Betrachtungen über das erste Buch Mose
Die Geburt Isaaks und die Trennung von Hagar und Ismael
Die Erfüllung der Verheißung
„Und der HERR wandte sich Sara zu, wie er gesagt hatte, und der HERR tat Sara, wie er geredet hatte“ (V. 1). Hier finden wir die Erfüllung der Verheißung, die Frucht eines geduldigen Wartens auf Gott. Noch nie hat jemand vergeblich auf Gott gewartet. Die Seele, die sich durch den Glauben die Verheißung Gottes zu Eigen macht, besitzt eine Wirklichkeit, die sie nie täuschen wird. So war es bei Abraham und bei den Gläubigen aller Jahrhunderte, und so wird es bei allen sein, die ihr Vertrauen auf den lebendigen Gott setzen. Was für eine Beruhigung ist es für unsere Seelen, dass wir in dieser trügerischen Welt Gott selbst zu unserem Teil und Ruheort haben, und dass wir uns auf zwei unveränderliche Dinge stützen dürfen: Das Wort und den Eidschwur Gottes!
Als Abraham die Verheißung Gottes als vollendete Tatsache sah, musste er wohl die Torheit seiner eigenen Anstrengungen erkennen, durch die er die Erfüllung der Verheißung hatte herbeiführen wollen. Ismael war, was diese Verheißung betraf, durchaus nutzlos. Er war sicher ein Gegenstand der natürlichen Liebe Abrahams, so dass die Aufgabe Abrahams dadurch später umso schwieriger wurde, aber er diente in keiner Weise der Durchführung des Vorsatzes Gottes oder der Befestigung des Glaubens Abrahams. Die Natur kann nie etwas für Gott tun. Gott muss „sich zuwenden“, und Gott muss „tun“. Der Glaube muss warten und die Natur muss ruhig sein, ja, sie muss, als eine tote und wertlose Sache, ganz beiseitegesetzt werden. Nur dann kann die Herrlichkeit Gottes ausstrahlen und der Glaube seine reiche Belohnung finden. „Und Sara wurde schwanger und gebar dem Abraham einen Sohn in seinem Alter, zu der bestimmten Zeit, von der Gott ihm gesagt hatte“ (V. 2). Es gibt eine von Gott „bestimmte Zeit“, und auf diese muss der Glaube geduldig warten können. Die Zeit mag sich scheinbar in die Länge ziehen, und die Hinhaltung der Hoffnung mag das Herz krank machen, aber das geistliche Gemüt wird stets Erleichterung in der Gewissheit finden, dass schließlich alles zur Offenbarung der Herrlichkeit Gottes dienen muss. „Denn das Gesicht geht noch auf die bestimmte Zeit, und es strebt zum Ende hin und lügt nicht. Wenn es verzieht, so harre darauf; denn kommen wird es, es wird nicht ausbleiben … Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“ (Hab 2,3.4). Was für eine wunderbare Sache ist der Glaube! Er macht die Verheißung Gottes zu gegenwärtiger Wirklichkeit. Durch seine Macht bleibt die Seele im Warten auf Gott bewahrt, wenn auch alles Äußere dagegen zu sein scheint, und „zur bestimmten Zeit“ wird Gott den Mund mit Lachen füllen. „Und Abraham war hundert Jahre alt, als ihm sein Sohn Isaak geboren wurde“ (V. 5). Für die Natur gab es also nichts zu rühmen. Die Hilflosigkeit des Menschen gab Gott Gelegenheit, sich zu offenbaren, und Sara sagte: „Gott hat mir ein Lachen bereitet“ (V. 6). Alles ist triumphierende Freude, wenn man Gott erlaubt, sich zu zeigen.
Isaak und Ismael
Aber die Geburt Isaaks führte auch ein ganz neues Element in das Haus Abrahams ein. Der Sohn der Freien brachte den wahren Charakter des Sohnes der Magd bald ans Licht. Isaak war für das Haus Abrahams grundsätzlich das, was die Einpflanzung der neuen Natur in die Seele eines Sünders bedeutet. Ismael wurde nicht verändert, sondern Isaak wurde geboren. Der Sohn der Magd konnte nie etwas anderes werden als das, was er war. Er mochte zu einem großen Volk werden, mochte in der Wüste wohnen, ein guter Bogenschütze sein und sogar der Vater von zwölf Fürsten werden, aber er blieb immer der Sohn der Magd. Andererseits mochte Isaak noch so schwach und verachtet sein, er war dennoch der Sohn der Freien. Seine Stellung und sein Charakter, seine Vorrechte und seine Hoffnungen, alles hatte er von dem Herrn empfangen. „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dein Geist geboren ist, ist Geist“ (Joh 3,6).
Die alte und die neue Natur
Die Wiedergeburt ist nicht eine Veränderung der alten Natur, sondern die Einführung einer neuen. Es ist die Einpflanzung der Natur oder des Lebens des zweiten Adam, durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, ist gegründet auf das vollbrachte Erlösungswerk Christi, und ist in vollkommener Übereinstimmung mit dem unumschränkten Willen und Ratschluss Gottes. In dem Augenblick, da ein Sünder von Herzen an den Herrn Jesus glaubt und ihn mit dem Mund bekennt, empfängt er den Besitz eines neuen Lebens, und dieses Leben ist Christus. Er ist aus Gott geboren, er ist ein Kind Gottes, ein Sohn der Freien (siehe Rö 10,9; Kol 3,4; 1. Joh 3,1.2; Gal 3,26; 4,31).
Die Einführung dieser neuen Natur verändert jedoch nicht den Charakter der alten. Diese bleibt, was sie war; sie wird in keiner Weise verbessert. Ihr schlechter Charakter steht vielmehr in totalem Gegensatz zu dem neuen Element. „Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch; denn diese sind einander entgegengesetzt“ (Gal 5,17). Hier sehen wir die beiden Elemente in ihrer ganzen Verschiedenheit. Das eine dient nur dazu, das andere schärfer hervortreten zu lassen.
Diese Lehre von der Existenz zweier Naturen in dem Gläubigen wird im Allgemeinen wenig verstanden, und doch kann die Seele, solange sie dies nicht versteht, bezüglich der wahren Stellung und der Vorrechte des Gotteskindes nur im Dunkeln tappen. Manche meinen, dass die Wiedergeburt eine stufenweise in der alten Natur vorgehende Veränderung ist, die sich so lange fortsetzt, bis der ganze Mensch vollständig umgestaltet ist. Es ist aus verschiedenen Stellen des Neuen Testaments leicht zu beweisen, dass diese Meinung falsch ist. So lesen wir z. B.: „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott“ (Röm 8,7). Wie könnte das, was als „Feindschaft gegen Gott“ bezeichnet wird, irgendeiner Verbesserung fähig sein? Der Apostel fährt deshalb fort: „Sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht“. Wenn sie aber dem Gesetz Gottes nicht unterworfen sein kann, wie könnte sie dann verbessert oder verändert werden? Weiter lesen wir: „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch“ (Joh 3,6). Mache mit dem Fleisch, was du willst, es bleibt stets Fleisch. „Wenn du den Narren mit der Keule im Mörser zerstießest, mitten unter der Grütze, so würde seine Narrheit doch nicht von ihm weichen“ (Spr 27,22). Jeder Versuch, die Torheit weise zu machen, ist nutzlos. Deshalb muss himmlische Weisheit in das Herz einziehen, das bis dahin nur durch Torheit beherrscht worden ist. Weiterhin lesen wir: „Ihr habt den alten Menschen… ausgezogen“ (Kol 3,9). Der Apostel sagt nicht: „Ihr habt den alten Menschen vervollkommnet“, oder „Ihr bemüht euch, ihn zu vervollkommnen“, sondern: „Ihr habt ihn ausgezogen“. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand ein altes Kleid ausbessert, oder ob er es wegwirft und ein neues anzieht, und in der angeführten Stelle handelt es sich tatsächlich um das Ausziehen eines alten und um das Anziehen eines neuen Kleides. Die Lehre von einer stufenweisen Vervollkommnung der alten Natur ist falsch und irrig. Die alte Natur ist völlig unverbesserlich, und es bleibt für uns nichts anderes zu tun übrig, als sie im Tod zu halten, und das in der Macht des neuen Lebens, das wir besitzen durch die Vereinigung mit unserem auferstandenen Haupt in den Himmeln.
Die Geburt Isaaks diente nicht der Verbesserung Ismaels, sondern ließ nur den Gegensatz zwischen ihm und dem Sohn der Verheißung hervortreten. Er mochte bis zur Erscheinung Isaaks sehr friedlich und ordentlich gewesen sein, dann aber zeigte er, was er war, indem er das Kind der Auferstehung verfolgte und verspottete. Wie konnte man diesem Übel abhelfen? Durch die Verbesserung Ismaels? Nein, das einzige Heilmittel war: „Treibe diese Magd und ihren Sohn hinaus; denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn, mit Isaak!“ (V. 10). „Das Krumme kann nicht gerade werden“ (Pred 1,15). Folglich muss man sich von dem, was krumm ist, losmachen und sich mit dem beschäftigen, was nach Gottes Gedanken gerade ist. Es ist verlorene Mühe, etwas Krummes gerade machen zu wollen. Alle Anstrengungen, die Natur zu vervollkommnen, sind daher vor Gott wirkungslos. Es mag für die Menschen vorteilhaft sein, die Dinge, die sie gebrauchen, zu veredeln und zu verbessern, doch Gott hat seinen Kindern etwas Besseres zu tun gegeben, nämlich das zu pflegen, was seine eigene Schöpfung ist, deren Früchte nie die Natur erheben, aber zur Verherrlichung Gottes dienen.
Freiheit und Knechtschaft
Der Irrtum der Versammlungen in Galatien bestand in der Einführung von Forderungen an die Natur. Die Seligkeit wurde von etwas abhängig gemacht, was der Mensch sein, tun oder halten konnte. „Wenn ihr nicht beschnitten werdet nach der Weise Moses, so könnt ihr nicht errettet werden“ (Apg 15,1). Das hieß das ganze herrliche Gebäude der Erlösung umstürzen, das, wie der Gläubige weiß, ausschließlich auf dem ruht, was Christus ist und getan hat. Die Seligkeit von etwas abhängig machen, was in dem Menschen ist oder was er getan hat, heißt, das Ziel verfehlen. Mit anderen Worten: Ismael musste ausgestoßen werden, und alle Hoffnungen Abrahams mussten auf dem ruhen, was Gott in der Person Isaaks getan und gegeben hatte. Wir brauchen wohl kaum zu sagen, dass dies dem Menschen zu seiner eigenen Verherrlichung keinen Raum lässt. Wenn meine gegenwärtige oder zukünftige Segnung abhinge von einer selbst göttlichen Veränderung, die in der Natur bewirkt würde, so könnte das Fleisch, das ich, sich rühmen, und Gott würde nicht allen Ruhm haben. Obwohl meine Natur verbessert würde, wäre es doch etwas von mir. Aber wenn ich in eine neue Schöpfung eingeführt werde, sehe ich, dass alles von Gott ist, von ihm geplant, vorbereitet und ausgeführt. Gott ist der Handelnde, und ich bete an. Er ist der Segnende, und ich werde gesegnet. Er ist „der Bessere“, und ich bin „der Geringere“ (Heb 7,7). Er ist der Geber, und ich bin der Empfänger. Das verleiht dem Christentum seinen besonderen Charakter und unterscheidet es von jedem menschlichen Religionssystem. Jede menschliche Religion räumt mehr oder weniger dem Geschöpf einen Platz ein, sie behält die Magd und ihren Sohn im Haus und bietet dem Menschen etwas, womit er sich rühmen kann. Das Christentum dagegen schließt das Geschöpf von jeder Mitwirkung an dem Werk der Erlösung aus und gibt alle Ehre ihm, dem sie allein gebührt.
Betrachten wir jetzt, was die Magd und ihr Sohn in Wirklichkeit sind und was sie darstellen. Das 4. Kapitel des Galaterbriefs gibt uns Aufschluss über diese beiden Punkte. Die Magd stellt den Bund des Gesetzes dar und ihr Sohn alle diejenigen, die „aus Gesetzeswerken sind“ oder auf diesem Boden stehen. Die Magd gebiert nur zur Knechtschaft und kann keinen freien Menschen hervorbringen. Wie wäre es auch möglich? Das Gesetz hat nie die Freiheit geben können, denn es herrschte über den Menschen, solange er lebte (Röm 7,1). Solange ich mich aber unter der Herrschaft eines anderen befinde, bin ich nicht frei, und da das Gesetz, solange ich lebe, seine Herrschaft über mich ausübt, kann nur der Tod mich dieser Herrschaft entziehen. Das ist die Lehre des 7. Kapitels des Römerbriefes. „Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, damit wir Gott Frucht brächten“ (V. 4). Das ist Freiheit, denn „wenn nun der Sohn euch frei macht, so werdet ihr wirklich frei sein“ (Joh 8,36). „Also, Brüder, sind wir nicht Kinder der Magd, sondern der Freien“ (Gal 4,31).
In der Kraft dieser Freiheit nun sind wir fähig, dem Gebot zu gehorchen: „Treibe die Magd und ihren Sohn hinaus!“ Wenn ich nicht weiß, dass ich frei bin, werde ich versuchen, durch das Behalten der Magd im Haus die Freiheit zu erreichen. Mit anderen Worten: ich werde mich anstrengen, das Leben durch Beachtung des Gesetzes zu erlangen; ich werde versuchen, meine eigene Gerechtigkeit aufzurichten. Freilich wird es stets Kampf kosten, dieses Element der Knechtschaft auszumerzen, denn Gesetzlichkeit ist für unsere Herzen so natürlich. „Die Sache war sehr übel in den Augen Abrahams um seines Sohnes willen“ (V. 11). So schmerzlich dies auch sein mag, es ist dennoch der Wille Gottes, dass wir feststehen sollen in der Freiheit, für die Christus uns frei gemacht hat, und dass wir uns nicht wiederum unter einem Joch der Knechtschaft halten lassen (Gal 5,1).
Möchten wir so vollständig in den Besitz der Segnungen eintreten, die Gott für uns in Christus vorgesehen hat, dass wir mit dem Fleisch und allem, was es sein, tun oder hervorbringen kann, abgeschlossen haben. In Christus gibt es eine Fülle, die jede Rückkehr zur Natur überflüssig und vergeblich macht.