Betrachtungen über das erste Buch Mose
Jakob und Esau
Wahl der Gnade
Die Kapitel 27–35 teilen uns die Geschichte Jakobs mit, jedenfalls die besonderen Begebenheiten aus seinem Leben. Der Geist Gottes gibt uns darin eine gründliche Lektion über die Ratschlüsse der unendlichen Gnade Gottes und die Unfähigkeit und Verdorbenheit der menschlichen Natur.
In Kapitel 25 habe ich absichtlich eine Stelle überschlagen, um hier darauf zurückzukommen, damit wir die Mitteilungen Gottes über Jakob vollständig und im Zusammenhang vor uns haben. Wir lesen dort in den Versen 21–23: „Und Isaak bat den HERRN für seine Frau, denn sie war unfruchtbar; und der HERR ließ sich von ihm erbitten, und Rebekka, seine Frau, wurde schwanger. Und die Kinder stießen sich in ihr; und sie sprach: Wenn es so steht, warum geschieht mir dies? Und sie ging hin, um den HERRN zu befragen. Und der HERR sprach zu ihr: Zwei Nationen sind in deinem Leib, und zwei Völkerschaften werden sich scheiden aus deinem Innern; und eine Völkerschaft wird stärker sein als die andere, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen“. Im Propheten Maleachi wird auf diese Stelle Bezug genommen mit den Worten: „Ich habe euch geliebt, spricht der HERR; aber ihr sprecht: ‚Worin hast du uns geliebt?' -War nicht Esau der Bruder Jakobs?, spricht der HERR. Und ich habe Jakob geliebt; Esau aber habe ich gehasst“ (Mal 1,2.3). Eine zweite Anspielung darauf finden wir in Röm 9,11–13, wo wir lesen: „Selbst als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten (damit der Vorsatz Gottes nach Auswahl bleibe, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden), wurde zu ihr gesagt: ‚Der Größere wird dem Kleineren dienen'; wie geschrieben steht: ‚Den Jakob habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehasst'“.
Wir sehen hier deutlich den ewigen Ratschluss Gottes bezüglich der Gnadenwahl. Der Ausdruck „Gnadenwahl“ ist von großer Tragweite. Er weist jede menschliche Anmaßung zurück und unterstreicht das Recht Gottes, zu handeln, wie Er will. Das ist äußerst wichtig. Das Geschöpf kann nicht wirklich glücklich sein, solange es nicht sein Haupt vor unumschränkter Gnade beugt. Das geziemt dem Menschen, weil er ein Sünder ist und somit kein Recht hat, zu handeln oder Gott etwas vorzuschreiben. Sich auf diesem Boden zu befinden ist deshalb von so großem Wert, weil es sich dann nicht mehr um die Frage handelt, was wir verdienen, sondern darum, was Gott gefällt, uns zu geben. Der verlorene Sohn konnte wünschen, ein Tagelöhner zu werden, aber wenn es sich um Verdienst handelt, war er nicht einmal würdig, den Platz eines Tagelöhners einzunehmen. Daher blieb ihm nichts anders übrig, als das anzunehmen, was der Vater ihm zu geben für gut fand, und der Vater gab ihm den hohen Platz der Gemeinschaft mit sich selbst. So muss es stets sein. Die Gnade wird das ganze Werk Gottes krönen bis in alle Ewigkeit. Welch ein Glück für uns! Indem wir vorangehen und von Tag zu Tag mehr entdecken, was wir sind, haben wir die unerschütterliche Grundlage der Gnade nötig. Der Ruin des Menschen ist hoffnungslos, und daher muss die Gnade unendlich sein, und unendlich ist sie, indem Gott selbst ihre Quelle, Christus ihr Kanal und der Heilige Geist die Kraft ihrer Anwendung ist. Die Dreieinheit hat sich offenbart in Verbindung mit der Gnade, die einen armen Sünder rettet. „Die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). Nur in der Erlösung konnte diese Herrschaft der Gnade gesehen werden. In der Schöpfung können wir die Herrschaft der Macht und Weisheit, in der Vorsehung die der Güte und Langmut sehen, aber nur in der Erlösung sehen wir die Gnade herrschen, und zwar auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit.
In der Person Jakobs begegnen wir einer treffenden Darstellung der Macht dieser Gnade Gottes, und zwar deshalb, weil er uns ein Beispiel der Macht der menschlichen Natur vor Augen stellt. In ihm sehen wir die Natur in ihrer ganzen Schlechtigkeit, und deshalb zeigt sich die Gnade in ihrer ganzen Schönheit und Kraft. Bereits vor und bei seiner Geburt und während seines ganzen Lebens zeigte sich eine außergewöhnliche Energie der Natur. Wir lesen: „Die Kinder stießen sich in ihr“, und: „seine Hand hielt die Ferse Esaus“ (Kap. 25,22.26), und nach seiner Geburt sehen wir auf seinem ganzen Weg bis zum Wendepunkt seiner Geschichte in Kapitel 32 ohne eine Ausnahme die Offenbarung einer alles andere als liebenswürdigen Natur. Alles dient, wie ein dunkler Hintergrund, nur dazu, die Gnade dessen hervorstrahlen zu lassen, der sich herabließ, den Namen „der Gott Jakobs“ anzunehmen, einen Namen, der der rührende Ausdruck einer freien, bedingungslosen Gnade ist.
Jakob erschleicht sich den Segen
Wenn wir jetzt auf die Einzelheiten der Geschichte Jakobs näher eingehen, finden wir zunächst ein sehr demütigendes Bild von Sinnlichkeit, Betrug und List, und diese Dinge erscheinen umso trauriger und schrecklicher, wenn man sie, wie hier, mit Gottes Volk in Verbindung findet. Dennoch, wie treu und wahr ist der Heilige Geist! Er muss alles aufdecken. Wenn Er die Geschichte eines Menschen erzählt, so kann Er nicht ein unvollkommenes Bild entwerfen. Er zeichnet ihn, wie er ist. So ist es aber auch, wenn Er uns den Charakter und die Wege Gottes offenbart: Er zeigt uns Gott, wie Er ist, und das ist es, was wir brauchen. Wir brauchen die Offenbarung eines vollkommen heiligen, zu gleicher Zeit aber auch eines vollkommen gnädigen und barmherzigen Gottes, der sich in die Tiefe des Elends und der Erniedrigung des Menschen herabließ und dort sich mit ihm beschäftigte, um ihn aus diesem Zustand zu befreien und ihn zu einer ungehinderten Gemeinschaft mit sich selbst zu erheben, und zwar in der ganzen Wirklichkeit dessen, was Er ist. Gott kannte unsere Bedürfnisse, und Er hat sie befriedigt.
Erinnern wir uns auch, dass der Heilige Geist, indem Er uns in seiner Liebe alle Züge des menschlichen Charakters beschreibt, nur das eine Ziel im Auge hat, die Reichtümer der Gnade Gottes zu offenbaren und unsere Seelen zu warnen. Sein Zweck ist nicht, das Gedächtnis an bestimmte Sünden aufrechtzuerhalten, da sie ja für immer vor den Augen Gottes entfernt sind. Die Flecken und Verirrungen Abrahams, Isaaks oder Jakobs sind völlig abgewaschen und weggetan, und diese Männer haben ihren Platz eingenommen inmitten der „Geister der vollendeten Gerechten“ (Heb 12,23), aber ihre Geschichte steht auf den Blättern der Heiligen Schrift, um die Gnade Gottes zu offenbaren, dem Volk Gottes zu allen Zeiten als Warnung zu dienen, und uns deutlich sehen zu lassen, dass Gott in früheren Zeiten nicht mit vollkommenen Menschen, sondern mit solchen „von gleichen Empfindungen wie wir“ (Jak 5,17) zu tun gehabt hat bei denen Er dieselben Schwachheiten und Fehler zu ertragen hatte, die uns täglich zu schaffen machen. Das alles ist trostreich für das Herz und steht im Gegensatz zu der Art, in der die meisten menschlichen Lebensbeschreibungen verfasst sind, in denen nicht die Geschichte von Menschen, wie wir sind, erzählt wird, sondern die Geschichte von Wesen, die frei von Irrtümern und Schwächen waren. Solche Lebensbeschreibungen schaden mehr als sie nützen. Sie dienen dem Leser mehr zur Entmutigung als zur Stärkung, denn sie teilen eher das mit, was der Mensch sein sollte, als das was in Wirklichkeit ist. Nichts kann mehr Kraft schenken, als die Darstellung der Wege Gottes mit dem Menschen, wie er wirklich ist, und gerade das reicht Gottes Wort uns dar.
Das vorliegende Kapitel ist ein treffender Beweis dafür. Wir finden hier den betagten Patriarchen Isaak sozusagen auf der Schwelle zur Ewigkeit. Die Erde mit allem, was der Natur angehört, entschwindet seinen Blicken, aber dennoch beschäftigt er sich mit einem „schmackhaften Gericht“ und steht im Begriff, indem er den Erstgeborenen statt den Jüngeren segnen will, unmittelbar gegen den Ratschluss Gottes zu handeln. Das ist die Natur, und zwar die Natur mit ihren „schwach gewordenen Augen“. Während Esau sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkaufte, ist Isaak jetzt nahe daran, ihm für ein Stück Wildbret den Segen zu geben.
Auf die Zeit Gottes warten
Aber der Vorsatz Gottes muss bestehen bleiben, und Gott wird alles nach seinem Wohlgefallen ausführen. Der Glaube weiß das, und in der Kraft dieser Erkenntnis kann er die von Gott bestimmte Zeit abwarten. Die Natur kann nicht warten und möchte ihre Ziele durch eigene Erfindungen erreichen. Das sind die beiden Hauptpunkte, die an der Geschichte Jakobs klar werden: Einerseits der Vorsatz Gottes in Gnade, andererseits die Natur, die durch Pläne das herbeiführen will, was ohne sie der Ratschluss Gottes auch zustande gebracht hätte. Dies vereinfacht die Geschichte Jakobs sehr und macht sie zugleich interessanter. Keine Gnade mangelt uns vielleicht so sehr, wie Geduld und völlige Abhängigkeit von Gott. Die Natur will stets selber handeln und hemmt dadurch das Wirken der Gnade und Macht Gottes. Gott brauchte zur Ausführung seines Vorsatzes weder die List Rebekkas, noch den Betrug Jakobs. Er hatte gesagt: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen“. Das war genug für den Glauben, aber nicht genug für die Natur, die stets zu eigenen Mitteln greifen möchte, weil sie die Abhängigkeit von Gott nicht kennt. Wie gesegnet ist die Seele, die mit der Einfalt eines Kindes in Abhängigkeit von Gott lebt und vollkommen zufrieden ist, seine Zeit abzuwarten. Allerdings bringt eine solche Stellung Prüfungen mit sich, aber die erneuerte Seele lernt die besten Lektionen, während sie so auf den Herrn vertraut, und macht wunderbare Erfahrungen, und je mächtiger die Versuchung ist, sich den Händen Gottes zu entziehen, umso reicher wird der Segen sein, wenn wir in dieser Stellung der Abhängigkeit bleiben. Es ist wohltuend, sich von jemand abhängig zu fühlen, dessen Freude es ist, zu segnen. Nur die, die einigermaßen die Wirklichkeit dieser wunderbaren Stellung kennen gelernt haben, wissen sie zu schätzen. Der Herr Jesus war der Einzige, der sie vollkommen und ohne Unterbrechung eingenommen hat. Er lebte immer in Abhängigkeit von Gott und widersprach entschieden jedem Vorschlag des Feindes, diese Stellung der Abhängigkeit zu verlassen. Seine Sprache war: „Bewahre mich, Gott, denn ich suche Zuflucht bei dir“; „auf dich bin ich geworfen von Mutterschoß an“ (Ps 16,1; 22,11). Als daher der Teufel ihn verleiten wollte, durch ein Machtwort seinen Hunger zu stillen, erwiderte Er: „Es steht geschrieben: Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht“. Als Satan ihn versuchte, sich von der Zinne des Tempels herabzustürzen, antwortete Er: „Es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“. Und als er ihn schließlich versuchte, die Reiche der Welt aus der Hand eines anderen als Gott zu nehmen, indem Er einem anderen als Gott huldigte, entgegnete Er: „Es steht geschrieben: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen“ (Mt 4,3–10) Nichts konnte ihn veranlassen, den Platz der unbedingten Abhängigkeit von Gott zu verlassen. Es war zweifellos Gottes Wille, seinen Sohn zu ernähren und zu erhalten, ihn unerwartet in seinen Tempel einzuführen und ihm die Reiche der Welt zu geben, aber das war gerade die Ursache, weshalb der Herr Jesus konsequent auf Gott wartete, auf die Erfüllung seiner Ratschlüsse zu seiner Zeit und auf seine Weise. Er suchte nicht seinen eigenen Willen zu tun und seine eigenen Ziele zu erreichen. Er überließ sich völlig Gott. Er wollte nur essen, wenn Gott ihm Brot darreichte. Er wollte nur in den Tempel eintreten, wenn Gott ihn dorthin sandte, und Er wird den Thron besteigen zu der von Gott bestimmten Zeit. „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde hinlege als Schemel für deine Füße (Ps 110,1).
Diese völlige Unterwerfung des Sohnes unter den Vater verdient unsere Bewunderung. Obwohl Er Gott vollkommen gleich war, nahm Er als Mensch den Platz der Abhängigkeit ein, indem Er stets seine Freude an dem Willen des Vaters fand, stets danksagte, wenn auch alles gegen ihn zu sein schien, stets tat, was den Vater erfreute, und immer die Verherrlichung des Vaters als sein Ziel betrachtete. Und als endlich alles erfüllt war, als Er das Werk vollbracht hatte, das ihm der Vater anvertraut hatte, übergab Er seinen Geist in die Hände seines Vaters, und sein Leib ruhte in der Hoffnung der verheißenen Herrlichkeit. Daher ruft der Apostel uns zu: „Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war, der, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,5–11).
Die Auswege Jakobs
Wie wenig verstand Jakob zunächst von dieser Gesinnung! Wie wenig war er bereit, auf Gottes Zeit zu warten und Gottes Führung zuzusehen! Er wollte den Segen und die Erbschaft lieber durch List und Betrug erreichen als durch Abhängigkeit von dem Gott, dessen auserwählende Gnade ihn zum Erben der Verheißungen gemacht hatte, und dessen Weisheit und Allmacht alle Verheißungen ganz sicher erfüllt hätte. Wir wissen gut, wie sehr sich das menschliche Herz dieser Abhängigkeit und dieser Unterwürfigkeit widersetzt. Es heißt, die Natur zur Verzweiflung treiben, wenn man ihr alle Hilfsquellen nimmt. Diese Tatsache genügt, um uns den wahren Charakter der menschlichen Natur zu zeigen. Um diese Natur kennen zu lernen, ist es nicht nötig, die Stätten des Lasters und Verbrechens aufzusuchen. Nein, man braucht sie nur für einen Augenblick auf den Platz der Abhängigkeit zu stellen und zu sehen, wie sie sich dort benimmt. Sie kennt Gott überhaupt nicht, und deshalb kann sie ihm auch nicht vertrauen. Hierin liegt das Geheimnis ihres Elends und ihrer sittlichen Versunkenheit. Die Erkenntnis Gottes ist die Quelle des Lebens, ja, das Leben selbst. Und was ist der Mensch, oder was kann er sein, ehe er Leben hat?
Wir sehen, wie Rebekka und Jakob aus der Natur Isaaks und Esaus Vorteil zogen. Das Verhalten Rebekkas und Jakobs bewies deutlich, dass bei ihnen weder Abhängigkeit von Gott noch Vertrauen auf Gott vorhanden war. Isaaks Augen waren schwach geworden Ihn zu täuschen, war eine leichte Sache. Und zu dieser Tat verbanden sich Mutter und Sohn, anstatt auf Gott zu schauen, der die Absicht Isaaks, den zu segnen, den Gott nicht segnen wollte, ganz sicher vereitelt hätte, eine Absicht, die ihren Grund in der Natur hatte. Denn „Isaak hatte Esau lieb“, nicht etwa weil er der Erstgeborene war, sondern: „denn Wildbret war nach seinem Mund“ (Kap. 25,28). Wie demütigend ist das alles!
Aber wenn wir uns den Händen Gottes entziehen wollen, werden wir nur Leid über uns bringen. So war es mit Jakob, wie wir sehen werden. Wenn wir uns in einer Prüfung befinden, sollten wir uns stets daran erinnern, dass wir nicht eine Änderung der Umstände, sondern den Sieg über uns selbst benötigen. Es hat jemand die Bemerkung gemacht: „Wenn man das Leben Jakobs nach seiner Erschleichung des Segens betrachtet, findet man, dass er nur sehr wenig Glück in dieser Welt gehabt hat. Sein Bruder fasste den Plan, ihn zu töten und zwang ihn zur Flucht aus dem Haus seines Vaters. Sein Onkel Laban betrog ihn wie er selbst seinen Vater betrogen hatte, und behandelte ihn mit großer Härte. Nach einundzwanzigjähriger Knechtschaft musste er ihn heimlich verlassen, und zwar nicht ohne die Gefahr, eingeholt und zurückgebracht zu werden oder seinem erzürnten Bruder in die Hände zu fallen. Kaum war er von dieser Furcht frei, machte ihm das schamlose Betragen seines Sohnes Ruben Kummer und Herzeleid. Dann musste er die Treulosigkeit und Grausamkeit seiner Söhne Simeon und Levi gegen die Bewohner von Sichem beklagen und zugleich den Verlust seiner geliebten Rahel beweinen. Weiter sehen wir, wie er von seinen Söhnen hintergangen und über den vermeintlichen Tod Josephs in tiefe Trauer versetzt wird. Und endlich, um das Maß des Elends voll zu machen, zwang ihn der Hunger, nach Ägypten hinabzuziehen, und dort, in fremdem Land, fand er den Tod. Das sind die gerechten, lehrreichen und doch wunderbaren Wege Gottes“.
Diese Beschreibung ist wahr, aber sie stellt uns nur die dunkle Seite seines Lebens vor. Gott sei Dank! Es gibt noch eine andere Seite, denn Gott stand in Verbindung mit Jakob, und in allen Ereignissen seines Lebens, in denen er die Früchte seiner krummen Wege zu ernten hatte, brachte der Gott Jakobs Gutes aus dem Bösen hervor und ließ seine Gnade die Sünde und Torheit seines schwachen Dieners überströmen.
Die Haltung Isaaks
Es ist sehr interessant, dass Isaak trotz der außerordentlichen Schwachheit seines Fleisches durch Glauben die Würde aufrechthält, die Gott ihm verliehen hatte. Er spricht von dem Segen in dem vollen Bewusstsein, dass ihm die Macht zum Segnen gegeben ist. Er sagt: „Ich habe ihn gesegnet; er wird auch gesegnet sein … Siehe, ich habe ihn zum Herrn über dich gesetzt und alle seine Brüder ihm zu Knechten gegeben, und mit Korn und Most habe ich ihn versehen, und nun, was könnte ich für dich tun, mein Sohn?“ (V. 33.37). Er spricht wie jemand, dem durch den Glauben alle Schätze der Erde zur Verfügung stehen. Es zeigt sich bei ihm keine falsche Demut. Er nimmt durch den Fehler seiner Natur nicht einen niedrigeren Platz ein. Allerdings stand er kurz davor, unmittelbar gegen den Ratschluss Gottes zu handeln. Dennoch kennt er Gott und nimmt somit den ihm gebührenden Platz ein, indem er in der ganzen Würde und Energie des Glaubens Segnungen austeilt. „Ich habe ihn gesegnet; er wird auch gesegnet sein“. „Mit Korn und Most habe ich ihn versehen“. Es ist das Besondere des Glaubens, dass er sich über alle unsere Fehler und deren Folgen erhebt und den Platz einnimmt, den die Gnade Gottes uns bereitet hat.
Rebekka und Esau
Auch Rebekka musste alle traurigen Folgen ihrer Ränke fühlen. Sie bildete sich zweifellos ein, alles sehr geschickt zu regeln, aber ach! Sie sah Jakob nie wieder. Wie anders wäre das Ergebnis gewesen, wenn sie alles den Händen Gottes überlassen hätte! So handelt der Glaube, und er bleibt deshalb stets Überwinder. „Wer aber unter euch vermag mit Sorgen seiner Größe eine Elle zuzufügen?“ (Lk 12,25). Wir gewinnen nichts durch unsere Sorgen und Pläne. Wir schließen nur Gott dadurch aus, und das ist ganz sicher kein Gewinn. Es ist das gerechte Gericht Gottes, wenn wir die Früchte unserer eigenen Überlegungen ernten. Unsagbar traurig ist es, wenn ein Kind Gottes seine Stellung und seine Vorrechte vergisst und selbst seine Angelegenheiten in die Hand nimmt. „Die Vögel“ des Himmels und „die Lilien“ des Feldes (Lk 12,24.27) können uns belehren, wenn wir unsere Stellung völliger Abhängigkeit von Gott vergessen.
Was schließlich Esau betrifft, so nennt der Apostel ihn einen „Ungöttlichen, der für eine Speise sein Erstgeburtsrecht verkaufte“, und der „nachher, als er den Segen erben wollte, verworfen wurde (denn er fand keinen Raum zur Buße), obgleich er ihn mit Tränen eifrig suchte“ (Heb 12,16.17). Wir lernen hieraus, dass ein Ungöttlicher ein Mensch ist, der den Himmel und die Erde zugleich besitzen möchte. Er will die Gegenwart genießen, ohne sein Anrecht auf die Zukunft zu verlieren. Das ist kein ungewöhnlicher Fall. Wir sehen darin den weltlichen Bekenner, dessen Gewissen die Wirkung der göttlichen Wahrheit nicht verspürt hat, und dessen Herz den Einfluss der Gnade nicht kennt.