Betrachtungen über das erste Buch Mose
Namensänderungen
Gottes Bund mit Abraham
In diesem Kapitel begegnen wir dem Heilmittel Gottes für den Fehler Abrahams. „Und Abram war 99 Jahre alt, da erschien der HERR Abram und sprach zu ihm: Ich bin Gott, der Allmächtige; wandle vor meinem Angesicht und sei vollkommen“ (V. 1).
Ich möchte hier eine Bemerkung zu dem Ausdruck „vollkommen“ einschalten. Wenn Abraham berufen wurde, „vollkommen“ zu sein, so bedeutet das nicht eine Vollkommenheit in ihm selbst (er war in diesem Sinn nie vollkommen und konnte es nicht sein), sondern einfach eine Vollkommenheit bezüglich des Gegenstandes, der vor seinem Herzen stand. Es ist eine Aufforderung, seine Hoffnungen und Erwartungen vollkommen und ungeteilt auf den „Allmächtigen“ zu setzen.
Das Wort „vollkommen“ findet sich im Neuen Testament in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen. In Matthäus 5,48 lesen wir: „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“. Der Zusammenhang belehrt uns, dass sich das Wort „vollkommen“ hier auf den Grundsatz unseres Wandels bezieht, denn im 44. und 45. Vers lesen wir: „Liebt eure Feinde … damit ihr Söhne eures Vaters werdet, der in den Himmeln ist … denn Er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. „Vollkommen“ sein in dem Sinn des 48. Verses heißt daher, mit allen, selbst mit denen, die uns beleidigen und uns feindlich gesinnt sind, nach dem Grundsatz der Gnade handeln. Ein Christ der sich in Prozesse und Streitigkeiten einlässt, um sein Recht zu behaupten, ist nicht „vollkommen wie sein Vater“, denn sein Vater handelt in Gnade, während er in Gerechtigkeit handelt.
Es ist hier nicht die Frage, ob es recht oder unrecht ist, mit Leuten aus der Welt vor Gericht zu gehen (wenn es sich um Brüder handelt, ist 1. Korinther 6 entscheidend). Worauf ich hinweisen möchte, ist dies: Wenn ein Christ es tut, handelt er in einem Charakter, der dem seines Vaters unmittelbar entgegengesetzt ist. Denn Gott geht zweifellos jetzt nicht mit der Welt ins Gericht. Er sitzt jetzt nicht auf einem Richterstuhl, sondern auf einem Gnadenthron. Er gießt seine Segnungen über die aus, die in der Hölle ihren Platz finden würden, wenn Er mit ihnen ins Gericht gehen würde. Es ist deshalb klar, dass ein Christ, der einen seiner Mitmenschen vor Gericht bringt, nicht vollkommen ist wie sein Vater im Himmel.
Das Gleichnis in Matthäus 18 belehrt uns ferner, dass derjenige, der sein Recht behaupten will, den wahren Charakter und die Wirkung der Gnade nicht kennt. Der Knecht war nicht ungerecht, indem er forderte, was ihm zukam, aber er war unbarmherzig. Er war seinem Herrn ganz und gar unähnlich. Zehntausend Talente waren ihm erlassen worden, und dennoch konnte er seinen Mitknecht wegen hundert elender Denare ergreifen und würgen. Was war die Folge? Er wurde den Peinigern überliefert. Er verlor seinen Sinn für Gnade und musste durch das Behaupten seiner Rechte bittere Früchte ernten, während er selbst ein Gegenstand der Gnade war. Beachten wir außerdem, dass er ein „böser Knecht“ genannt wird, und zwar nicht weil er „zehntausend Talente“ schuldete, sondern weil er die „hundert Denare“ nicht erlassen hatte. Dieses Gleichnis redet ernst zu allen Christen, die sich in Prozesse verwickeln, denn obwohl in seiner Anwendung gesagt wird: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergebt“, so hat doch der Grundsatz allgemeine Anwendung, dass jeder, der nach dem Maßstab der Gerechtigkeit handelt, das Bewusstsein der Gnade verlieren wird.
In Hebräer 9 begegnen wir einer anderen Bedeutung des Wortes „vollkommen“, und auch hier erklärt der Zusammenhang die Bedeutung. Dort geht es um Vollkommenheit bezüglich des „Gewissens“ (vgl. Vers 9). Der Anbeter unter dem Gesetz konnte nie ein vollkommenes Gewissen haben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er nie ein vollkommenes Opfer besaß. Das Blut eines Stieres oder eines Bockes konnte nicht die „Sünden wegnehmen“, und sein Wert war nur für eine Zeit, nicht aber für immer, so dass es niemals ein vollkommenes Gewissen geben konnte. Jetzt aber besitzt der schwächste Gläubige das Vorrecht, ein vollkommenes Gewissen zu haben. Warum? Ist er besser als der Anbeter unter dem Gesetz? Nein, aber er hat ein besseres Opfer. Wenn das Opfer Christi vollkommen, und zwar für immer vollkommen ist, dann ist auch das Gewissen des Gläubigen für immer vollkommen (vgl. V. 9–11.25.26; Kap. 10,14). Ein unvollkommenes Gewissen bei einem Christen wäre eine Unehre für das Opfer Christi, denn es würde bedeuten, dass dieses Opfer in seiner Wirkung nur zeitlich und nicht ewig wäre. Dadurch aber würde das Opfer Christi zu den Opfern unter der mosaischen Haushaltung erniedrigt werden. Jedoch ist es nötig, zwischen der Vollkommenheit im Fleisch und der Vollkommenheit bezüglich des Gewissens zu unterscheiden. Das Erste sich anzumaßen, ist Selbstüberhebung, das Zweite zu verneinen, ist eine Verunehrung Christi. Das Kindlein in Christus sollte ein vollkommenes Gewissen haben, während ein Paulus vollkommenes Fleisch weder hatte noch haben konnte. Das Fleisch wird in der Heiligen Schrift nicht als etwas dargestellt, das vollkommen gemacht, sondern das gekreuzigt werden sollte. Der Unterschied ist schwerwiegend. Der Christ hat Sünde in sich, aber nicht auf sich. Warum? Weil Christus, der keine Sünde in sich hatte, die Sünde auf sich nahm, als Er ans Kreuz genagelt wurde.
Schließlich wird das Wort „vollkommen“ in Philipper 3,15 noch in einem anderen Sinn angewandt. Paulus sagt dort: „So viele nun vollkommen sind, lasst uns so gesinnt sein“. Die hier genannte Vollkommenheit haben alle die erlangt, die ihre neue, unveränderliche Stellung in Christus durch den Glauben eingenommen haben, und von Christus, ihrem alles beherrschenden Gegenstand, durchdrungen sind.
Der erste Vers dieses Kapitels ist sehr bedeutungsvoll. Es ist klar, dass Abraham nicht vor dem Allmächtigen wandelte, als er den Vorschlag Saras bezüglich Hagar annahm. Der Glaube allein macht fähig, sich vor dem Angesicht des Allmächtigen frei zu bewegen, während der Unglaube immer das Ich, die Umstände und ähnliche Dinge in Betracht zieht und uns dadurch Freude und Frieden, Ruhe und heilige Unabhängigkeit raubt, die das Teil dessen sind, der sich allein auf den Allmächtigen stützt.
„Wandle vor mir!“ Vor dem Angesicht Gottes wandeln ist wahre Kraft und schließt ein, dass das Herz mit nichts anderem als mit Gott selbst beschäftigt ist. Wenn ich meine Erwartungen auf das Geschöpf, auf Menschen und Dinge setze, so wandle ich nicht vor Gott, sondern vor dem Geschöpf. Es ist wichtig, sich darüber klar zu sein, wer oder was der Gegenstand ist, der vor meinem Herzen steht. Auf was ist in diesem Augenblick mein Auge gerichtet, und auf wen stütze ich mich? Füllt Gott meine Zukunft aus, oder mischen sich Menschen oder Umstände in gewissem Maß darein? Durch Glauben wandeln ist das einzige Mittel, sich über die Welt zu erheben, weil der Glaube die Szene so völlig mit Gott ausfüllt, dass für das Geschöpf und für die Welt kein Raum übrig bleibt. Wenn Gott meinen ganzen Gesichtskreis ausfüllt, verschwindet jeder andere Gegenstand, und ich kann mit dem Psalmisten sagen: „Nur auf Gott vertraue still meine Seele, denn von ihm kommt meine Erwartung. Nur er ist mein Fels und meine Rettung, meine hohe Feste; ich werde nicht wanken“ (Ps 62,6.7). Dieses Wörtchen „nur“ erforscht das Herz. Die Natur spricht anders. Freilich will sie Gott nicht ganz ausschließen, es sei denn, dass sie unter dem Einfluss eines gotteslästerlichen Skeptizismus steht, aber ihre Aufmerksamkeit und ihre Erwartung werden geteilt sein, sie kann nicht sagen: „Nur Er“.
Die Beschneidung
Es ist beachtenswert, dass Gott seine Herrlichkeit nicht mit dem Geschöpf teilen will, und zwar weder in dem Werk der Erlösung noch in den Einzelheiten unseres täglichen Lebens. Von Anfang bis Ende muss „nur Er“ es sein. Es genügt nicht, von der Abhängigkeit von Gott zu reden, während unser Herz sich in Wirklichkeit auf das Geschöpf stützt. Gott wird alles offenbar machen. Er wird das Herz prüfen und den Glauben in den Schmelzofen bringen. „Wandle vor meinem Angesicht und sei vollkommen!“ Das ist der Weg, um das wahre Ziel zu erreichen. Wenn die Seele durch die Wirkung der Gnade aufhört, ihre Erwartungen auf das Geschöpf zu setzen, dann und nur dann besitzt sie die Fähigkeit, Gott handeln zu lassen, und wenn Er handelt, muss alles gut werden. Er lässt nichts unvollendet. Er ordnet alles für die, die ihr Vertrauen auf ihn setzen. Wenn eine nie irrende Weisheit, eine allmächtige Kraft und eine unendliche Liebe sich miteinander vereinigen, kann sich das vertrauende Herz einer ungestörten Ruhe erfreuen. Wir haben keine Ursache, auch nur im Geringsten besorgt zu sein, es sei denn, wir könnten irgendeinen Umstand aufweisen, der zu groß oder zu klein für den „allmächtigen Gott“ wäre. Das ist eine erstaunliche Wahrheit, die jeden Gläubigen in die gesegnete Stellung versetzen kann, in der wir Abraham in diesem Kapitel finden. Als Gott ihm gleichsam gesagt hatte: Überlasse mir alles, und ich werde über deine kühnsten Wünsche und Hoffnungen hinaus für alles Sorge tragen; die Nachkommen, das Erbteil und alles, was dazu gehört, wird vollkommen und für ewig gesichert sein gemäß dem Bund des allmächtigen Gottes – „da fiel Abram auf sein Angesicht“ (V. 3). Das ist wirklich eine gesegnete Stellung, die einzig passende für einen schwachen, wertlosen Sünder in der Gegenwart des lebendigen Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde, des Besitzers aller Dinge, des „allmächtigen Gottes“!
„Und Gott redete mit ihm“ (V. 3). Wenn der Mensch im Staub liegt, dann kann Gott in Gnade mit ihm reden. Diese Stellung Abrahams ist der schöne Ausdruck wahrer Demütigung in der Gegenwart Gottes. Er fühlt seine Schwachheit und sein Nichts, und dies geht stets der Offenbarung Gottes voraus. Wenn das Geschöpf vor ihm am Boden liegt, kann Gott sich in dem Glanz seines Wesens zeigen. Er wird seine Ehre keinem anderen geben. Er kann sich offenbaren und dem Menschen erlauben, angesichts dieser Offenbarung anzubeten, aber bevor der Mensch den ihm gebührenden Platz einnimmt, kann Gott seinen Charakter nicht entfalten. Wie anders ist die Haltung Abrahams in diesem Kapitel als in dem Vorigen! Dort hatte er die Natur vor sich, hier ist er in der Gegenwart des allmächtigen Gottes. Dort handelte er, hier betet er an. Dort nahm er seine Zuflucht zu seinen Berechnungen und zu den Vorschlägen Saras, hier überlässt er sich und seine Umstände, seine Gegenwart und seine Zukunft den Händen Gottes und gestattet ihm, in ihm, für ihn und durch ihn zu handeln. Daher kann Gott sagen: „Ich werde machen“ – „ich werde errichten“ – „ich werde geben“ – „ich werde segnen“. Mit einem Wort, Gott ist da, um zu handeln, und das gibt dem Herzen, das sich ein wenig kennengelernt hat, wahre Ruhe.
Nun wird der Bund der Beschneidung eingeführt. Jedes Glied der Haushaltung des Glaubens musste an seinem Leib das Siegel des Bundes tragen. „Alles Männliche bei euch soll beschnitten werden …Beschnitten werden muss dein Hausgeborener und der für dein Geld Erkaufte. Und mein Bund soll an eurem Fleisch sein als ein ewiger Bund. Und der unbeschnittene Männliche, der am Fleisch seiner Vorhaut nicht beschnitten wird, diese Seele soll ausgerottet werden aus ihrem Volk. Meinen Bund hat er gebrochen!“ (V. 12–14). Das 4. Kapitel des Römerbriefes sagt uns, dass die Beschneidung das „Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens“ war. „Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“ (Röm 4,11.3). Und nachdem ihm auf diese Weise die Gerechtigkeit zugerechnet worden war, drückte Gott ihm sein „Siegel“ auf.
Das Siegel, mit dem der Gläubige jetzt versiegelt ist, ist nicht ein Zeichen am Fleisch, sondern „der Heilige Geist Gottes, durch den er versiegelt worden ist auf den Tag der Erlösung „ (vgl. Eph 4,30). Diese Versiegelung ist auf die ewige Vereinigung des Gläubigen mit Christus und auf seine vollkommene Einsmachung mit ihm in Tod und Auferstehung gegründet, wie wir in Kolosser 2,10–13 lesen. „Und ihr seid vollendet in ihm, der das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist; in dem ihr auch beschnitten worden seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Christus, mit ihm begraben in der Taufe, in der ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat. Und euch, als ihr tot wart in den Vergehungen und in der Vorhaut eures Fleisches, hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat“. Diese herrliche Stelle gibt uns Aufschluss über die bildliche Bedeutung der Beschneidung. Jeder Gläubige gehört zur „Beschneidung“ durch seine lebendige Verbindung mit ihm, der durch sein Kreuz für immer alles beseitigt hat, was der vollkommenen Rechtfertigung seiner Versammlung im Weg stand. Es gibt keinen einzigen Flecken von Sünde auf dem Gewissen der Seinen noch irgendeine Sünde in ihrer Natur, wofür Christus nicht am Kreuz gerichtet worden wäre. Und jetzt werden die Gläubigen als solche betrachtet, die mit Christus gestorben, mit ihm begraben, mit ihm auferweckt und in ihm angenehm gemacht sind, indem ihre Sünden, ihre Ungerechtigkeiten, ihre Vergehungen, ihre Feindschaft, ihre Nichtbeschneidung durch das Kreuz völlig weggetan worden sind. Das Urteil des Todes ist auf das Fleisch geschrieben worden, aber der Gläubige besitzt neues Leben durch die Vereinigung mit seinem auferstandenen Haupt in der Herrlichkeit.
In der soeben angeführten Stelle zeigt uns der Apostel, dass die Versammlung sozusagen aus dem Grab Christi heraus lebendig gemacht worden ist, und außerdem, dass die Vergebung ihrer Sünden ebenso vollkommen und genauso vollständig das Werk Gottes ist, wie es die Auferweckung Christi aus den Toten war. Nun aber wissen wir, dass die Auferweckung Christi das Ergebnis der Macht Gottes war, dass sie sich vollzog „nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke“ (s. Eph 1,19). Was für ein Ausdruck, um die Größe und Herrlichkeit der Erlösung sowie die feste Grundlage zu beschreiben, auf der sie ruht!
Welch eine vollkommene Ruhe gibt es hier für Herz und Gewissen! Welch eine völlige Befreiung für eine belastete Seele! Alle unsere Sünden, selbst die kleinste ist nicht ausgenommen, liegen begraben in dem Grab Christi! Das tat Gott für uns! Alle Ungerechtigkeiten, die Er an uns entdecken konnte, hat Er auf das Haupt Christi gelegt, als dieser am Kreuz hing. Dort am Kreuz richtete Er Christus, anstatt uns zu ewigen Qualen der Hölle zu verurteilen. Das sind die kostbaren Früchte der ewigen Ratschlüsse der erlösenden Liebe. Und wir sind nicht durch ein äußeres, in unser Fleisch eingeschnittenes Zeichen „versiegelt“, sondern durch den Heiligen Geist, und mit diesem Siegel ist der ganze Haushalt des Glaubens versiegelt. Das Blut Christi hat einen so unermesslichen Wert eine so unveränderliche Kraft, dass der Heilige Geist Wohnung machen kann in allen denen, die ihr Vertrauen auf dieses Blut gesetzt haben.