Betrachtungen über das erste Buch Mose
Die Schlacht der Könige
Dieses Kapitel berichtet uns die Geschichte der Empörung von fünf Königen gegen Kedorlaomer und der daraus entstehenden Schlacht. Der Heilige Geist kann sich mit den Bewegungen der Könige und ihrer Heere beschäftigen, wenn sie in irgendeiner Weise mit dem Volk Gottes in Berührung kommen. Abraham war nicht persönlich in diese Empörung und ihre Folgen verwickelt. Sein Zelt und sein Altar konnten weder Anlass zu einer Kriegserklärung bieten, noch standen sie in Gefahr, durch den Ausbruch oder den Ausgang des Streites berührt zu werden. Wie könnte auch der Besitz eines himmlischen Menschen die Habsucht oder den Ehrgeiz der Könige und Eroberer dieser Welt reizen? Wenn auch Abraham nicht durch die Schlacht der „vier Könige gegen die fünf“ berührt wurde, so war es mit Lot doch anders. Seine Stellung war so, dass sie ihn in die ganze Angelegenheit verwickelte. Solange wir durch die Gnade den Weg des Glaubens gehen, befinden wir uns außerhalb des Bereiches der Umstände, die diese Welt erschüttern. Wenn wir aber unsere hohe Stellung als solche, deren „Bürgertum in den Himmeln ist“ (Phil 3,20), verlassen und einen Namen, einen Platz und ein Teil auf der Erde suchen, müssen wir auch damit rechnen, von den Erschütterungen und Wandlungen dieser Welt berührt zu werden. Lot hatte sich in den Ebenen Sodoms niedergelassen, und folglich wurde er auch durch die Kriege Sodoms schwer betroffen. Es wird bitter und schmerzlich werden für ein Kind Gottes, wenn es mit den Kindern dieser Welt in Verbindung tritt. Nicht nur seine Seele, sondern auch das Zeugnis, das Gott ihm anvertraut hat, leidet ernsten Schaden. Welches Zeugnis konnte Lot in Sodom ablegen? Bestenfalls ein äußerst schwaches. Schon die Tatsache, dass er sich an diesem Ort angesiedelt hatte, gab seinem Zeugnis den Todesstoß. Jedes Wort gegen Sodom und gegen das gottlose Leben seiner Bewohner wäre ein gegen ihn selbst gerichtetes Urteil gewesen, denn warum war er dort? Es scheint jedoch überhaupt nicht, dass er beim Aufschlagen seiner Zelte „bis nach Sodom“ je die Absicht gehabt hat, für Gott ein Zeugnis abzulegen. Persönliche und Familien-Interessen bildeten ohne Zweifel die Triebfeder seines Handelns, und obwohl Petrus uns sagt, dass „der unter ihnen wohnende Gerechte durch das, was er sah und hörte, Tag für Tag seine gerechte Seele mit ihren gesetzlosen Werken quälte“, so ist es doch deutlich, dass er, selbst wenn er gewollt hätte, wenig Kraft besitzen konnte, um diese „gesetzlosen Werke“ zu strafen (2. Pet 2,8).
Wir sehen also, dass wir niemals von zwei Absichten zugleich geleitet werden können. Ich kann z. B. nicht zu gleicher Zeit meine zeitlichen Interessen und die des Evangeliums Christi verfolgen. Wenn ich irgendwohin gehe, um Geschäfte zu machen, so ist das Geschäft mein Zweck und nicht die Verkündigung des Evangeliums. Freilich kann ich mir vornehmen, meine Geschäfte zu besorgen und zugleich das Evangelium zu predigen, aber es ist klar, dass das eine oder das andere mein Zweck sein muss. Das bedeutet nicht, dass ein Diener Christi nicht segensreich das Evangelium predigen und zugleich sein Geschäft betreiben kann, aber in diesem Fall wird nicht das Geschäft, sondern das Evangelium der eigentliche Zweck sein, der ihn leitet. Paulus predigte das Evangelium und machte auch Zelte. Jedoch nicht die Herstellung der Zelte, sondern die Verkündigung des Evangeliums war sein Zweck. Wenn ich meine Geschäfte im Auge habe, wird meine Predigt bald zu fruchtloser Formsache, selbst dann, wenn ich sie nicht dazu benutze, meine Habsucht zu heiligen. Das Herz ist sehr trügerisch und täuscht uns oft in erstaunlicher Weise, wenn wir einen bestimmten Zweck erreichen wollen. Es wird sehr glaubhafte Gründe für unser Handeln finden, bis die Augen unseres Verstandes verdunkelt sind durch persönliche Interessen oder durch einen nicht gerichteten Eigenwillen und den wahren Charakter dieser Scheingründe nicht mehr erkennen. Wie oft begegnet man Personen, die ihre falsche Stellung zwar erkannt haben, sich aber damit rechtfertigen, dass ihnen diese Stellung einen weiteren Wirkungskreis eröffnet. Die einzige Antwort Gottes auf solche Ausflüchte ist: „Siehe, Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, Aufmerken besser als das Fett der Widder“ (1. Sam 15,22). Beweist nicht die Geschichte Abrahams und Lots zur Genüge, dass wir der Welt am besten dienen, wenn unsere Trennung von ihr gewissenhaft und unser Zeugnis aufrichtig ist?
Abrams Einsatz und die Rettung Lots
Wir können uns nicht oft genug daran erinnern, dass wahre Absonderung von der Welt nur das Ergebnis der Gemeinschaft mit Gott sein kann. Ich mag mich von der Welt trennen und wie ein Mönch oder Einsiedler mich selbst zum Mittelpunkt meines Daseins machen, aber Absonderung für Gott ist etwas ganz anderes. Die eine Art der Absonderung erzeugt Kälte und Engherzigkeit, die andere Wärme und Weitherzigkeit. Die eine treibt uns zur Beschäftigung mit uns selbst, die andere lässt uns aus uns selbst heraustreten in tätiger Liebe und Teilnahme für andere. Die eine macht unser Ich und seine Interessen zu unserem Mittelpunkt, die andere gibt Gott und seiner Verherrlichung diesen Platz. So sehen wir bei Abraham, dass gerade seine Absonderung ihn fähig machte, dem einen wirkungsvollen Dienst zu erweisen, der durch seinen weltlichen Weg in Trübsal verwickelt war. „Als Abram hörte, dass sein Bruder gefangen weggeführt war, ließ er seine Geübten, seine Hausgeborenen, ausrücken, 318 Mann, und jagte ihnen nach bis nach Dan … Und er brachte alle Habe zurück; und auch Lot, seinen Bruder, und dessen Habe brachte er zurück, und auch die Frauen und das Volk“ (V. 14–16). Trotz allem Vorgefallenen war Lot der Bruder Abrahams, und die brüderliche Liebe musste handeln. „Ein Freund liebt zu aller Zeit, und als Bruder für die Drangsal wird er geboren“ (Spr 17,17), und es geschieht oft, dass eine Zeit der Not das Herz weich macht und uns zur Güte gegen die bewegt, von denen wir uns trennen mussten. Es ist bemerkenswert, dass wir in Vers 12 lesen: „Und sie nahmen Lot, Abrams Bruders Sohn“, aber in Vers 14 die Worte finden: „Und als Abram hörte, dass sein Bruder gefangen weggeführt war“. Der Notruf eines Bruders findet Antwort in der Liebe eines Bruderherzens. Das ist göttlich. Wahrer Glaube macht uns wohl unabhängig, nie aber gleichgültig. Es gibt drei Dinge, die der Glaube tut: er „reinigt das Herz“ (Apg 15,9), er „wirkt durch die Liebe“ (Gal 5,6), er „überwindet die Welt“ (1. Joh 5,4), und diese drei Ergebnisse des Glaubens zeigen sich bei dieser Gelegenheit bei Abraham in ihrer ganzen Schönheit. Sein Herz war gereinigt von der Befleckung Sodoms, er offenbarte eine aufrichtige Zuneigung zu Lot, seinem Bruder, und er trug einen vollständigen Sieg über die Könige davon. Das sind die kostbaren Früchte des Glaubens, dieses himmlischen Grundsatzes, der Christus verherrlicht.
Melchisedek und die Versuchung des Königs von Sodom
Aber auch der Mann des Glaubens ist nicht sicher vor den Angriffen des Feindes. Vielmehr stürmen oft unmittelbar nach einem Sieg neue Versuchungen auf ihn ein. So war es bei Abraham. „Und als er zurückgekehrt war, nachdem er Kedorlaomer und die Könige, die mit ihm waren, geschlagen hatte, zog der König von Sodom aus, ihm entgegen“ (V. 17). Dieses Ereignis barg offensichtlich eine listige Absicht des Feindes in sich. Der „König von Sodom“ stellt eine andere Seite der Macht des Feindes dar, die ganz verschieden ist von derjenigen, die wir in „Kedorlaomer und den Königen, „die mit ihm waren“, sehen. Während wir in Kedorlaomer das Brüllen des Löwen hören, lässt uns der König von Sodom das Zischen der Schlange vernehmen. Aber ob Abraham nun der Schlange oder dem Löwen begegnete, die Gnade des Herrn war völlig genügend, und diese Gnade handelte für den Diener Gottes gerade im Augenblick der Gefahr. „Und Melchisedek, König von Salem, brachte Brot und Wein heraus; und er war Priester Gottes, des Höchsten. Und er segnete ihn und sprach: Gesegnet sei Abram von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt! Und gepriesen sei Gott, der Höchste, der Deine Feinde in deine Hand geliefert hat!“ (V. 18–20). Beachten wir zunächst den Zeitpunkt, da Melchisedek erscheint, und dann die doppelte Wirkung seines Dienstes. Er kam Abraham nicht entgegen, als er bei der Verfolgung Kedorlaomers war, sondern als Abraham von dem König von Sodom verfolgt wurde. Das ist ein sehr großer Unterschied. Um einen Kampf aufnehmen zu können, der einen gefährlicheren Charakter hatte, als der soeben bestandene, war für Abraham eine noch tiefere Gemeinschaft mit Gott notwendig. „Brot und Wein“ Melchisedeks erfrischten nach dem Kampf mit Kedorlaomer die Seele Abrahams, während der Segen sein Herz für den Kampf stärkte, den er gegen den König von Sodom zu bestehen hatte.
Es ist besonders schön, zu sehen, wie Melchisedek Abraham gegenüber von Gott redet. Er nennt ihn „Gott, den Höchsten, der Himmel und Erde besitzt“, und verkündet Abraham zugleich, dass er von diesem Gott „gesegnet“ sei. Das war eine wirksame Vorbereitung für das Zusammentreffen mit dem König von Sodom. Ein von Gott gesegneter Mensch brauchte nicht was ihm der Feind anzubieten hatte, und wenn „der Besitzer des Himmels und der Erde“ seinen Gesichtskreis ausfüllte, so konnte die „Habe“ Sodoms nur wenig Reiz für ihn haben. Daher überrascht es uns nicht, dass Abraham, als der König von Sodom ihm den Vorschlag machte: „Gib mir die Seelen, und die Habe nimm für dich“ (V. 21), die Antwort gab: „Ich hebe meine Hand auf zu dem HERRN, zu Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt: Wenn vom Faden bis zum Schuhriemen, ja, wenn ich irgendetwas nehme von dem, was dein ist! – damit du nicht sagst: Ich habe Abram reich gemacht“ (V. 22.23). Abraham weigerte sich, durch den König von Sodom bereichert zu werden. Wie hätte er auch denken dürfen, Lot von der Macht dieser Welt zu befreien, wenn er sich selbst durch sie hätte beherrschen lassen! Ich kann meinen Nächsten nur dann befreien, wenn ich selbst völlig frei bin. So lange ich mich selbst im Feuer befinde, kann ich unmöglich einen anderen herausreißen. Der Weg der Absonderung für Gott ist der Weg der Kraft, und zugleich der Pfad des Friedens und des Segens.
Die Welt in ihren verschiedenen Formen ist das große Werkzeug, das Satan benutzt, um die Hände des Dieners Christi zu lähmen und seine Zuneigungen erkalten zu lassen. Aber, Gott sei gepriesen! Wenn das Herz aufrichtig ist, naht der Herr stets zur rechten Stunde, um zu erfreuen, zu ermutigen und zu stärken. „Denn des HERRN Augen durchlaufen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist“ (2. Chr 16,9). Das ist eine ermutigende Wahrheit für unsere armen, ängstlichen und zweifelnden Herzen. Christus will unsere Stärke und unser Schild sein. „Er unterweist meine Hände zum Kampf, meine Finger zum Krieg“ (Ps 144,1). Er beschirmt das Haupt der Seinen „am Tag der Waffen“ (Ps 140,8), und Er wird „in kurzem den Satan unter unsere Füße zertreten“ (Röm 16,20). Möge der Herr unsere Herzen in dieser versuchungsreichen Welt treu für ihn erhalten!