Betrachtungen über das zweite Buch Mose

Mose spricht mit dem Pharao

Betrachtungen über das zweite Buch Mose

Der erste Besuch von Mose und Aaron beim Pharao

Die Wirkung der ersten an den Pharao gerichteten Aufforderung war nicht sehr ermutigend. Die Furcht, die Israeliten zu verlieren, verleitete den König zu größerer Strenge und zu doppelter Wachsamkeit. Jede Einschränkung der Macht Satans vermehrt seinen Grimm. Das sehen wir auch hier. Der Feuerofen steht im Begriff, durch den Befreier ausgelöscht zu werden; aber bevor dies geschieht, lodern die Flammen noch einmal gewaltig und mit zunehmender Heftigkeit empor. Der Teufel lässt nicht ohne Weiteres von jemandem ab, der einmal in seinen Händen ist. Er ist der „Starke“, der „bewaffnet seinen Hof bewacht, dessen Habe in Frieden ist“. Aber Gott sei gepriesen! Da ist ein „Stärkerer als er“, er nimmt „seine ganze Waffenrüstung weg, auf die er vertraute“, und seine Beute hat er unter die Gegenstände seiner ewigen Liebe verteilt (Lk 11,21.22).

„Und danach gingen Mose und Aaron hinein und sprachen zum Pharao: So spricht der HERR, der Gott Israels: Lass mein Volk ziehen, damit sie mir ein Fest halten in der Wüste!“ (Kap. 5,1). So lautete der Befehl Gottes an den Pharao. Er forderte für das Volk, für sein Volk, eine völlige Befreiung, damit es ihm in der Wüste ein Fest feiern sollte. Nur eine völlige Befreiung aus dem Joch der Knechtschaft kann das Herz Gottes hinsichtlich seiner Auserwählten zufriedenstellen. „Macht ihn los und lasst ihn gehen“ (Joh 11,44); diese Worte kennzeichnen in der Tat die Wege, die Gott mit seinen Kindern geht, denen Er seine ewige Liebe zuwendet, auch wenn sie noch in der Sklaverei Satans gehalten werden.

Der Sünder wird aus der Knechtschaft Satans befreit

Wenn wir die Kinder Israel bei den Ziegelhütten Ägyptens betrachten, so sehen wir den Zustand, in dem sich jeder Nachkomme Adams von Natur aus befindet. Da lagen sie, gebeugt unter das Joch des Feindes und ohne jede Macht, sich selbst zu befreien. Allein die Erwähnung des Wortes Freiheit veranlasste den Unterdrücker, seine Gefangenen noch stärker zu ketten und sie mit noch schwereren Bürden zu beladen. Eine Befreiung konnte nur von außen kommen. Aber woher sollte sie kommen? Wo waren die Mittel, um das Lösegeld zu bezahlen? Wo war die Macht, die ihre Ketten brechen konnte? Und wo war, wenn auch beides vorhanden gewesen wäre, der Wille, sie zu befreien? Wer war bereit, die Mühe ihrer Befreiung auf sich zu nehmen? Es gab für Israel keine Hoffnung, weder von innen noch von außen. Das Volk konnte einzig und allein nach oben schauen. In Gott war sein Zufluchtsort. In dem HERRN, und in ihm allein, gab es Rettung für das unterdrückte Volk.

Und so ist es immer. „Es ist in keinem anderen das Heil, denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel, der unter den Menschen gegeben ist, in dem wir errettet werden müssen“ (Apg 4,12). Der Sünder befindet sich unter dem Joch eines Gebieters, der ihn mit despotischer Gewalt beherrscht. Er ist „unter die Sünde verkauft“ (Röm 7,14), „gefangen vom Teufel für seinen Willen“ (2. Tim 2,26), geschmiedet in die Ketten der Lüste, der Begierden und Leidenschaften, „kraftlos“ (Röm 5,6), „keine Hoffnung habend“, „ohne Gott“ (Eph 2,12). Das ist der Zustand des Sünders. Wie könnte er sich nun selbst helfen? Was könnte er tun? Er ist der Sklave eines anderen; und alles, was er tut, ist Sklavenarbeit. Alle seine Gedanken, Worte und Werke sind die Gedanken, Worte und Werke eines Sklaven. Selbst wenn er über sein Elend weint und nach Befreiung seufzt, liefern seine Tränen doch nur den traurigen Beweis seiner Sklaverei. Und sollte er sogar kämpfen, um frei zu werden, so beweist gerade dieser Kampf, wie sehr er auch sein Verlangen nach Freiheit bekunden mag, dass er sich in Knechtschaft befindet.

Aber es handelt sich nicht nur um den Zustand des Sünders; seine Natur selbst ist von Grund auf verdorben und der Macht Satans unterworfen. Er benötigt daher nicht nur die Einführung in einen neuen Zustand, eine neue Stellung, sondern er muss auch eine neue Natur erhalten. Natur und Stellung gehören zusammen. Wenn es in der Macht des Sünders stünde, seine Stellung zu verbessern, was nützte es ihm, solange seine Natur unheilbar ist? Ein Edelmann kann wohl einen Bettler von der Straße holen und ihn an Kindes statt annehmen; er kann ihn mit den Reichtümern eines Edelmanns beschenken und ihn in die Stellung eines solchen einführen; aber nie wird er imstande sein, ihm eine diesem hohen Rang entsprechende Natur zu verleihen. Die Natur des Bettlers würde sich daher in der Stellung eines Edelmanns nicht zu Hause fühlen. Es muss eine Natur vorhanden sein, die der Stellung entspricht und andererseits eine Stellung, die den Fähigkeiten, Wünschen und Bestrebungen der Natur angemessen ist.

Nun aber belehrt uns das Evangelium der Gnade Gottes, dass der Gläubige in eine ganz neue Stellung eingeführt ist und nicht mehr wie vorher als schuldig und verdammungswürdig, sondern als vollkommen und für ewig gerechtfertigt betrachtet wird; ja die Stellung, in der Gott ihn jetzt sieht, schließt nicht nur eine völlige Vergebung ein, sondern ist so erhaben, dass selbst die unendliche Heiligkeit Gottes nicht den geringsten Flecken mehr entdecken kann. Der Gläubige ist dem früheren Zustand der Schuld völlig entrissen und ewig und bedingungslos in die neue Stellung einer fleckenlosen Gerechtigkeit versetzt worden. Das bedeutet nicht, dass sein alter Zustand veredelt worden wäre. Das war geradezu unmöglich, „denn das Krumme kann nicht gerade werden“ (Pred 1,15), und „kann ein Kuschit seine Haut wandeln, ein Leopard seine Flecken?“ (Jer 13,23). Nichts ist der Grundwahrheit des Evangeliums mehr entgegengesetzt als die Lehre von der allmählichen Veredlung des Zustandes, in dem sich der Sünder befindet. Er ist in einen bestimmten Zustand hineingeboren; und bevor er „von neuem geboren“ ist, kann er unmöglich einen anderen Zustand erlangen. Er mag versuchen, sich zu veredeln, er mag den Vorsatz fassen, in Zukunft besser zu werden, ja, er mag in jeder Beziehung seine Lebensweise ändern; aber trotz allem wird er um keine Haaresbreite aus dem wirklichen Zustand eines Sünders heraustreten können. Er mag „religiös“ werden und sich allen Vorschriften eines menschlichen Gottesdienstes unterwerfen; aber nichts wird seinen Zustand vor Gott verändern.

Genauso ist es mit der „Natur“ des Menschen. Wie kann ein Mensch seine Natur verändern? Er kann sie jeden Prozess durchmachen lassen; er kann versuchen, sie zu bezähmen und einer strengen Zucht zu unterwerfen; aber sie wird bleiben, was sie ist. „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch“ (Joh 3,6). Der Mensch braucht ebenso eine neue Natur wie eine neue Stellung. Wie aber ist die zu erlangen? Antwort: durch den Glauben an das Zeugnis, das Gott gezeugt hat über seinen Sohn. „So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1,12.13). Wir sehen hier, dass alle, die an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glauben, das Vorrecht besitzen, Kinder Gottes zu sein. Sie haben damit eine neue Natur bekommen; sie haben ewiges Leben empfangen. „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben“ (Joh 3,36). „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen“ (Joh 5,24). „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3). „Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht“ (1. Joh 5,11.12).

Das also ist die deutliche Lehre der Heiligen Schrift bezüglich der wichtigen Fragen über Stellung und Natur. Aber worauf gründet sich dies alles? In welcher Weise wird der Gläubige in eine Stellung göttlicher Gerechtigkeit eingeführt und der göttlichen Natur teilhaftig gemacht? Dieser große Wechsel beruht einzig und allein auf der Wahrheit, dass „Jesus gestorben und auferstanden ist“ (1. Thes 4,14). Unser Herr und Heiland kam aus dem Schoß der ewigen Liebe, von dem Thron der Herrlichkeit und aus den Wohnungen des Lichts; Er stieg in Gleichheit des Fleisches der Sünde herab in die Welt der Sünde und des Elends und starb, nachdem Er in allen Handlungen seines Lebens Gott vollkommen offenbart und verherrlicht hatte, am Kreuz unter dem Gewicht aller Übertretungen seines Volkes; und indem Er dies tat, begegnete Er in göttlicher Weise allem, was gegen uns war und gegen uns sein konnte. Er machte das Gesetz „groß und herrlich“ (Jes 42,21) und wurde dann zum Fluch gemacht, indem Er an ein Holz gehängt wurde. Jeder Forderung wurde Genüge getan; jeder Feind wurde zum Schweigen gebracht und jedes Hindernis aus dem Weg geräumt. „Güte und Wahrheit sind sich begegnet; Gerechtigkeit und Friede haben sich geküsst“ (Ps 85,11). Die unendliche Gerechtigkeit Gottes wurde befriedigt; und nun kann seine unendliche Liebe in ihrer heilenden und erfrischenden Kraft in das zerbrochene Herz des Sünders ausgegossen werden. Aus der durchstochenen Seite des Gekreuzigten kamen Blut und Wasser heraus, und wir erkennen darin die Versöhnung und die Reinigung, die allen Bedürfnissen eines von Sünde überführten Gewissens begegnet. Der Herr Jesus befand sich an unserer statt am Kreuz.

Er war unser Stellvertreter. „Christus hat einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten“ (1. Pet 3,18). Er wurde für uns „zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21). Er starb den Tod des Sünders, wurde begraben und nachdem alles vollbracht war, verließ Er die Stätte des Todes. Daher gibt es von nun an nichts mehr, was gegen den Gläubigen sein könnte. Er ist eins mit Christus und befindet sich in derselben Stellung der Gerechtigkeit wie Er; denn „wie er ist, sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17).

Das gibt dem Gewissen einen dauernden, gefestigten Frieden. Wenn ich mich nicht mehr in einem Zustand der Strafbarkeit, sondern vielmehr in einem Zustand der Rechtfertigung befinde, wenn Gott mich in Christus und wie Christus sieht, dann ist wirklich ein vollkommener Friede mein Teil. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1). Das Blut des Lammes hat die Strafbarkeit des Gläubigen aufgehoben, hat seine schwere Schuld ausgelöscht und in der Gegenwart der Heiligkeit, die das Böse nicht sehen kann (Hab 1,13), sein Konto vollkommen ausgeglichen.

Jedoch hat der Gläubige nicht nur Frieden mit Gott gefunden, er ist auch ein Kind Gottes geworden, so dass er durch die Kraft des Heiligen Geistes die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießen kann. Das Kreuz Christi muss von zwei Gesichtspunkten aus betrachtet werden: zunächst in seiner Entsprechung der Forderungen Gottes und dann als der Ausdruck der Liebe Gottes. Blicken wir auf unsere Sünden angesichts der Forderungen Gottes als Richter, so finden wir, dass das Kreuz diesen Forderungen völlig genügt hat. Gott ist am Kreuz als Richter völlig zufriedengestellt, ja verherrlicht worden. Aber das ist nicht alles. Gott fordert nicht nur, sondern Er liebt auch; und das Kreuz des Herrn Jesus offenbart dem Sünder diese Liebe in einer überzeugenden Weise, indem es ihn an der Natur Gottes teilhaben lässt und so ihn befähigt, diese Liebe überhaupt zu genießen und mit Gott Gemeinschaft zu haben. „Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe“ (1. Pet 3,18). Wir werden also nicht nur in eine neue Stellung versetzt, sondern auch zu einer Person geführt, zu Gott selbst, und bekommen eine Natur, die fähig ist, ihre Freude in ihm zu finden. „Wir rühmen uns auch Gottes durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (Röm 5,11).

Das Ziel der Befreiung Israels aus Ägypten

Welche Kraft und welche Schönheit liegt deshalb in den Befreiungsworten: „Lass mein Volk ziehen, dass sie mir ein Fest halten in der Wüste!“ (Kap. 5,1). „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkünden; er hat mich gesandt, Gefangenen Befreiung auszurufen und Blinden das Augenlicht, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen das angenehme Jahr des Herrn“ (Lk 4,18.19). Das Evangelium kündigt völlige Befreiung von jedem Joch der Knechtschaft an. Friede und Freiheit sind, wie Gott selbst erklärt, die Gaben, die das Evangelium allen gewährt, die es durch den Glauben aufnehmen.

Und beachten wir wohl die Worte: „... dass sie mir ein Fest halten in der Wüste.“ Sie beweisen, dass die Kinder Israel, wenn sie mit dem Pharao geendigt hatten, mit Gott beginnen sollten. Welch eine Veränderung! Anstatt sich unter den Fronvögten des Pharaos abzumühen, sollten sie dem HERRN ein Fest feiern; und hatten sie auch von Ägypten aus eine Wüste zu durchwandern, so durften sie sich doch dort der Gegenwart Gottes erfreuen, und – der Weg führte nach Kanaan. Die göttliche Absicht war, dass sie dem HERRN ein Fest in der Wüste halten sollten; und um das zu können, war es nötig, Ägypten zu verlassen.

Die Gedanken des Pharaos

Der Pharao war jedoch durchaus nicht gewillt, dem göttlichen Befehl Gehorsam zu leisten. „Wer ist der HERR", fragt er, „auf dessen Stimme ich hören soll, um Israel ziehen zu lassen?“ (Kap. 5,2). Diese Worte sind der Ausdruck seines moralischen Zustandes. Er zeigt Unkenntnis und Ungehorsam, und diese beiden Dinge gehen gewöhnlich zusammen. Wenn man Gott nicht kennt, so kann man ihm nicht gehorchen, denn Gehorsam gründet sich auf Erkenntnis. Eine Seele, die Gott kennt, macht die Erfahrung, dass diese Erkenntnis das ewige Leben ist (Joh 17,3). Leben aber ist Kraft; und wenn ich Kraft empfange, so kann ich handeln. Es ist einleuchtend, dass ein Mensch, der kein Leben hat, auch nicht tätig sein kann. Es ist daher unsinnig, einen Menschen aufzufordern, er solle sich eine Fähigkeit erarbeiten, die selbst erst Voraussetzung für jede Aktivität ist. Wie könnte ein kraftloser Mensch Kraft beweisen?

Aber der Pharao war über sich selbst ebenso unwissend wie über Gott. Er wusste nicht, dass er ein unbedeutender Erdenwurm und ausdrücklich zu dem Zweck erweckt war, die Herrlichkeit dessen bekannt zu machen, von dem er sagte, dass er ihn nicht kenne (2. Mo 9,16; Röm 9,17). „Und sie sprachen: Der Gott der Hebräer ist uns begegnet. Lass uns doch drei Tagereisen weit in die Wüste ziehen und dem HERRN, unserem Gott, opfern, damit er uns nicht schlage mit der Pest oder mit dem Schwert. Und der König von Ägypten sprach zu ihnen: Warum, Mose und Aaron, wollt ihr das Volk von seinen Arbeiten abhalten? Geht an eure Lastarbeiten! … Schwer laste der Dienst auf den Männern, dass sie damit zu schaffen haben und nicht auf Worte des Truges achten“ (Kap. 5,3–9).

Hier zeigen sich die geheimen Motive des menschlichen Herzens und die Unfähigkeit, die Dinge Gottes zu verstehen. Alle göttlichen Rechte und Offenbarungen waren nach dem Urteil des Pharaos nichts als „Worte des Truges“. Was wusste er von den „drei Tagereisen in die Wüste“? Was kümmerte ihn ein „Fest des HERRN"? Wie hätte er die Notwendigkeit einer solchen Reise oder den Sinn eines solchen Festes begreifen können? Unmöglich! Er konnte das Lasttragen und das Ziegelbrennen verstehen, denn diese Dinge gehörten nach seinem Urteil der Wirklichkeit an. Wenn es sich aber um Gott handelte, um seinen Dienst oder seine Anbetung, so betrachtete er alles nur als ein Hirngespinst, hervorgerufen durch jene, die nur eine Ausflucht suchten, um den Beschwerden des Lebens entrinnen zu können.

Nur zu oft hat sich dieselbe Erscheinung bei den Weisen und Großen dieser Welt gezeigt. Sie sind schnell bereit, die göttlichen Zeugnisse als Torheit und Täuschung abzutun. Denken wir z. B. an die Meinung, die sich der „vortreffliche Festus“ über die zwischen Paulus und den Juden schwebende Streitfrage gebildet hatte. Er sagte zu dem König Agrippa: „Sie hatten aber einige Streitfragen gegen ihn wegen ihrer eigenen Religion und wegen eines gewissen Jesus, der gestorben ist, von dem Paulus sagte, er lebe“ (Apg 25,19). Wie wenig wusste er, was er sagte! Wie wenig verstand er die Wichtigkeit der Frage, ob Jesus tot sei oder lebe. Er dachte nicht an ihre unermessliche Tragweite für ihn selbst und seine Freunde Agrippa und Bernice. Jedoch änderte dies nichts an der Sache selbst. Sowohl er als sie wissen jetzt mehr darüber, obwohl sie es in den Tagen ihrer irdischen Herrlichkeit nur als eine alberne Streitfrage betrachteten, die nicht die Beachtung verständiger Menschen verdiente und ausschließlich geeignet war, das gestörte Gehirn von Schwärmern zu beschäftigen. Die große, das Schicksal jedes Menschen entscheidende Frage, auf der der gegenwärtige und ewige Zustand der Versammlung und der Welt beruht und an die sich alle Ratschlüsse Gottes knüpfen, war nach dem Urteil des Festus nur eitler Aberglaube.

Dasselbe finden wir bei dem Pharao. Er wusste nichts von dem „Gott der Hebräer“, von dem großen „Ich bin“, und daher beurteilte er alles, was Mose und Aaron ihm von einem Gott darzubringenden Opfer gesagt hatten, als „Worte des Truges“. Die Dinge Gottes müssen dem unheiligen Geist des Menschen immer nutzlos und töricht erscheinen. Der Name Gottes mag in der Ausdrucksweise einer kalten Formreligion seinen Platz finden; aber Gott selbst wird nicht gekannt. Sein kostbarer Name, in dem der Gläubige jeden Wunsch und jedes Bedürfnis seines Herzens eingeschlossen findet, hat für den Ungläubigen weder Bedeutung noch Kraft noch Wert; und darum wird alles, was mit Gott in Verbindung steht, seine Worte, seine Ratschlüsse, seine Gedanken und seine Wege als „Worte des Truges“ betrachtet.

Aber es wird nicht mehr lange so sein. Der Richterstuhl Christi, der Schrecken der zukünftigen Welt, die Wogen des Feuersees – sie alle werden nicht Worte des Truges sein. Nein, gewiss nicht; und alle, die durch die Gnade heute schon glauben, dass diese Dinge Wirklichkeiten sind, sollten sie auf die Gewissen derer legen, die wie der Pharao das „Ziegelstreichen“ als die einzig beachtenswerte Sache, als das einzig Wesentliche betrachten.

Leider leben selbst Christen so oft im Bereich der sichtbaren Dinge, im Bereich der Erde und der Natur, dass sie das bleibende und mächtige Bewusstsein von der Wirklichkeit der göttlichen und himmlischen Dinge verlieren. Was wir brauchen, ist ein ununterbrochenes Leben im Bereich des Glaubens, des Himmels und der „neuen Schöpfung“. Dann werden wir die Dinge sehen, wie Gott sie sieht, sie beurteilen, wie Er sie beurteilt, und unser ganzes Leben und Verhalten wird erhabener, gelassener und von der Erde und den irdischen Dingen vollständiger getrennt sein.

Mose wird von seinen Brüdern missverstanden

Die schmerzlichste Prüfung für Mose entstand jedoch nicht aus dem Urteil, das der Pharao über seine Sendung fällte. Der treue Diener, dessen Herz ungeteilt für Christus ist, muss damit rechnen, von den Menschen dieser Welt ein Schwärmer genannt zu werden. Denn sie betrachten ihn von einem Gesichtspunkt aus, der kein anderes Urteil von ihnen erwarten lässt. Je treuer er seinem himmlischen Meister dient, umso mehr wird er seinen Fußspuren folgen und seinem Bild gleichförmig sein und umso mehr wird er erwarten müssen, von den Söhnen der Erde für „unsinnig“ gehalten zu werden. Das Urteil der Welt sollte ihn daher weder enttäuschen noch entmutigen. Eine weit schmerzlichere Sache aber ist es, wenn sein Dienst und Zeugnis von denen übel gedeutet, missverstanden, ja zurückgewiesen wird, an die er sich gerade wendet. In diesem Fall ist er darauf angewiesen, viel in der Nähe Gottes, in der Verborgenheit seiner Gedanken und in der Macht seiner Gemeinschaft zu sein, um in den Schwierigkeiten seines Dienstes aufrechterhalten zu bleiben. Wenn ein Diener in solchen Umständen nicht recht überzeugt ist, von oben beauftragt zu sein, und er sich nicht der Gegenwart Gottes bewusst ist, so ist ein Unterliegen die unausbleibliche Folge.

Wäre Mose nicht in dieser Weise aufrechterhalten worden, so wäre ihm der Mut völlig gesunken, als der zunehmende Druck der Macht des Pharaos die Vorsteher der Kinder Israels zu den entmutigenden Worten bewog: „Der HERR sehe auf euch und richte euch, dass ihr unseren Geruch stinkend gemacht habt vor dem Pharao und vor seinen Knechten, so dass ihr ihnen das Schwert in die Hand gegeben habt, uns zu töten“ (Kap. 5,21). Diese Worte klangen trübe genug, und sie trafen das Herz Moses so sehr, dass er sich zum Herrn wandte und sagte: „Herr, warum hast du so übel an diesem Volk gehandelt? Warum doch hast du mich gesandt? Denn seitdem ich zum Pharao hineingegangen bin, um in deinem Namen zu reden, hat er an diesem Volk böse gehandelt, und du hast dein Volk durchaus nicht errettet“ (Kap. 5,22.23). Doch wie die dunkelste Stunde der Nacht oft der Morgendämmerung unmittelbar vorausgeht, so war auch hier, gerade in dem Augenblick, als die Befreiung so nahe schien, die Lage am aussichtslosesten. Genauso wird es in der Geschichte Israels in den letzten Tagen sein. Die Stunde der tiefsten Finsternis und der schrecklichsten Angst wird dem Aufgang der „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20) vorausgehen, die „mit Heilung in ihren Flügeln“ hinter den Wolken hervorstrahlen wird, um den „Schaden der Töchter des Volkes Gottes zu heilen“ (Jer 6,14).

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