Betrachtungen über das erste Buch Mose
Jakob in Ägypten
Die letzten Kapitel (46–50) unseres Buches handeln von dem Zug Jakobs und seiner Familie nach Ägypten und von ihrer Ansiedlung dort, ferner von den Handlungen Josephs während der übrigen Jahre der Hungersnot sowie von der Segnung der zwölf Patriarchen durch Jakob und von seinem Tod und Begräbnis. Wir werden bei den Einzelheiten dieser Ereignisse nicht länger stehen bleiben, obwohl sie dem geistlich gesinnten Menschen ein weiteres Gebiet für gesegnete Betrachtungen bieten.
Das Ende Jakobs
Das Ende von Jakobs Lebensweg bildet einen erfreulichen Gegensatz zu allen früheren Szenen seiner ereignisreichen Geschichte. Es erinnert an einen heiteren Abend nach einem stürmischen Tag: Die Sonne, die während des Tages hinter Wolken und Nebel verborgen war, geht in majestätischem Glanz unter, wobei sie mit ihren Strahlen den Himmel vergoldet und einen schönen Morgen verheißt. So ist es mit Jakob. Das Überlisten und Feilschen, das Überlegen und Planen, die ungläubigen, selbstsüchtigen Befürchtungen und Sorgen, alle diese finsteren Wolken der Natur scheinen verschwunden zu sein, und Jakob tritt in der ganzen Hoheit des Glaubens auf, um Segen auszuteilen und Würden zu verleihen, gemäß der heiligen Erkenntnis, die man nur in der Gemeinschaft mit Gott erlangt.
Wenn auch die Augen schwach geworden sind, der Blick des Glaubens ist scharf. Jakob lässt sich nicht täuschen bezüglich der Stellungen, die für Ephraim und Manasse in den Ratschlüssen Gottes bestimmt waren. Er braucht nicht, wie sein Vater Isaak in Kapitel 27, „über die Maßen“ zu erschrecken über einen beinahe verhängnisvollen Irrtum. Im Gegenteil. Seine einsichtsvolle Antwort an seinen weniger kundigen Sohn lautet: „Ich weiß es, mein Sohn, ich weiß es“ (Kap. 48,19). Die Macht der Vernunft und der natürlichen Gefühle hat nicht, wie bei Isaak sein geistliches Auge verdunkelt. Er hat in der Schule der Erfahrung gelernt, sich fest an den Vorsatz Gottes zu klammern, und kein Einfluss der Natur kann ihn davon abbringen.
Kapitel 48,11 gibt uns ein sehr schönes Beispiel von der Art und Weise wie Gott sich über alle unsere Gedanken erhebt und sich über alle unsere Befürchtungen erhaben erweist. „Und Israel sprach zu Joseph: Ich hatte nicht gedacht, dein Angesicht wieder zu sehen, und siehe Gott hat mich sogar deine Nachkommen sehen lassen!“ Nach Ansicht der Natur war Joseph tot, aber Gott sah ihn lebendig und den höchsten Platz der Autorität nach dem Thron einnehmen. „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz aufgekommen ist“, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben (1. Kor 2,9). Möchten unsere Seelen tiefer in das Verständnis Gottes und seiner Wege eindringen!
Jakob und der Pharao
Es ist interessant, wie die Titel „Jakob“ und „Israel“ am Ende des ersten Buches Mose gebraucht werden. Wir lesen z. B. im 48. Kapitel: „Und man berichtete Jakob und sprach: Siehe, dein Sohn Joseph kommt zu dir. Und Israel machte sich stark und setzte sich auf im Bett“. Und in unmittelbarer Verbindung damit heißt es: „Und Jakob sprach zu Joseph: Gott, der Allmächtige, erschien mir zu Lus im Land Kanaan“ (V. 2.3). Nun wissen wir, dass nichts in der Schrift bedeutungslos ist, und dass deshalb dieser Wechsel der Namen eine Belehrung für uns enthalten muss. Im Allgemeinen drückt der Name „Jakob“ die Tiefe aus, bis zu der Gott herabgestiegen ist, und „Israel“ die Höhe, zu der Jakob erhoben wurde.
Wir sehen die grundlosen Befürchtungen Jakobs beim Anblick seines lebenden und hoch erhobenen Sohnes zerstreut. Wir sehen, wie die Gnade Gottes in großer Macht herrscht und alles lenkt, obwohl sie unverkennbar auch mit Gericht verbunden ist, weil die Söhne Jakobs gerade an den Ort ziehen müssen, wohin sie ihren Bruder gesandt hatten. Wir sehen außerdem, wie die Gnade das ganze Leben lang in Joseph wirkt: obgleich er durch den Pharao erhöht ist, tritt er doch selbst zurück und verbindet das Volk durch eine bleibende Verpflichtung mit dem König. Der Pharao sagt: „Geht zu Joseph!“ während Joseph ihnen durch sein Tun zu verstehen gibt: „Alles, was ihr habt und seid, gehört dem Pharao“ (41,55–57). Alle diese Dinge sind sehr interessant und zeigen der Seele die herrliche Zeit, wenn der Sohn des Menschen nach Gottes Beschluss die Zügel der Regierung in seine Hand nehmen und über die ganze versöhnte Schöpfung regieren wird, wobei die Versammlung, die Braut des Lammes, nach den ewigen Ratschlüssen Gottes den Platz der engsten Gemeinschaft an seiner Seite einnimmt. Das völlig wiederhergestellte Haus Israel wird dann durch seine gnädige Hand genährt und aufrechterhalten werden, und die ganze Erde wird das Glück kennen, sich unter seinem Zepter zu befinden. Und schließlich, wenn Er sich alle Dinge unterworfen hat, wird Er die Regierung wieder den Händen Gottes übergeben, damit „Gott alles in allem sei“ (1. Kor 15,28).
Hieraus können wir uns eine Vorstellung von der reichen Fülle machen, die die Geschichte Josephs in bildlicher Form enthält. Gott zeigt uns darin, um es noch einmal kurz zusammenzufassen, die Sendung des Sohnes an das Haus Israel, seine Erniedrigung und Verwerfung, die tiefen Seelenübungen und schließlich die Buße und Wiederherstellung des Volkes Israel, dann die Vereinigung der Versammlung mit Christus, seine Erhöhung und seine allgemeine Regierung. Und zuletzt lenkt Er unsere Blicke vorwärts auf die gesegnete Zeit, wenn Er selbst „alles in allem sein wird“.
Es ist fast überflüssig zu bemerken, dass alle diese Dinge in der ganzen Heiligen Schrift ausführlich gelehrt und offenbart werden. Wir gründen deshalb ihre Wahrheit nicht auf die Geschichte Josephs. Aber doch bringt es viel Freude, schon in alten Zeiten diese kostbaren Wahrheiten dargestellt zu finden. Es beweist uns die göttliche Einheit der Heiligen Schrift. Ob wir uns mit dem ersten Buch Mose oder mit dem Brief an die Epheser, mit den Propheten des Alten oder denen des Neuen Testaments beschäftigen, überall finden wir dieselben Wahrheiten. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt“ (2. Tim 3,16.17).