Betrachtungen über das erste Buch Mose
Jakobs Rückkehr nach Kanaan
Jakobs Maßnahmen zur Versöhnung
„Und Jakob zog seines Weges, und es begegneten ihm Engel Gottes“ (V. 2). Trotz allem ist die Gnade Gottes mit ihm. Gott liebt mit einer unwandelbaren Liebe. Wen Er liebt, den liebt Er bis ans Ende. Seine Liebe entspricht seinem Wesen, sie ist „gestern und heute und in Ewigkeit“ dieselbe (Heb 13,8). Aber wie klein war die Wirkung, die das „Heerlager Gottes“ (V. 3) auf Jakob ausübte! „Und Jakob sandte Boten vor sich her zu seinem Bruder Esau, in das Land Seir, das Gebiet von Edom“ (V. 4). Er fühlte sich offensichtlich unbehaglich bei dem Gedanken an ein Zusammentreffen mit seinem Bruder, und das nicht ohne Grund. Er hatte sehr böse mit seinem Bruder gehandelt, und sein Gewissen war unruhig. Aber anstatt sich rückhaltlos in die Arme Gottes zu werfen, greift er von neuem zu seinen gewöhnlichen Mitteln, um den Zorn Esaus abzuwenden. Er macht Pläne. Er versucht Esau zu beschwichtigen, anstatt sich auf Gott zu stützen und seinen Beistand zu erbitten.
„Und er gebot ihnen und sprach: So sollt ihr zu meinem Herrn, zu Esau, sprechen: So spricht dein Knecht Jakob: Bei Laban habe ich mich aufgehalten und bin geblieben bis jetzt“ (V. 5). Diese Worte offenbaren eine Seele, die weit davon entfernt ist, Gott als ihren Mittelpunkt zu haben. „Mein Herr“ und „dein Knecht“, das sind nicht die Worte eines Bruders zu seinem Bruder, noch die Worte eines Mannes, der die Würde besitzt, die die Gegenwart Gottes verleiht. Es ist die Sprache Jakobs, der von seinem Gewissen gequält wird.
„Und die Boten kehrten zu Jakob zurück und sprachen: Wir sind zu deinem Bruder, zu Esau, gekommen, und er zieht dir auch entgegen und vierhundert Mann mit ihm. Da fürchtete sich Jakob sehr, und ihm wurde angst“ (V. 7.8). Was wird er jetzt tun? Wird er sich in die Arme Gottes werfen? Nein, er beginnt Maßnahmen zu treffen. „Und er teilte das Volk, das bei ihm war, und das Kleinvieh und die Rinder und die Kamele in zwei Züge. Und er sprach: Wenn Esau gegen den einen Zug kommt und ihn schlägt, so wird der übrig gebliebene Zug entrinnen können“ (V. 8.9). Der erste Gedanke Jakobs war immer ein Plan, und darin finden wir ein genaues Bild von dem Herzen des Menschen. Zwar wendet er sich an den Herrn, nachdem er seinen Plan gemacht hat, und fleht zu ihm, dass Er ihn von der Hand Esaus retten möge; doch kaum ist sein Gebet beendet, kehrt er auch schon wieder zu seinen Anordnungen zurück. Man kann nicht beten und gleichzeitig Pläne machen. Wenn ich einen Plan mache, so stütze ich mich mehr oder weniger darauf. Wenn ich aber bete, so sollte ich mich ausschließlich auf Gott stützen. Diese beiden Dinge sind daher völlig unvereinbar. Wenn ich auf meine eigene Tätigkeit blicke, bin ich nicht darauf vorbereitet, Gott für mich handeln zu sehen, und dann ist das Gebet nicht die Äußerung meines Anliegens, sondern nur eine Verrichtung, die ich tun zu müssen glaube, oder aber ich richte an Gott die Bitte, meine selbst gemachten Pläne zu billigen. Aber Gott will nicht, dass ich ihn bitte, meine Pläne und meine Mittel gutzuheißen und zu segnen, sondern Er will, dass ich mich seinen Händen ganz anvertraue, damit Er für mich alles tut. Wenn der Glaube Gott handeln lässt, wird Gott ohne Zweifel seine eigenen Mittel anwenden, aber das ist etwas ganz anderes als sein Anerkennen und Segnen der Pläne und Anordnungen des Unglaubens und der Ungeduld.
Obwohl Jakob zu Gott gebetet hatte, dass Er ihn von der Hand seines Bruders befreien möge, konnte ihn das doch offenbar nicht beruhigen, denn er versuchte, Esau durch „ein Geschenk“ zu versöhnen (V. 14). Er setzte sein Vertrauen auf das „Geschenk“ und nicht auf Gott allein. „Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verdorben ist es“ (Jer 17,9). Oft ist es schwer, den eigentlichen Grund unseres Vertrauens ausfindig zu machen. Wir bilden uns ein, oder möchten uns selbst gern einreden, dass Gott unsere Stütze ist, während wir in Wirklichkeit unser Vertrauen auf irgendeine von uns selbst erfundene Methode setzen. Hätte sich wohl jemand vorstellen können, dass Jakob kurz nach seinem Gebet „Rette mich doch aus der Hand meines Bruders, aus der Hand Esaus! Denn ich fürchte ihn, dass er kommen und mich schlagen könne, die Mutter samt den Kindern“ (V. 12), sagen konnte: „Ich will ihn versöhnen durch das Geschenk?“ (V. 21). Hatte Jakob sein Gebet ganz vergessen? Machte er aus seinem Geschenk einen Gott? Setzte er mehr Vertrauen auf einige Stück Vieh als auf Gott, dessen Händen er sich soeben noch anvertraut hatte?
Diese Fragen erheben sich, wenn wir betrachten, wie Jakob sich in dieser Situation verhielt, aber wir brauchen nur in unsere eigenen Herzen zu blicken, um die Antwort zu erhalten. In diesem Spiegel erkennen wir wie aus der Geschichte Jakobs, dass wir uns viel leichter auf unsere eigene Weisheit verlassen als auf Gott. Aber wir müssen früher oder später zu der Erkenntnis kommen, dass alle unsere Eigenleistungen ganz und gar Torheit sind, und dass der wahre Weg der Weisheit darin besteht, unser volles Vertrauen auf Gott zu setzen. Leider sind wir oft sehr zufrieden mit uns selbst, wenn wir alle erlaubten Mittel angewendet und den Segen Gottes auf sie herabgefleht haben. Aber wenn das der Fall ist, so gelten unsere Gebete nicht viel mehr als unsere Pläne, weil wir uns mehr auf sie als auf Gott stützen. Wir müssen wirklich mit allem, was aus dem eigenen Ich hervorkommt, am Ende sein, ehe Gott sich offenbaren kann, und wir werden nie unser eigenes Planen ablegen, so lange wir nicht mit uns selbst ein Ende gemacht haben. Wir müssen verstehen lernen, dass „alles Fleisch Gras ist, und alle seine Anmut wie die Blume des Feldes“ (Jes 40,6).
Jakob in Pniel – sein Kampf mit Gott
Nachdem Jakob alle seine klugen Maßnahmen getroffen hatte, lesen wir: „Und Jakob blieb allein übrig; und es rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte aufging“ (V. 25). Hier ist ein Wendepunkt in der Geschichte dieses merkwürdigen Mannes. Allein gelassen zu sein mit Gott, das ist der einzige Weg, uns selbst und unsere Wege zu erkennen. Um den wahren Wert der Natur und ihrer Handlungen zu sehen, müssen wir sie auf die Waage des Heiligtums legen. Es hängt wenig davon ab, was wir oder andere Menschen von uns halten. Die wichtige Frage ist, was Gott von uns denkt, und um das zu erfahren, müssen wir mit Gott „allein gelassen“ sein, fern von der Welt, fern vom Ich, fern von allen Gedanken, Urteilen, Einbildungen und Überlegungen der Natur, „allein“ mit Gott.
„Und Jakob blieb allein übrig; und es rang ein Mann mit ihm“. Beachten wir, dass es nicht heißt: Jakob rang mit einem Mann, sondern: ein Mann rang mit Jakob. Man hat dieses Ereignis oft dargestellt als ein Beispiel der Kraft, mit der Jakob betete. Dass dies verkehrt ist, beweist der Wortlaut der Stelle. Es ist ein Unterschied, ob ich mit jemand ringe oder ob jemand mit mir ringt. Wenn ich mit einem anderen ringe, will ich etwas von ihm, im umgekehrten Fall der andere von mir. In diesem Fall rang Gott mit Jakob, um ihn fühlen zu lassen, was für ein armer und schwacher Mensch er war, und als Jakob sich der Erreichung dieses Ziels hartnäckig widersetzte, „rührte er sein Hüftgelenk an; und das Hüftgelenk Jakobs wurde verrenkt, als er mit ihm rang“ (V. 26). Vom Urteil des Todes muss das Fleisch gekennzeichnet sein, die Tragweite des Kreuzes Christi muss verstanden werden, ehe wir beständig und glücklich mit Gott leben können. Wir haben bisher die verschiedenen Züge des außergewöhnlichen Charakters Jakobs kennengelernt, wir haben ihn planen und handeln sehen, während seines zwanzigjährigen Aufenthalts bei Laban, aber erst als er „allein gelassen“ ist, bekommt er eine richtige Vorstellung davon, wie schwach und ohnmächtig er in sich selbst ist. Dann aber, nachdem der Sitz seiner Kraft getroffen ist, kann er sagen: „Ich lasse dich nicht los“ (V. 27).
Damit beginnt ein ganz neuer Abschnitt in der Geschichte Jakobs. Bisher hatte er an seinen eigenen Methoden festgehalten. Jetzt aber wird er dahin gebracht zu sagen: „Ich lasse dich nicht los!“ Der Leser muss jedoch beachten, dass er erst dann diese Worte sagte, als „sein Hüftgelenk verrenkt war“. Diese Tatsache gibt uns den Schlüssel zur Erklärung der ganzen Begebenheit. Gott rang mit Jakob, um ihn an diesen Punkt zu bringen. Wenn es sich um Jakobs Kraft im Gebet handelt, so haben wir bereits gesehen, dass er schon gleich nach seiner Bitte das Geheimnis seines Vertrauens mit den Worten offenbarte: „Ich will Esau versöhnen mit einem Geschenk“. Hätte er so reden können, wenn er die wirkliche Bedeutung des Gebets oder die wahre Abhängigkeit von Gott verstanden hätte? Gott und das Geschöpf müssen getrennt bleiben, und dies wird bei jeder Seele der Fall sein, die die heilige Wirklichkeit eines Lebens aus Glauben kennt.
Namensänderung: Jakob wird zu Israel
In diesem Punkt versagen wir jedoch so oft. Wir verbergen oft großen Unglauben hinter dem scheinbar einleuchtenden und frommen Vorwand, Mittel anzuwenden, von denen wir meinen, Gott könne sie segnen, während wir ihn in Wirklichkeit ausschließen und nur auf die Mittel vertrauen. Möchten doch unsere Herzen das Schlechte dieser Handlungsweise erkennen! Möchten sie lernen, mit mehr Einfalt auf Gott allein zu schauen, damit unser Leben mehr durch eine heilige Würde charakterisiert wird, die uns über die Umstände erhebt, durch die wir zu gehen haben! Es ist durchaus nicht leicht, mit dem Geschöpf in jeder Art und Form so völlig ein Ende zu machen, dass man sagen kann: „Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du segnest mich“ (V. 27). Das von Herzen zu sagen und in der Kraft zu bleiben, die diese Worte ausdrücken, ist das Geheimnis wirklicher Stärke. Jakob redete erst dann so, als sein Hüftgelenk angerührt war, nicht vorher. Er rang lange, bevor er nachgab, weil sein Vertrauen auf das Fleisch stark war. Aber Gott kann den hartnäckigsten Charakter in den Staub beugen. Er weiß die Quelle der natürlichen Kraft zu erreichen und sie zum Tod zu bringen, und ehe dies geschehen ist, kann man keine Kraft vor Gott und Menschen haben. Wir müssen schwach sein, bevor wir stark sein können. Die Kraft Christi kann nur in Verbindung mit der Erkenntnis unserer Schwachheit in uns sein. Christus kann die Kraft der Natur und ihre Weisheit niemals billigen. Diese Dinge müssen abnehmen, damit Er wachsen kann. Nie kann die Natur in irgendeiner Weise der Entfaltung der Gnade oder der Kraft Christi zur Grundlage dienen.
Da also die Entfaltung der Herrlichkeit Gottes mit der totalen Beiseitesetzung der Natur verbunden ist, kann die Seele sich über diese Entfaltung nicht eher freuen, bis diese Beiseitesetzung wirklich erfolgt ist. Obwohl Jakob aufgefordert wird, seinen Namen zu nennen und anzuerkennen, dass er „Jakob“ oder „Überlister“ heißt, wird ihm dennoch nicht der Name dessen offenbart, der mit ihm gerungen und ihn in den Staub gebeugt hat. Er empfängt für sich selbst den Namen „Israel“ oder „Kämpfer Gottes“, und das ist ein großer Fortschritt, aber als er sagt: „Sage mir doch deinen Namen!“ – erhält er zur Antwort: „Warum doch fragst du nach meinem Namen?“ (V. 30). Der Herr weigert sich, ihm seinen Namen zu nennen, obschon Jakob die Wahrheit über sich selbst bekannt hatte, und deshalb gesegnet wird. Wie viele ähnliche Fälle enthält die Geschichte der Familie Gottes! Das Ich wird in seiner ganzen Hässlichkeit aufgedeckt, aber wir kommen praktisch nicht so weit, zu erkennen, was Gott ist, obwohl er uns so nahe ist und uns segnet.
Jakob empfing den neuen Namen „Israel“ nachdem seine Hüfte angerührt worden war und er so erfahren und anerkannt hatte, dass er ein schwacher Mensch war. Dennoch musste der Herr zu ihm sagen: „Warum doch fragst du nach meinem Namen?“ und Er offenbarte ihm nicht den Namen dessen, der den wahren Namen und den wahren Zustand Jakobs ans Licht gebracht hatte. Dies lehrt uns, dass es etwas ganz anderes ist, von Gott gesegnet zu werden, als durch den Geist die Offenbarung des Charakters Gottes für unsere Herzen zu empfangen. „Er segnete ihn dort“ (V. 30), aber Er nannte ihm nicht seinen Namen. Es ist stets ein Segen, in irgendeinem Maß zur Selbsterkenntnis geführt zu werden, denn wir werden dadurch auf einen Weg gebracht, auf dem wir klarer unterscheiden können, was Gott in allen Einzelheiten für uns ist. So war es bei Jakob. Sobald sein Hüftgelenk angerührt worden war, war er in einem Zustand, in dem Gott allein genügen konnte. Ein armer hinkender Mann konnte wenig ausrichten. Es blieb ihm daher nichts übrig, als sich an den zu klammern, der allmächtig ist.
Ehe wir die Betrachtung dieses Kapitels abschließen, möchte ich noch bemerken, dass das Buch Hiob in gewissem Sinn eine Erklärung zu dem soeben betrachteten Abschnitt der Geschichte Jakobs gibt. In den ersten 31 Kapiteln streitet Hiob mit seinen Freunden und hält seine Behauptungen allen ihren Beweisgründen gegenüber aufrecht. In Kapitel 32 aber beginnt Gott durch Elihu mit ihm zu ringen, und in Kapitel 38 greift Er ihn unmittelbar an in der ganzen Majestät seiner Kraft, überwältigt ihn durch die Offenbarung seiner Größe und Herrlichkeit und dann spricht Hiob die bekannten Worte: „Mit dem Gehör des Ohres hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich mich und bereue in Staub und Asche“ (Hiob 42,5.6). Gott hatte sein Hüftgelenk angerührt. Man beachte den Ausdruck: „Mein Auge hat dich gesehen“. Hiob sagt nicht: „Ich sehe mich“, sondern: „Ich habe dich gesehen“. Nur ein Blick auf das, was Gott ist, führt zu wahrer Buße und Verabscheuung unseres Ich. So wird es auch mit dem Volk Israel sein, dessen Geschichte mit derjenigen Hiobs sehr verwandt ist. Wenn sie auf den blicken werden, den sie durchbohrt haben, werden sie wehklagen (Sach 12,10); und dann wird Gott sie segnen und völlig wiederherstellen.