluchen und töten. Christus ist unser Leben und unsere Gerechtigkeit. Er ist ein Fluch für uns geworden, als Er am Kreuz hing. Er stieg hinab bis zu dem Platz, wo der Sünder lag – zu dem Ort des Todes und des Gerichts, und nachdem Er uns durch seinen Tod von allem befreit hat, was gegen uns war und gegen uns sein konnte, ist Er für alle, die an seinen Namen glauben, in der Auferstehung die Quelle des Lebens und die Grundlage der Gerechtigkeit geworden. Und indem wir auf diese Weise Leben und Gerechtigkeit in ihm besitzen, sind wir berufen, nicht nach den Vorschriften des Gesetzes zu leben, sondern „so zu wandeln, wie er gewandelt ist“ (1. Joh 2,6). Selbstverständlich sind Töten, Ehebrechen und Stehlen Handlungen, die mit der christlichen Ethik in Widerspruch stehen. Aber wenn ein Christ seinen Weg nach diesen Vorschriften oder nach den Zehn Geboten überhaupt einrichten wollte, würde er dadurch wohl die wunderbaren Früchte hervorbringen, von denen der Brief an die Epheser redet? Würden die Zehn Gebote wohl je einen Dieb dahin bringen, nicht mehr zu stehlen, sondern zu arbeiten, um auch anderen etwas geben zu können? Würden sie je einen Dieb in einen arbeitsamen, freigebigen Menschen umwandeln können? Das Gesetz sagt: „Du sollst nicht stehlen“; aber sagt es etwa auch: „Gib dem Dürftigen, segne deinen Feind, und tue auch dem Gutes, der nur darauf aus ist, dir zu schaden“? Wenn ich als Christ unter dem Gesetz als einer Lebensregel stände, könnte es mich nur verfluchen und töten. Aber wie ist das möglich, da doch die Forderungen im Neuen Testament noch viel weiter gehen? Nun, einfach deshalb, weil ich schwach bin und das Gesetz mir weder Kraft gibt noch Barmherzigkeit erweist. Das Gesetz fordert Kraft von dem, der kraftlos ist, und verflucht ihn, wenn er keine Kraft offenbaren kann. Das Evangelium gibt Kraft dem, der keine besitzt, und segnet ihn, wenn er sie offenbart. Das Gesetz stellt das Leben als das Ziel des Gehorsams hin. Das Evangelium gibt das Leben als die einzig wahre Grundlage des Gehorsams.
Aber um nicht länger mit Beweisführungen zu ermüden, möchte ich fragen: Wenn wirklich das Gesetz eine Lebensregel für den Gläubigen darstellt, wo finden wir dann einen Hinweis darauf im Neuen Testament? Offenbar hatte der Apostel diesen Gedanken nicht, als er an die Galater schrieb: „Denn weder Beschneidung noch Vorhaut ist etwas, sondern eine neue Schöpfung. Und so viele nach dieser Richtschnur wandeln werden – Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!“ (Gal 6,15–16). Welche Richtschnur meint er hier? Das Gesetz? Nein, sondern die „neue Schöpfung“. Finden wir etwas dergleichen in 2. Mose 20? Redet das Gesetz ein einziges Wort über die „neue Schöpfung“? Im Gegenteil. Es richtet sich an den Menschen in seinem natürlichen Zustand gemäß der alten Schöpfung und stellt ihn auf die Probe, um seine Fähigkeiten zu untersuchen. Wenn nun das Gesetz der Grundsatz wäre, nach dem die Gläubigen leben sollten, warum spricht dann der Apostel einen Segen über die aus, die nach einem ganz anderen Grundsatz wandeln? Warum sagt er nicht. „So viele nach dem Grundsatz der Zehn Gebote wandeln“? Ist es nicht aufgrund dieser einzigen Stelle offensichtlich, dass die Versammlung Gottes einen erhabeneren Grundsatz hat, nach dem sie wandeln soll? Obwohl die Zehn Gebote zweifellos zu dem inspirierten Wort gehören, können sie doch niemals die Lebensregel eines Menschen sein, der durch die unendliche Gnade Gottes in eine neue Schöpfung eingeführt ist und neues Leben in Christus empfangen hat.
Aber ist das Gesetz nicht vollkommen? Und wenn es vollkommen ist, was will man dann mehr? Das Gesetz ist göttlich vollkommen. Ja gerade wegen seiner Vollkommenheit verflucht und tötet es jeden, der meint, vor ihm bestehen zu können, und doch nicht vollkommen ist. „Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich“ (Röm 7,14). Es ist unmöglich, sich von der Vollkommenheit und Geistlichkeit des Gesetzes eine angemessene Vorstellung zu machen. Aber sobald dieses vollkommene Gesetz mit der gefallenen Menschheit in Berührung kommt, sobald dieses geistliche Gesetz der „Gesinnung des Fleisches“ begegnet, kann es nur Zorn bewirken und die Feindschaft des Menschen ans Licht bringen (Röm 4,15; 8,7). Warum? Etwa deshalb, weil das Gesetz nicht vollkommen ist? Nein, sondern weil es vollkommen ist und weil der Mensch ein Sünder ist. Wenn der Mensch vollkommen wäre, würde er das Gesetz in all seiner geistlichen Vollkommenheit erfüllen; und der Apostel Paulus belehrt uns, dass selbst in den wahren Gläubigen, obwohl sie noch eine sündige Natur in sich tragen, „die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllt“ wird – in denen nämlich, „die nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln“ (Röm 8,4). „Wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt … Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe die Summe des Gesetzes“ (Röm 13,8–10; vgl. Gal 5,14.22.23). Wenn ich jemanden liebe, werde ich ihm wohl nichts stehlen, vielmehr werde ich ihm Gutes tun, so viel ich kann. Dies alles ist für einen geistlich gesinnten Christen leicht verständlich, aber es lässt die Frage des Gesetzes, sei es als Grundlage des Lebens für den Sünder oder als Lebensregel für den Gläubigen, völlig unberührt.
Die zwei großen Gebote
Wenn wir das Gesetz in seinen zwei Hauptgedanken betrachten, dann sehen wir, dass es dem Menschen gebietet, Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzer Kraft und seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das ist die Summe des Gesetzes. Das und nichts Geringeres fordert das Gesetz. Aber wer von den gefallenen Nachkommen Adams hat je dieser Forderung des Gesetzes entsprochen? Wo ist der Mensch, der sagen könnte, er habe Gott und seinen Nächsten in dieser Weise geliebt? „... weil die Gesinnung des Fleisches (d. i. die Gesinnung, die wir von Natur haben) Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht“ (Röm 8,7). Der Mensch hasst Gott und die Wege Gottes. Gott ist in der Person Christi auf die Erde gekommen und hat sich dem Menschen offenbart, und zwar nicht in dem überwältigenden Glanz seiner Majestät, sondern in unendlicher Gnade und Herablassung. Und das Ergebnis war, dass der Mensch Gott hasste: „Jetzt aber haben sie gesehen und doch gehasst sowohl mich als auch meinen Vater“ (Joh 15,24). Aber man wird sagen: „Der Mensch sollte Gott lieben.“ Ganz recht, und wenn er ihn nicht liebt, verdient er den Tod und die ewige Verdammnis. Kann aber das Gesetz diese Liebe im Herzen des Menschen hervorrufen? War das der Zweck des Gesetzes? Nein. „Denn das Gesetz bewirkt Zorn“; „es wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt“; „durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 4,15; Gal 3,19; Röm 3,20). Das Gesetz sieht den Menschen in einem Zustand der Feindschaft gegen Gott, und ohne diesen Zustand irgendwie zu verändern, gebietet es ihm, Gott von ganzem Herzen zu lieben, und es verflucht ihn, wenn er es nicht tut. Das Gesetz war nicht dazu bestimmt, die Natur des Menschen zu verändern oder zu verbessern, noch vermochte es irgendwie Kraft darzureichen, damit der Mensch seinen gerechten Forderungen nachkommen könnte. Das Gesetz sagte: „Tue dies, und du wirst leben.“ Es gebot dem Menschen, Gott zu lieben. Es offenbarte nicht, was Gott für den Menschen, selbst für den schuldigen und verdorbenen Menschen war, sondern es sagte dem Menschen, was er für Gott sein sollte. Das war keine Entfaltung der wunderbaren Wesenszüge Gottes, die in dem Menschen wahre Buße, ungeheuchelte Liebe und echte Anbetung Gottes bewirken, sondern es war ein unumstößliches Gebot, Gott zu lieben; und anstatt diese Liebe wachzurufen, bewirkte es Zorn – nicht weil Gott nicht geliebt werden sollte, sondern weil der Mensch ein Sünder war.
Der zweite Grundsatz „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (3. Mo 19,18) ist für den natürlichen Menschen ebenso unerfüllbar. Liebt er seinen Nächsten wie sich selbst? Ist das der Grundsatz, der sich in der Politik oder im Wirtschaftsleben dieser Welt offenbart? Nein, der Mensch liebt seinen Nächsten nicht, wie er sich selbst liebt. Zweifellos sollte er es tun, und er würde es tun, wenn sein Zustand gut wäre. Aber sein Zustand ist durch und durch böse, und wenn er nicht durch das Wort und durch den Geist Gottes von neuem geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen (Joh 3,3–5). Das Gesetz kann diese neue Geburt nicht bewirken. Es tötet den „alten Menschen“, aber es ruft keinen „neuen Menschen“ ins Leben. Wir wissen, dass der Herr Jesus Gott ist, aber in seinem Leben auf der Erde war Er zugleich auch unser Nächster; Er war Gott, offenbart im Fleisch (1. Tim 3,16). Und wie haben die Menschen ihn behandelt? Liebten sie ihn von ganzem Herzen, wie sich selbst? Genau das Gegenteil war der Fall. Sie kreuzigten ihn zwischen zwei Räubern, nachdem sie vorher einen Dieb und Mörder ihm vorgezogen hatten. Und das, obwohl Er ihnen nur Gutes getan hatte, obwohl Er vom Vaterhaus, wo nur Licht und Liebe herrschen, auf die Erde gekommen war, um diese Liebe und dieses Licht in sich selbst darzustellen. Sie haben den getötet, der nur von tiefem Mitgefühl für ihre Not erfüllt war und der immer bereit war, Sünden zu vergeben und Leidenden zu helfen. Wenn wir so das Kreuz Christi betrachten, sehen wir in ihm einen sicheren Beweis dafür, dass es der menschlichen Natur unmöglich ist, das Gesetz zu halten.
Ein Altar aus Erde
Nach allem, was wir betrachtet haben, muss es für einen geistlich gesinnten Gläubigen eine Freude sein, den Schluss dieses Kapitels zu lesen. „Und der HERR sprach zu Mose: So sollst du zu den Kindern Israel sprechen: … Einen Altar aus Erde sollst du mir machen und deine Brandopfer und deine Friedensopfer, dein Kleinvieh und deine Rinder darauf opfern. An jedem Ort, wo ich meines Namens werde gedenken lassen, werde ich zu dir kommen und dich segnen. Und wenn du mir einen Altar von Steinen machst, so sollst du ihn nicht aus behauenen Steinen bauen; denn hast du deinen Meißel darüber geschwungen, so hast du ihn entweiht. Und du sollst nicht auf Stufen zu meinem Altar hinaufsteigen, damit nicht deine Blöße an ihm aufgedeckt werde“ (V. 22–26).
Der Gläubige vollbringt hier keine Werke mehr, sondern er betet an; und dies am Ende von 2. Mose 20! Wie klar belehrt uns diese Tatsache, dass Gott nicht die Absicht hat, den Sünder mit dem Geist des Sinai zu konfrontieren, und dass überhaupt der Sinai nicht der Ort ist, an dem Gott und Mensch einander begegnen können. „An jedem Ort, wo ich meines Namens werde gedenken lassen, werde ich zu dir kommen und dich segnen.“ Wie sehr unterscheidet sich dieser Ort, wo der HERR das Gedächtnis seines Namens stiften, wo Er sein anbetendes Volk segnen will, von den Schrecken des rauchenden Berges!
Gott will dem Sünder an einem Altar begegnen, der aus unbehauenen Steinen erbaut ist und keine Stufen hat, also an einem Ort der Anbetung, dessen Herrichtung keine menschliche Tätigkeit voraussetzt und der dem Menschen ohne irgendwelche Anstrengung zugänglich ist. Das Erste würde nur den Altar entweihen und das Zweite nur die Nacktheit des Menschen enthüllen. Welch ein bewundernswertes Bild von der Person und dem Werk Jesu Christi! Das ist der geistliche Ort, an dem Gott jetzt dem Sünder begegnet, an dem alle Fragen des Gesetzes, der Gerechtigkeit und des Gewissens vollkommen beantwortet sind! Zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen hat der Mensch die Neigung verraten, bei der Aufrichtung seines Altars nach eigenem Werkzeug zu greifen und ihm auf selbstgebauten Stufen zu nahen, aber Verunehrung und Nacktheit waren immer das Ergebnis solcher Versuche. „Wir sind allesamt wie ein Unreiner geworden, und alle unsere Gerechtigkeiten wie ein unflätiges Kleid; und wir verwelken allesamt wie ein Blatt, und unsere Ungerechtigkeiten rafften uns dahin wie der Wind“ (Jes 64,5). Wer würde es wagen, Gott in einem „unflätigen“ Kleid zu begegnen oder in seiner Nacktheit ihn anzubeten? Genau das aber tut jeder Sünder, der sich durch eigene Anstrengung einen Weg zu Gott bahnen will. Solche Anstrengungen sind nutzlos, weil sie die Unreinheit und Nacktheit des Menschen nicht beseitigen können. Gott ist dem in den Tiefen seines Verderbens liegenden Sünder so weit entgegengekommen, dass weder Gesetzlichkeit noch eigene Gerechtigkeit den Sünder noch näher zu Gott bringen kann.
Das sind die Grundsätze, mit denen der Heilige Geist diesen Teil des göttlichen Buches schließt. Es sind Grundsätze, die jeder Christ kennen muss, um den wichtigen Unterschied zwischen Gesetz und Gnade klar zu verstehen!