Betrachtungen über das erste Buch Mose
Jakob bei Laban und seine Flucht
In der Schule Gottes (2)
„Und Jakob machte sich auf und ging in das Land der Kinder des Ostens“ (Kap. 29,1). Wie wir in Kapitel 28 gesehen haben, kann Jakob den wahren Charakter Gottes nicht verstehen und begegnet der Fülle der Gnade von Bethel mit einem „Wenn“ und mit einem Vertrag über Brot und Kleider, und jetzt folgen wir ihm auf eine Szene, die mit lauter solchen Verträgen angefüllt ist. „Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7). Es ist unmöglich, den Folgen unserer Untreue zu entrinnen. Jakob hatte seinen wahren Platz vor Gott noch nicht gefunden, und daher benutzt Gott die Umstände, um ihn zu züchtigen und zu demütigen.
Das ist das wahre Geheimnis vieler Trübsale und Prüfungen in der Welt, die uns begegnen. Wir sind vor Gott nicht wirklich zusammengebrochen, wir haben uns nicht völlig verurteilt und uns selbst nicht aufgegeben, und daher kommt es, dass wir immer wieder unsere Probleme selbst meistern wollen und so mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Niemand kann sich wirklich an Gott erfreuen, bevor er mit seinem Ich zu Ende gekommen ist, und zwar einfach deshalb, weil Gott erst da beginnt sich zu offenbaren, wo das Fleisch gestorben ist. Ich muss auf die eine oder andere Weise lernen, was die Natur wert ist, und um mich zu dieser Erkenntnis zu führen, wendet Gott verschiedene Mittel an. Wie oft geschieht es (wie in dem Fall Jakobs), dass der Herr sich uns nähert und zu uns redet, ohne dass wir seine Stimme verstehen oder unseren wahren Platz vor ihm einnehmen. „Gewiss, der HERR ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht … Wie furchtbar ist dieser Ort!“ (28,16.17) Jakob lernte hierdurch nichts, so dass er durch die Zucht einer einundzwanzigjährigen ernsten Schule gehen musste, und selbst diese genügte noch nicht, um ihn völlig in sich zusammenbrechen zu lassen.
Der Betrüger beim Betrüger
Es ist interessant zu sehen, wie er in eine Umgebung kommt, die so ganz seinem inneren Zustand entspricht Jakob mit seiner Neigung zum Feilschen trifft mit Laban zusammen, der denselben Hang hat, und beide spannen sozusagen jeden Nerv an, um einander zu überlisten. Bei Laban darf uns dies nicht wundern, denn er war nie in Bethel gewesen. Er hatte weder den geöffneten Himmel noch die von dort bis auf die Erde reichende Leiter gesehen. Er hatte nie herrliche Verheißungen aus dem Mund des HERRN erhalten, die ihm den Besitz des Landes Kanaan und unzählige Nachkommen zusicherten. Kein Wunder, dass er eine habsüchtige Gesinnung zeigte. Er besaß keine andere Hilfsquelle. Es ist nutzlos, von einem Weltmenschen etwas anderes als weltliche Gesinnung, Grundsätze und Wege zu erwarten. Er hat nichts anderes. Wie könnte man von einem Unreinen Reines erwarten? Aber wie traurig ist es, Jakob nach allem, was er in Bethel gesehen und gehört hatte, sich anstrengen zu sehen, im Kampf mit einem Weltmenschen Güter aufzuhäufen!
Und doch ist es leider keine ungewöhnliche Sache, dass Kinder Gottes ihre hohe Bestimmung und ihr himmlisches Erbteil aus dem Auge verlieren und mit den Kindern dieser Welt um Reichtum und Ehre einer mit dem Fluch der Sünde beladenen Erde streiten. Das trifft in vielen Fällen sogar in einem solchen Umfang zu, dass es schwer fällt, noch irgendwelche Spuren des Grundsatzes zu entdecken, der, wie der Apostel Johannes sagt, die „Welt überwindet“ (1. Joh 5,5). Wenn man Laban und Jakob nur nach natürlichen Grundsätzen beurteilen wollte, wäre es schwierig, einen Unterschied zwischen ihnen zu entdecken. Man muss hinter die Kulissen schauen und die Gedanken Gottes über die beiden kennen, um zu sehen, wie weit die beiden Männer sich voneinander unterscheiden. Aber Gott hatte diesen Unterschied hervorgerufen, nicht Jakob. So ist es auch jetzt. Wie schwer es auch manchmal sein mag, diesen Unterschied zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis zu entdecken, so besteht er dennoch, – ein Unterschied, der auf die ernste Tatsache gegründet ist, dass die einen „die Gefäße der Begnadigung sind, die Gott zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat“, und die anderen „die Gefäße des Zorns, zubereitet zum Verderben“ (nicht durch Gott, sondern durch die Sünde; Röm 9,23.22).
Das geistlich gesinnte Herz wird mit Interesse bemerken, mit welcher Sorgfalt der Geist Gottes in Römer 9 und an anderen Stellen der Heiligen Schrift sich gegen jene schreckliche Schlussfolgerung verwahrt, die der menschliche Verstand nur zu oft aus der Lehre von der Auswahl Gottes gezogen hat. Wenn Er von den „Gefäßen des Zorns“ redet, so sagt Er einfach: „zubereitet zum Verderben“. Er sagt nicht, dass Gott sie dazu „zubereitet“ hat. Wenn Er dagegen von den „Gefäßen der Begnadigung“ spricht, so sagt Er: „die Gott zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat“. Dieser Unterschied ist sehr beachtenswert.
Die „Jakobs“ und die „Labans“ unterscheiden sich grundsätzlich und werden stets verschieden sein, obwohl die Ersteren leicht vernachlässigen, ihren wahren Charakter und ihre hohe Stellung in die Tat umzusetzen.
Was Jakob betrifft, so ist alles, sowohl seine Arbeit und Mühe, als auch sein Bund im vor gehenden Kapitel, nur die Folge seiner Unwissenheit über die göttliche Gnade und seiner Unfähigkeit, den Verheißungen Gottes bedingungslos zu vertrauen. Wer nach Empfang der voraussetzungslosen Verheißung Gottes, ihm das Land Kanaan zu geben, sagen kann: „Wenn Gott mit mir ist … und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen“, der hat wirklich nur eine sehr schwache Vorstellung von Gott und von dem, was seine Verheißung ist. Deshalb sehen wir auch, wie Jakob sich anstrengt, selbst seine Angelegenheit möglichst intensiv zu fördern, und so wird es immer sein, wenn die Gnade nicht verstanden wird. Ein Bekenntnis der Grundsätze der Gnade mag vorhanden sein, aber das sagt nichts aus über das wirkliche Maß unserer Erfahrung von der Macht der Gnade. Man sollte meinen, das Gesicht, das Jakob in Bethel schaute, hätte laut von Gnade zu ihm geredet. Aber das Verhalten Jakobs in Haran zeigt uns, inwieweit er die Gnade verstanden hatte. Das Verhalten eines Menschen zeigt stets das wirkliche Maß der Erfahrung und der Überzeugung seiner Seele, wie schön auch sein Bekenntnis sein mag. Jakob war noch nicht dahin gebracht worden, sich in der Gegenwart Gottes zu prüfen, und deshalb war er unwissend hinsichtlich der Gnade und bewies seine Unwissenheit dadurch, dass er sich mit Laban anlegte und dessen Grundsätze annahm.
Man ist einigermaßen überrascht, dass Jakob, der nicht gelernt hatte, vor Gott seinen natürlichen Charakter zu erkennen und zu verurteilen, durch Gottes Vorsehung gerade in einen Kreis geführt wurde, in dem dieser Charakter deutlich hervortrat. Er wurde nach Haran geführt, in das Heimatland Labans und Rebekkas, in die Schule, aus der die von ihm so geschickt ausgeübten Grundsätze stammten, und wo sie gelehrt und angewendet wurden. Um Gott zu erkennen, muss man nach Bethel gehen, um den Menschen zu erkennen, nach Haran. Da Jakob die Offenbarung nicht erfasst hatte, die Gott von sich selbst in Bethel gab, wanderte er nach Haran, und dort wurde deutlich, was er war. Welche Anstrengungen machte er hier, um seine Ziele zu erreichen! Was für Winkelzüge und Kunstgriffe! Es zeigt sich nichts von Vertrauen auf Gott, nichts von der Einfalt und Geduld des Glaubens. Zwar war Gott mit Jakob, denn nichts kann das Wirken der Gnade verhindern. Auch erkannte Jakob in gewissem Maß die Gegenwart und die Treue Gottes an, aber dennoch meinte er, dass ohne einen Plan von ihm nichts geschehen könne. Er war nicht imstande, Gott die Regelung der Frage seiner Frauen und seines Lohns zu überlassen. Er suchte alles durch seine Listen zu ordnen. Er war von Anfang bis Ende der „Überlister“ (Kap. 27,36). Wo wäre z. B. ein vollkommeneres Meisterstück menschlicher Raffinesse zu finden als in Kapitel 30,37–42? Anstatt Gott die Sorge zu überlassen, das „gesprenkelte und gefleckte und dunkelfarbige Vieh“ zu vermehren, was Gott, wenn Jakob ihm vertraut hätte, gewiss getan hätte, greift Jakob zur Erreichung seines Ziels zu einem Mittel, das er nur selber aussinnen konnte. In ähnlicher Weise handelt er während seines ganzen zwanzigjährigen Aufenthalts bei Laban, und schließlich „flieht“ er, indem er so in allem sich selbst treu bleibt.
Die Erkenntnis der Gnade und die Erkenntnis von uns selbst
Wenn man die Charakterzüge Jakobs durch die verschiedenen Stadien seiner (einzigartigen) Geschichte verfolgt, bekommt man einen Einblick in die Wunder der Gnade Gottes. Niemand außer Gott hätte einen Mann wie Jakob ertragen, sowie auch niemand außer Gott sich für so einen Mann interessiert hätte. Die Gnade beginnt sozusagen am tiefsten Punkt. Sie nimmt sich des Menschen an wie sie ihn findet und handelt mit ihm in voller Kenntnis seiner Natur. Es ist sehr wichtig, von Anfang an diesen Charakterzug der Gnade zu verstehen, um später die Entdeckung unserer eigenen Schlechtigkeit ertragen zu können, die so oft unser Vertrauen erschüttert und unseren Frieden stört.
Viele Seelen erkennen nicht gleich zu Anfang ihres Glaubenslebens die völlige Verdorbenheit ihrer Natur, wie sie im Licht der Gegenwart Gottes erscheint, obwohl ihre Herzen durch die Gnade wirklich berührt und ihre Gewissen durch die Inanspruchnahme des Werkes Christi beruhigt worden sind. Durch die niederschmetternde Entdeckung des in ihnen wohnenden Bösen beginnen sie an ihrer Kindschaft zu zweifeln, da sie nur eine mangelhafte Vorstellung von der Gnade Gottes und dem Wert des Blutes Christi besitzen. So werden sie von Christus getrennt und auf sich selbst geworfen und flüchten dann entweder in eine Religion von Satzungen, um wenigstens die Sprache der Frömmigkeit beizubehalten, oder sie fallen in den Zustand völliger Weltlichkeit zurück. Das sind traurige Folgen, und sie ergeben sich, wenn das Herz nicht „durch Gnade befestigt“ ist (Heb 13,9).
Das macht die Geschichte Jakobs so interessant und nützlich für uns. Niemand kann die vorliegenden drei Kapitel lesen, ohne von der wunderbaren Gnade beeindruckt zu werden, die sich mit einem Menschen wie Jakob beschäftigen konnte und nachdem sie alles, was in ihm war, offenbart hatte, sagen konnte: „Ich erblicke keine Ungerechtigkeit in Jakob und sehe kein Unrecht in Israel“ (vgl. 4. Mose 23,21). Gott sagt nicht, dass nichts Böses in Jakob und kein Unrecht in Israel vorhanden gewesen ist. Das würde dem Herzen niemals die Sicherheit geben, die Gott ihm so gern vor allem anderen schenken möchte. Einem Sünder zu sagen, dass keine Sünde in ihm ist, wird seinem Herzen keine Ruhe geben, denn er weiß nur zu gut, dass Sünde in ihm ist. Aber wenn Gott ihm sagt, dass Er aufgrund des vollkommenen Opfers Christi keine Sünde mehr in ihm sieht, so wird ganz sicher ein wunderbarer Friede in sein Herz einkehren. Wenn Gott Esau erwählt hätte, dann würden wir wohl nicht eine so herrliche Entfaltung der Gnade sehen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Esau uns nicht in einem so ungünstigen Licht erscheint wie Jakob. Je tiefer der Mensch sinkt, umso höher steigt die Gnade Gottes. Je nachdem meine Schuld nach meiner Schätzung von fünfzig auf fünfhundert Denare anwächst, wird auch mein Gefühl von der Gnade sich steigern und meine Erfahrung von der Liebe, die, „da wir nicht zu bezahlen hatten“, uns die ganze Schuld erließ (Lk 7,42). Wohl deshalb sagte der Apostel: „Es ist gut, dass das Herz durch Gnade befestigt wird, nicht durch Speisen, von denen die keinen Nutzen hatten, die darin wandelten“ (Heb 13,9).