Betrachtungen über das zweite Buch Mose
Der Besuch Jethros
Bildliche Vorausschau auf Israel, die Nationen und die Versammlung
Wir sind nun am Schluss eines bemerkenswerten Teiles des zweiten Buches Mose angelangt. Gott hat in seiner vollkommenen Gnade sein Volk erlöst; Er hat es aus Ägypten herausgeführt und es zunächst aus der Hand des Pharaos und dann aus der Hand Amaleks befreit. Wir haben in dem Manna ein Bild des aus dem Himmel herabgekommenen Christus gesehen, in dem Felsen ein Bild des für sein Volk geschlagenen Christus und schließlich in dem hervorströmenden Wasser ein Bild des Heiligen Geistes. Und jetzt folgt gemäß der wunderbaren Ordnung, die wir überall in der Heiligen Schrift finden, ein Bild, das uns die zukünftige Herrlichkeit in ihren drei Hauptzügen vor Augen stellt, nämlich in Verbindung mit den Juden, mit den Heiden und mit der Versammlung Gottes.
Während der Verwerfung Moses durch seine Brüder wurde ihm in der Wüste eine Frau, die Gefährtin seiner Verwerfung, gegeben; und der Anfang dieses Buches hat uns über den Charakter der Verbindung Moses mit seiner Frau belehrt. Er war für sie ein „Blutbräutigam“, d. h. gerade das, was Christus für die Versammlung ist. Die Verbindung der Versammlung mit Christus gründet sich auf seinen Tod und seine Auferstehung, und sie ist zur Gemeinschaft seiner Leiden berufen. Sie wird während der Zeit des Unglaubens Israels und der Verwerfung Christi gesammelt, und wenn sie nach den Ratschlüssen Gottes vollendet und die „Vollzahl der Nationen eingegangen ist“ (Röm 11,25), wird die Geschichte Israels wieder aufgenommen.
Ebenso war es mit Zippora und Israel. Für die Zeit seiner Sendung zu Israel hatte Mose sie zurückgesandt; nachdem das Volk aber gänzlich befreit worden war, lesen wir: „Und Jethro, der Priester von Midian der Schwiegervater Moses, hörte alles, was Gott an Mose und an Israel, seinem Volk, getan hatte … Und Jethro, der Schwiegervater Moses, nahm Zippora, die Frau Moses, nachdem er sie zurück gesandt hatte, und ihre zwei Söhne, von denen der Name des einen Gersom war, denn er sprach: Ein Fremder bin ich geworden in fremdem Land, und der Name des anderen Elieser: Denn der Gott meines Vaters ist meine Hilfe gewesen und hat mich errettet vom Schwert des Pharaos. Und Jethro, der Schwiegervater Moses, und seine Söhne und seine Frau kamen zu Mose in die Wüste, wo er lagerte am Berg Gottes. Und er ließ Mose sagen: Ich, dein Schwiegervater Jethro, bin zu dir gekommen, und deine Frau und ihre beiden Söhne mit ihr. Da ging Mose hinaus, seinem Schwiegervater entgegen, und beugte sich nieder und küsste ihn; und sie fragten einer den anderen nach ihrem Wohlergehen und gingen ins Zelt. Und Mose erzählte seinem Schwiegervater alles, was der HERR an dem Pharao und an den Ägyptern getan hatte um Israels willen, alle Mühsal, die sie auf dem Weg getroffen, und dass der HERR sie errettet habe. Und Jethro freute sich über all das Gute, das der HERR an Israel getan hatte, dass er es errettet hatte aus der Hand der Ägypter. Und Jethro sprach: Gepriesen sei der HERR, der euch errettet hat aus der Hand der Ägypter und aus der Hand des Pharaos, der das Volk errettet hat unter der Hand der Ägypter hinweg! Nun weiß ich, dass der HERR größer ist als alle Götter; denn in der Sache, worin sie in Übermut handelten, war er über ihnen. Und Jethro, der Schwiegervater Moses, nahm ein Brandopfer und Schlachtopfer für Gott; und Aaron und alle Ältesten Israels kamen, um mit dem Schwiegervater Moses zu essen vor dem Angesicht Gottes“ (V. 1–12).
Das ist eine sehr interessante Szene. Ganz Israel ist im Triumph vor dem HERRN versammelt; der Heide bringt ein Opfer dar, und um das Bild zu vervollständigen, erscheint die Frau des Befreiers samt den Kindern, die Gott ihm gegeben hat. Es ist bis in die Einzelheiten eine treffende Darstellung des zukünftigen Reiches. „Gnade und Herrlichkeit wird der HERR geben“ (Ps 84,12). Im Lauf unserer Betrachtung sind wir schon unzähligen Wirkungen der Gnade begegnet; hier aber gibt uns der Heilige Geist einen Einblick in die künftige Herrlichkeit, indem Er uns die verschiedenen Bereiche, in denen sie offenbart werden wird, bildlich vor Augen stellt.
„Juden, Griechen und die Versammlung Gottes“ sind drei in der Heiligen Schrift eindeutig unterschiedene Begriffe (vgl. 1. Kor 10,32), die man nicht miteinander verwechseln kann, ohne die vollkommene Ordnung der Wahrheit zu zerstören, die Gott in seinem heiligen Wort offenbart hat. Diese Unterschiede haben bestanden, seitdem das Geheimnis der Versammlung durch den Dienst des Apostels Paulus ans Licht gestellt worden ist; und auch während des Tausendjährigen Reiches werden sie fortbestehen. Jeder, der in geistlicher Weise die Schriften untersucht, wird ihnen daher auch gebührend Rechnung tragen.
Der Apostel belehrt uns in seinem Brief an die Epheser ausdrücklich, dass das Geheimnis der Versammlung den Söhnen der Menschen in anderen Geschlechtern nicht kundgetan worden sei, wie es jetzt ihm offenbart war (Eph 3; vgl. Kol 1,25–28). Obwohl es nicht unmittelbar offenbart war, fand dieses Geheimnis doch in der einen oder anderen Weise eine bildliche Darstellung, z. B. in dem Verhältnis zwischen Adam und Eva, in der Ehe Josephs mit einer Ägypterin und in der Verbindung Moses mit einer äthiopischen Frau. Das Bild oder der Schatten einer Wahrheit ist aber etwas ganz anderes als ihre unmittelbare und bestimmte Offenbarung. Das Geheimnis der Versammlung war verborgen, bis Christus es in himmlischer Herrlichkeit dem Saulus von Tarsus offenbarte. Wer also die vollständige Entfaltung dieses Geheimnisses in dem Gesetz, den Propheten oder den Psalmen sucht, ist auf einem falschen Weg; wenn er aber die Unterweisung des Epheserbriefes verstanden hat, wird er die bildlichen Ergänzungen im Alten Testament mit Interesse und Gewinn verfolgen.
Das Kapitel beginnt also mit einem Bild vom Tausendjährigen Reich. Die ganze Herrlichkeit ist vor unseren Blicken aufgetan. Wir sehen „den Juden“ vor uns als den großen irdischen Zeugen der Treue, der Gnade und der Macht des HERRN (siehe Jes 43,10–12.21). Er war dies in vergangenen Zeitaltern, er ist es jetzt und wird es in Ewigkeit sein. „Der Heide“ liest in dem Buch der Wege Gottes mit Israel; er verfolgt die wunderbare Geschichte dieses auserwählten und abgesonderten Volkes, dieses Volkes, „wunderbar seitdem es ist und weiterhin“ (Jes 18,2; vgl. 2. Mo 33,16; 5. Mo 4,6–8). Er sieht Throne und Reiche umgestürzt und Nationen bis in ihr Innerstes erschüttert; er sieht, wie alles der Herrschaft dieses Volkes Platz machen muss, das der HERR zum Gegenstand seiner Liebe auserwählt hat. „Nun weiß ich“, sagt Jethro, „dass der HERR größer ist als alle Götter; denn in der Sache, worin sie in Übermut handelten, war er über ihnen“ (V. 11). So lautet das Bekenntnis „des Heiden“, wenn die jüdische Geschichte vor ihm aufgerollt wird.
Die „Versammlung Gottes“ schließlich, die in ihrer Gesamtheit durch Zippora und in ihren Gliedern durch die Kinder Zipporas dargestellt wird, zeigt sich hier in enger Verbindung mit dem Befreier. Vielleicht wird man uns fragen, mit welchem Recht wir diese Szene so deuten. Wir antworten mit 1. Korinther 10,15: „Ich rede als zu Verständigen; beurteilt ihr, was ich sage.“ Man kann niemals eine Lehre auf eine bildliche Darstellung gründen; aber wenn die Lehre offenbart ist, kann man ihr Abbild deutlich erkennen und es mit Gewinn erforschen. In jedem Fall braucht man, sowohl um eine Lehre als auch um ein Abbild zu verstehen, geistliches Unterscheidungsvermögen. „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird“ (1. Kor 2,14).
Jethros Rat für Mose
Von Vers 13 bis zum Schluss des Kapitels finden wir die Ernennung der Häupter, die Mose in der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten unterstützen sollten. Diese Ernennung geschah auf den Rat Jethros, der fürchtete, dass Mose unter der Last seiner Arbeiten ermatten würde. Es ist vielleicht nützlich, in Verbindung hiermit einen Blick auf die siebzig Ältesten zu werfen, die in 4. Mose 11 erwähnt werden. Dort sehen wir nämlich, wie Mose unter der schweren Verantwortung, die auf ihm lastete, niedergedrückt war und in der Angst seines Herzens sagte: „Warum hast du an deinem Knecht übel getan, und warum habe ich nicht Gnade gefunden in deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? Bin ich mit diesem ganzen Volk schwanger gegangen, oder habe ich es geboren, dass du zu mir sprichst: Trag es in deinem Gewandbausch, wie der Wärter den Säugling trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? … Ich allein vermag nicht dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Und wenn du so mit mir tust, so bringe mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe“ (V. 11–15).
Mose wollte sich hier von einer ehrenvollen Aufgabe zurückziehen. Wenn es aber Gott wohlgefiel, ihn als einzigen Führer seiner Versammlung zu benutzen, geschah es dann nicht, um ihn dadurch auch besonders zu ehren und zu segnen? Zweifellos hatte Mose eine sehr große Verantwortung zu tragen, aber durch Glauben hätte er erkennen können, dass die Gnade und Weisheit Gottes auch dafür völlig ausreichte. Doch obwohl er ein so gesegneter Diener war, verlor er hier den Mut und sagte: „Ich allein vermag nicht dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer.“ Hatte Gott ihn denn aufgefordert, es allein zu tragen? War Er nicht mit ihm? Für Gott war diese Last nicht zu schwer. Er war es, der sie trug; Mose war nur das Werkzeug. Er hätte ebenso gut von seinem Stab sagen können, er trüge das Volk, denn was war Mose anders in der Hand Gottes als ein Werkzeug, ebenso wie der Stab in seiner eigenen Hand? Hier ist der Stein, über den die Diener Christi so oft straucheln; und dieses Straucheln ist umso gefährlicher, weil es einen Schein von Demut trägt. Ein Zurückschrecken vor einer großen Verantwortung kann so leicht als Misstrauen gegen sich selbst und als tiefe Demut gedeutet werden. Unsere einzige Aufgabe besteht jedoch darin, zu untersuchen, ob Gott uns diese Verantwortung auferlegt hat. Ist das der Fall, dann wird Er uns auch sicher zur Seite stehen, um sie uns tragen zu helfen; und mit ihm vermögen wir alles zu ertragen. Mit ihm können wir Berge versetzen, während wir ohne ihn schon von geringfügigen Dingen entmutigt werden. Wenn jemand in der Eitelkeit seines Herzens sich selbst in den Vordergrund stellt und eine Last auf sich nimmt, die Gott ihm nie auferlegt hat und wozu Er ihn deshalb auch nie befähigt hat, dann wird er sicher bald unter dieser Last zusammenbrechen; aber wenn Gott sie ihm auflegt, wird Er ihm auch gewiss die nötige Kraft und Fähigkeit schenken, um sie zu tragen.
Einen Platz zu verlassen, auf den Gott uns gestellt hat, ist nie ein Zeichen von Demut. Denn echte Demut zeigt sich darin, dass wir in einfältiger Abhängigkeit von Gott auf unserem Posten bleiben. Wir sind zweifellos mit uns selbst beschäftigt, wenn wir unter dem Vorwand unserer Unfähigkeit vor einem Dienst zurückweichen, den Gott uns aufgetragen hat. Nicht unsere, sondern Gottes Fähigkeit ist die Grundlage, auf der unsere Berufung erfolgt; und deshalb brauche ich nie einen Dienst oder ein Zeugnis für Gott wegen der damit verbundenen Verantwortung aufzugeben, es sei denn, dass ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt oder von Misstrauen gegen Gott erfüllt bin. Alle Macht gehört Gott; und es ist genau dasselbe, ob diese Macht durch eine oder durch siebzig Personen wirkt. Die Macht bleibt dieselbe; und wenn einer den ihm aufgetragenen Dienst verweigert, dann trägt nur er den Schaden. Gott zwingt niemanden, ein ehrenvolles Amt auszufüllen, wenn ihm das Vertrauen fehlt, dass Er ihn da erhalten könne. Der Weg steht ihm immer offen, seine hohe Stellung zu verlassen und einen Platz einzunehmen, den ihm sein Unglaube anweist.
So war es mit Mose. Er klagte über die Last, die er zu tragen hatte; und schnell wurde sie ihm abgenommen, aber mit ihr zugleich die Ehre, sie tragen zu dürfen. „Und der HERR sprach zu Mose: Versammle mir siebzig Männer aus den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie die Ältesten des Volkes und seine Vorsteher sind, und führe sie zum Zelt der Zusammenkunft, dass sie sich dort mit dir hinstellen. Und ich werde herabkommen und dort mit dir reden, und ich werde von dem Geist nehmen, der auf dir ist, und auf sie legen, dass sie mit dir an der Last des Volkes tragen und du sie nicht allein tragen musst“ (4. Mo 11,16.17). Keine neue Macht wurde eingeführt; es war derselbe Geist, ob in einem oder in siebzig Menschen. Siebzig Menschen hatten an und für sich nicht mehr Wert oder Verdienst als ein einzelner Mann. „Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). Dieser Schritt brachte Mose keinen Gewinn an Kraft, wohl aber großen Verlust an Würde.
In dem eben zitierten Kapitel zeigt Mose sogar einen Unglauben, der ihm einen ernsten Tadel von Gott eintrug: „Ist die Hand des HERRN zu kurz? Jetzt sollst du sehen, ob mein Wort dir eintrifft oder nicht“ (V. 23). Wenn man die Verse 11–15 mit 21–23 vergleicht, findet man eine bemerkenswerte und ernste Verbindung zwischen ihnen. Wer aufgrund seiner Schwachheit vor der Verantwortung zurückweicht, beginnt sehr leicht auch an der Hinlänglichkeit der Mittel und Wege Gottes zu zweifeln.
Dieser Abschnitt aus der Geschichte Moses enthält für einen Diener Christi, der sich in seinem Dienst allein oder überlastet fühlt, eine wichtige Unterweisung. Möge er sich erinnern, dass da, wo der Heilige Geist wirkt, ein einziges Werkzeug ebenso gut und wirksam ist wie siebzig; und dass da, wo Er nicht wirkt, siebzig keinen höheren Wert haben als ein einziges. Alles hängt von der Kraft und Wirksamkeit des Heiligen Geistes ab. Mit ihm kann ein einzelner Mensch alles tun, alles ertragen; ohne ihn allerdings vermögen auch siebzig Menschen nichts. Möge jeder allein stehende Diener zum Trost und zur Ermunterung seines ermüdeten Herzens sich daran erinnern, dass, wenn die Macht des Heiligen Geistes mit ihm ist, er keine Ursache hat, über seine Bürde zu klagen oder sich nach einer Verminderung seiner Arbeit zu sehnen. Möge jeder, den Gott dadurch ehrt, dass Er ihm viel zu tun gibt, sich darüber freuen und nicht darüber seufzen; denn wenn er unzufrieden ist, könnte er bald diese Ehre verlieren. Gott ist nicht in Verlegenheit um Werkzeuge. Er hätte dem Abraham aus Steinen Kinder erwecken können; und so kann Er auch aus Steinen die Arbeiter erwecken, die zur Erfüllung seines Werkes erforderlich sind.
Möchten wir doch ein Herz zum Dienen haben, ein geduldiges, demütiges, von sich selbst befreites Herz! Ein Herz, das zu dienen bereit ist, sei es in Gemeinschaft mit anderen oder allein, und das so von der Liebe zu Christus durchdrungen ist, dass es seine höchste Freude darin findet, ihm zu dienen, mag der Wirkungskreis und Charakter dieses Dienstes sein, wie er will! Das ist es, was in den Tagen, in denen wir leben, so dringend Not tut. Möchte der Heilige Geist in uns ein tieferes Gefühl von der Unübertrefflichkeit des Namens Jesu bewirken und uns fähig machen, seine unveränderliche Liebe kräftiger und ungetrübter zu erwidern!