Betrachtungen über das erste Buch Mose
Probleme in Sichem
In Kapitel 35 werden wir sehen, dass Jakob zu einer herrlicheren Vorstellung von Gott gebracht wird, aber in Sichem befindet er sich offenbar auf einem niedrigen Niveau, und dafür muss er leiden, wie es immer sein wird, wenn wir die Stellung nicht einnehmen, die Gott uns zugewiesen hat. Die zweieinhalb Stämme, die sich diesseits des Jordan niederließen, fielen als Erste dem Feind in die Hand. So war es auch bei Jakob. Wir sehen in Kapitel 34 die bitteren Früchte seines Aufenthalts in Sichem. Auf seine Familie wird ein Schandfleck gebracht, den Simeon und Levi durch die Gewalttat der Natur auswischen wollen, wodurch sie aber nur das Herzeleid und die Unruhe Jakobs vermehren. Jakob wird sogar durch ihre Gewalttat stärker berührt, als durch die seiner Tochter zugefügte Schmach. „Da sprach Jakob zu Simeon und zu Levi: Ihr habt mich in Trübsal gebracht, indem ihr mich stinkend macht unter den Bewohnern des Landes, unter den Kanaanitern und unter den Perisitern. Ich aber bin ein zählbares Häuflein, und sie werden sich gegen mich versammeln und mich schlagen, und ich werde vertilgt werden, ich und mein Haus“ (Kap. 34,30). Das was Jakob am meisten erschütterte, waren die Folgen für ihn und sein Haus. Er scheint in ständiger Furcht vor drohenden Gefahren gelebt zu haben. Überall offenbart er einen unruhigen und berechnenden Geist, der unvereinbar ist mit einem Leben des Glaubens an Gott.
Damit soll nicht gesagt werden, dass Jakob überhaupt kein Mann des Glaubens gewesen ist. Das war er sicher und er hat als solcher auch seinen Platz inmitten der „großen Wolke von Zeugen“ gefunden (Heb 11). Aber er lebte diesen göttlichen Grundsatz nicht aus und machte deshalb so viele traurige Fehler. Hätte ihn wohl der Glaube sagen lassen: „Und ich werde vertilgt werden, ich und mein Haus“? – sicher nicht. Gottes Verheißung in Kapitel 28,14.15 sollte jede Furcht aus seinem Herzen verbannt haben. „Ich bin mit dir … ich werde dich nicht verlassen“, das waren Worte, die sein Herz hätten beruhigen sollen. Aber Jakob war mehr mit der Gefahr beschäftigt, die ihn inmitten der Bewohner des Landes umgab, als mit seiner Sicherheit in der Hand Gottes. Er hätte wissen sollen, dass nicht ein Haar seines Hauptes angetastet werden konnte, und anstatt daher auf Simeon und Levi oder auf die Folgen ihrer übereilten Handlung zu blicken, hätte er sich selber verurteilen sollen, weil er sich überhaupt in dieser Stellung befand. Hätte er sich nicht in Sichem wohnlich eingerichtet, so wäre Dina nicht entehrt worden und die Gewalttat seiner Söhne nicht zum Ausbruch gekommen. Wie viele Christen stürzen sich durch ihre eigene Untreue in Kummer und Herzeleid und klagen dann die Umstände an, anstatt sich selber zu verurteilen!
Wie oft sehen wir z. B. christliche Eltern in Unruhe und großer Sorge über die Auflehnung und Weltlichkeit ihrer Kinder, und doch haben sie eigentlich nur sich selbst wegen dieser Erscheinungen anzuklagen, weil sie in ihrer Familie nicht treu mit Gott ihren Weg gegangen sind. So war es bei Jakob. Er stand in Sichem auf einem niedrigen Niveau, und da ihm jenes zarte Gefühl fehlte, das ihn bestimmt zur Entdeckung seiner falschen Stellung gebracht hätte, gebrauchte Gott in seiner Treue die Umstände, um ihn zu züchtigen. „Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten! denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7). Das ist ein ernster Grundsatz, der sich in den Regierungswegen Gottes immer wieder findet, und dessen Anwendung niemand entgehen kann. Für die Kinder Gottes ist es sogar Gnade, dass sie gezwungen sind, die Früchte ihrer Irrtümer zu ernten. Es ist Gnade, auf die eine oder andere Weise lernen zu müssen, wie traurig es ist, sich von dem lebendigen Gott zu entfernen oder den uns von ihm zugewiesenen Platz nicht einzunehmen. Wir müssen erfahren, dass auf der Erde der Ort unserer Ruhe nicht ist. Der Wunsch Gottes ist, dass wir in und bei ihm ruhen. Das ist Gnade. Und wenn wir abirren oder auf dem Weg zurückbleiben, ruft Er uns zu: „Wenn du umkehrst,… zu mir umkehrst usw.“ (Jer 4,1). Falsche Demut, die Frucht des Unglaubens, leitet oft den Abgeirrten oder Zurückgebliebenen dahin, eine geringere Stellung einzunehmen als die, die Gott ihm gibt, weil er nicht den Grundsatz kennt, auf dem Gott eine Seele wiederherstellt und auch nicht das Maß dieser Wiederherstellung. Der verlorene Sohn wollte ein Tagelöhner werden, weil er nicht wusste, dass er auf diesen Platz genauso wenig Anspruch hatte wie auf den eines Sohnes, und dass es andererseits dem Charakter des Vaters nicht entsprochen hätte, ihn in eine solche Stellung zu bringen.