Die Feste des Herrn im Lichte des Evangeliums
Der große Versöhnungstag
Gott wird indessen nicht nur sein Volk Israel mit starkem Posaunenschall sammeln, Er wird es auch, wenn es erst wieder im Lande der Väter ist, unter „Kasteiung“ der Seele und vielem Wehklagen erkennen lassen, dass es der Versöhnung bedarf (Sach 12,10). Darum folgt vorbildlich in der Reihe der Feste auf das „Fest des Posaunenhalls“ als weiteres Fest sogleich der große Versöhnungstag.
Jom Kippur, der Versöhnungstag, war für Israel der wichtigste und feierlichste Tag des Jahres. In 3. Mose 23, noch völliger aber in 3. Mose 16, finden wir, welche Opfer und sonstige Verrichtungen für diesen Tag den Israeliten vorgeschrieben waren. Wir lesen:
„Doch am zehnten dieses siebenten Monats ist der Versöhnungstag; eine heilige Versammlung soll euch sein, und ihr sollt eure Seelen kasteien und sollt Jehova ein Feueropfer darbringen. Und keinerlei Arbeit sollt ihr tun an diesem selbigen Tage; denn es ist der Versöhnungstag, um Sühnung für euch zu tun vor Jehova, eurem Gott. Denn jede Seele, die sich nicht kasteit an diesem selbigen Tage, die soll ausgerottet werden aus ihren Völkern; und jede Seele, die irgendeine Arbeit tut an diesem selbigen Tage, selbige Seele werde ich vertilgen aus der Mitte ihres Volkes. Keinerlei Arbeit sollt ihr tun [...] Ein Sabbat der Ruhe soll er für euch sein, und ihr sollt eure Seelen kasteien; am Neunten des Monats, am Abend, vom Abend bis zum Abend, sollt ihr euren Sabbat feiern“ (3. Mo 23,26–32).
Drei Dinge wurden also von Jehova von seinem Volke gefordert: Sühnung, Kasteiung (Seelenbetrübnis), Ruhe.
Sühnung oder Versöhnung – welch ernstes Wort! Gott ist heilig, der Mensch aber ist ein Sünder; er muss mit Gott versöhnt und seine Schuld muss gesühnt und getilgt werden. Anders wird ihn Gottes gerechtes Gericht treffen. Keinem Volke hatte Gott dies in alter Zeit so wie seinem Volke Israel durch sein Wort und seine heiligen Gebote und Feste klar kundgetan.
Hören wir nun, was Gott, vorbildlich auf die große und vollkommene Erlösung und Versöhnung, die allein in dem Opfer Jesu Christi zu finden ist, in 3. Mose 16 am Versöhnungstage Israels hinsichtlich der Opfer angeordnet hatte! Und sollte einer unserer Leser sich noch nicht des hohen Glücks der Vergebung seiner Sünden erfreuen, so schenke ihm Gott Gnade, dass er bei der Betrachtung dieser Vorbilder und ihrer Erfüllung in dem Opfer von Golgatha Frieden mit Gott finde!
Der Hohepriester musste an jenem hohen Festtage, ehe er sich anschicken durfte, die Sünden des Volkes durch die nötigen Opfer zu sühnen, für seine eigenen Sünden und die Sünden seines Hauses ein Sühnopfer bringen. Überdies musste er sich ganz in Wasser baden und Kleider anlegen von weißem Linnen. Durch dieses Bad und die Bekleidung von weißem Linnen, wie durch das Opfer eines jungen Farren als Sündopfer und eines Widders als Brandopfer für sich und sein Haus, wurde der Hohepriester erst ein passendes Vorbild von Jesus Christus, unserem heiligen Versöhner und Hohenpriester. Der Herr Jesus, unser großer Mittler und Erlöser, war in sich selbst fleckenlos rein und heilig; der Hohepriester in Israel war das nicht. Sollte er nun wenigstens äußerlich in seiner Person ein entsprechendes Vorbild des Herrn Jesus sein, „der sich selbst durch den ewigen Geist Gott ohne Flecken geopfert hat“, so musste er sich zuerst ganz baden, völlig in weißes Linnen kleiden und für seine eigenen Sünden opfern, ehe er daran denken konnte, vor Gott für das Volk einzustehen.
Wir lesen in 3. Mose 16,5: „Von der Gemeinde der Kinder Israel soll er (der Hohepriester) zwei Ziegenböcke nehmen zum Sündopfer und einen Widder zum Brandopfer.“ Hier nun wird die Handlung bzw. die Anweisung, was mit diesen Opfern zu tun sei, unterbrochen, und dem Hohenpriester wird in Vers 6 gesagt, dass er erst für sich einen Farren darbringen solle als Sündopfer, um Sühnung zu tun für sich und sein Haus. Hierauf lesen wir weiter: „Und er soll die zwei Böcke nehmen und sie vor Jehova stellen an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft. Und Aaron soll Lose werfen über die zwei Böcke, ein Los für Jehova und ein Los für Asasel. 1 Und Aaron soll den Bock herzubringen, auf welchen das Los für Jehova gefallen ist, und ihn opfern als Sündopfer“ (3. Mo 16,7–9).
Das Blut dieses Sündopfers für das Volk wurde, wie auch zuvor das Blut des Sündopfers für den Hohenpriester, von diesem in goldener Schale und von Weihrauch umhüllt hinter den Vorhang ins Allerheiligste getragen. Dort stand die mit Gold überzogene Bundeslade vor Gottes Angesicht. Auf diese Bundeslade nun, über welcher eine lichte Wolke schwebte als sichtbares Zeichen der Wohnung und Gegenwart Gottes, wurde von dem Blute des Sündopfers hingesprengt, wie auch siebenmal vor die Bundeslade. Hier am Fuße des mit Blut besprengten Gnadenthrones Gottes begegneten sich so der heilige Gott und das sündige Volk, für welches der Hohepriester dastand und eintrat. Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit, die durch die Sünde des Volkes verletzt worden war, fand in dem Blute des Versöhnungsopfers die gerechte Anerkennung und Sühne für die Schuld. Gott war durch die Sünden verunehrt, seine Autorität schnöde verletzt, sein Gesetz und Wille übertreten, seine Ehre in den Staub getreten worden. Konnte Gott nach seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit zu den Sünden schweigen? Nein. Gott wäre nicht Gott, wenn er die Sünde nicht strafte in gerechtem Gericht. Aber in dem Tod und Blute des reinen Opfertieres, das hinwies auf den Erlöser, der kommen sollte, lag die gerechte Sühnung der ganzen Schuld. Und in dem Blute, das einmal im Jahr, am großen Versöhnungstag, ins Allerheiligste, also in Gottes Gegenwart getragen wurde, legte der Hohepriester nach Gottes gnadenvoller Anordnung wieder für ein neues Jahr die Grundlage, auf welcher Gott in Gnade und Erbarmen, unbeschadet seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, seinem sündigen Volke vergeben und es tragen konnte.
Hatte nun der Hohepriester das Blut des Bockes für Jehova ins Allerheiligste vor Gottes Angesicht getragen, so trat er heraus zu dem im Vorhof stehenden zweiten Bock „Asasel“, legte auf dessen Kopf seine beiden Hände und bekannte auf ihn „alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden“ (3. Mo 16,20.21).
Wie wunderbar und vollkommen war also dieses Vorbild von dem großen Werke der Versöhnung auf Golgatha! Denn dreimal lesen wir hier das Wörtchen „alle“: „alle Ungerechtigkeiten“, „alle Übertretungen“, „alle Sünden“. Dann wurde dieser Bock durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste, in ein ödes Land gejagt. Mit dem Tier wurden so gleichsam alle Sünden vom Volk abgewandt, wie der Name Asasel sagt, und in der Einöde einer ewigen Vergessenheit übergeben. So sagt der Psalmist: „So weit der Osten ist vom Westen, hat er von uns entfernt unsere Übertretungen“ (Ps 103,12).
So wurde an jenem denkwürdigen und bedeutungsvollen Versöhnungstage in Israel jedes Mal – wenn auch nur in einem Schatten und Vorbild – sowohl den Forderungen Gottes hinsichtlich seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit Genüge getan als auch den Bedürfnissen der Sünder völlig entsprochen und ihre Schuld gesühnt. 2
Wenden wir uns nun zu den Belehrungen des Neuen Testamentes, besonders im Hebräerbrief, der, wie der Name schon sagt, an die Christen aus Israel gerichtet war, um die Größe des Opfers Jesu Christi, des Sohnes Gottes, und die Fülle ihres und unseres Heils in ihm zu erkennen, wovon die Opfer und Verordnungen am großen Versöhnungstage so deutliche Vorbilder waren.
Der Hebräerbrief beginnt zunächst damit, dass er uns sagt: „Nachdem Gott vielfältig und auf vielerlei Weise (nämlich durch die vielen Weissagungen und mancherlei Vorbilder) ehemals zu den Vätern geredet hat, hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohne“, d.i. in der Person des Sohnes. Und nachdem die Größe und Überlegenheit des Sohnes Gottes gegenüber den Propheten und Engeln und der Schöpfung und seinen „Genossen“ (Heb 1) gezeigt worden ist, wie auch gegenüber Moses und Josua und Aaron (in Heb 3–6), hören wir, dass Christus ein Hoherpriester geworden ist nach der Ordnung Melchisedeks, der König und Priester zugleich war und ohne Vorgänger und ohne Nachfolger gewesen ist. Weiter hören wir, dass Christus als Hoherpriester „heilig und unschuldig und von den Sündern abgesondert“ war, weshalb der Hohepriester im Alten Bunde, wie wir sahen, sich baden und in weißes Linnen kleiden musste, weil er es nicht war und so erst ein passendes Vorbild von Christus wurde (Heb 7,26). Und im schönen Anschluss hieran wird uns gleich darauf mitgeteilt, dass Christus auch ferner nicht, wie der Hohepriester im Alten Bunde, nötig hatte „zuerst für die eigenen Sünden zu opfern, sodann für die des Volkes; denn dieses hat er ein für allemal getan, als er sich selbst geopfert hat“ (Heb 7,27).
Nachdem uns in den ersten acht Kapiteln des Hebräerbriefes die Größe und Herrlichkeit der Person unseres Hohenpriesters vorgestellt wurde, welcher der Sohn Gottes ist, „der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln“ (Heb 7 28; 8,1), wird uns in den Kapiteln 9 und 10 die Größe seines Werkes bzw. Opfers gezeigt.
Hier hören wir: „Christus aber, gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter [...] nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blute, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden – d.h. zustande gebracht – hatte“ (Heb 9,11.12).
Und weiter: „Wie viel mehr wird das Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen reinigen von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen! 3 Und darum ist er Mittler eines neuen Bundes, damit [...] die Berufenen die Verheißung des ewigen Erbes empfingen“ (Heb 9,11–15).
Alles, was mit dem großen und vollkommenen Opfer unseres Herrn und Heilandes in Verbindung steht, ist ewig. Es ist eine ewige Erlösung, wie wir oben hörten, die er uns durch seinen Tod bereitet hat; er hat sich „durch den ewigen Geist“ Gott geopfert und uns dadurch „ein ewiges Erbe“ erworben. Und früher schon hörten wir, „dass er allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden ist“ (Heb 5,9).
Die Kapitel 9 und 10 des gleichen Briefes, welche in besonderer Weise mit ihren Belehrungen auf die Vorbilder und Handlungen am großen Versöhnungstage Bezug nehmen, geben uns noch weitere Unterweisung über die Größe des Werkes und ewig vollgültigen Opfers Christi. So lesen wir dort: „Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum (d.h. also nicht in das Allerheiligste des Tempels oder der Stiftshütte auf Erden), ein Gegenbild des wahrhaftigen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes für uns zu erscheinen“ (Heb 9,24).
Und im 10. Kapitel hören wir, dass Gott dann wunderbar geantwortet und uns herrliche, klare Zeugnisse gegeben hat von der Vollkommenheit des Opfers seines Sohnes. Denn Gottes Sohn hat sich, nachdem er mit seinem eigenen Blut in das Allerheiligste droben im Himmel eingetreten ist -im Gegensatz zu den Hohenpriestern, die mit fremdem Blute, mit dem Blute von Tieren, das keine Sünden hinwegzunehmen vermochte, und in ein Heiligtum auf Erden traten –, droben auf immerdar zur Rechten Gottes „gesetzt“ zum Zeichen, dass das Werk der Versöhnung nun auf ewig beendet und vollendet ist, während die Hohenpriester im Alten Bunde im Heiligtum stets „stehen“ mussten, denn ihr Werk war nie beendet; es bedurfte einer alljährlichen Erneuerung und Wiederholung (Heb 10,3–13). Aber jetzt hören wir: „Mit einem Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Heb 10,14).
Hier haben wir das zweite „auf immerdar“. „Auf immerdar“ hat sich Christus zur Rechten Gottes gesetzt, und „auf immerdar“ sind wir, die Glaubenden, die durch den Glauben an ihn geheiligt sind 4, vor Gott vollkommen gemacht. Diesem doppelten „auf immerdar“ steht dann als weiterer Gegensatz zu dem Vorbilde am großen Versöhnungstage ein kostbares „nie mehr“ zur Seite. Wir lesen nämlich: „Ihrer (d.h. der Gläubigen) Sünden und Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken“ (Heb 10,17).
Im Alten Bunde trug ein Bock „Asasel“ (der Abwendung), nachdem das Blut des anderen Bockes ins Allerheiligste getragen worden, alle Sünden des Volkes auf seinem Kopfe hinaus in die weite Wüste. Das war ein schönes Zeugnis; aber wie gering doch gegenüber dem Zeugnis des Heiligen Geistes, der, nachdem Jesus Christus droben mit seinem Blut ins wahrhaftige Heiligtum eingegangen und von Gott begrüßt worden ist als Hoherpriester (Heb 5,10), herabkam auf diese Erde und nun in den Herzen der Gläubigen wohnt und ihnen überdies auch schriftlich das Zeugnis gibt, dass Gott nunmehr ihrer Sünden und Gesetzlosigkeiten nie mehr gedenkt.
Wir haben in diesem Abschnitt die gemeinsame Tätigkeit des dreieinigen Gottes in unserer Erlösung bezeugt 5; denn wir lesen zuerst von „Gottes (des Vaters) Willen“ (Heb 10,7.9), den der Sohn uns zum Heil durch sein Opfer vollbracht hat (Heb 10,10.14), und zuletzt das Zeugnis des Heiligen Geistes (Heb 10,15–17).
Auf Grund dieses wunderbaren und ewig vollkommenen Erlösungswerkes des dreieinigen Gottes hören wir dann ein neues „Lasst uns!“, das wir so oft im Hebräerbrief finden. Wir lesen: „Da wir nun, Brüder, Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum (droben) durch das Blut Jesu, auf dem neuen und lebendigen Weg, welchen er uns eingeweiht hat durch den Vorhang hin, das ist sein Fleisch, und einen großen Priester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und also gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser!“ (Heb 10,19–22).
So oft auch der große Versöhnungstag in Israel gefeiert worden sein mag, so blieb doch der schwere bedeutungsvolle Vorhang vor dem Allerheiligsten, wo eine lichte Wolke die Wohnung und Nähe Gottes anzeigte. Dieser beeindruckende Vorhang mit den Cherubim, die in ihn eingewirkt waren, rief, wie der Cherub, der einst mit flammendem Schwerte dem gefallenen Menschen den Zugang zu Gott wehrte, trotz aller Opfer und all des Blutes, das aus goldener Schale vor und auf die Bundeslade gesprengt worden war, dem Volke gleichsam zu: „Zurück! Gott und der Mensch sind noch immer durch die Sünde geschieden. Gott ist drinnen, und der Mensch ist draußen.“ Der Vorhang blieb.
Das Blut der reinen Opfertiere, das einmal im Jahre, am großen Versöhnungstage, von dem Hohenpriester ins Allerheiligste getragen wurde, vermochte das Gewissen des Opfernden nicht vollkommen zu machen, nicht in die lichte Gegenwart Gottes hineinzuführen; er musste draußen bleiben. Und Gott seinerseits konnte nicht auf Grund jenes Blutes von Stieren und Böcken herauskommen, um sein Volk zu segnen. Gott war drinnen, das Volk war draußen; der Vorhang blieb.
Aber Gott sei ewig gepriesen! Das ist anders geworden. Als Jesus Christus sich durch den ewigen Geist Gott ohne Flecken opferte, als unser hochgelobter Herr und Heiland, der einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden ist zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer (Heb 9,26), am Kreuze auf Golgatha sein Blut vergoss und sein Haupt im Tode neigte mit den Worten: „Es ist vollbracht!“, da zerriss der Vorhang vom Himmel aus auf Erden, ja er riss „von oben bis unten“, und nicht umgekehrt (Mt 27,51; Mk 15,38). Zerrissen ist er auf Grund des teuren Blutes Christi, das für unsere Sünden ein für allemal floss, in dessen Wert Christus in das Allerheiligste droben ging vor Gottes Angesicht; zerrissen ist die Scheidewand mitsamt den Bildern von den Cherubim, die dem Menschen, der Gott nahen wollte, den Weg vertraten. Gott selbst ruft uns nun allen zu, die wir unter dem Schutz dieses Blutes stehen: „Tretet nun herzu mit Freimütigkeit!“
Ja, mit göttlicher Freimütigkeit darf der Gläubige in Gottes lichte, heilige und glückselige Gegenwart ohne Furcht und Tadel treten und dort auch stehen und bleiben. Durch das Blut Jesu ist der Gläubige gereinigt und mit Gott in Beziehung gebracht worden; und durch den „großen Priester“ (Heb 10,21) oder Hohenpriester, der für ihn starb, wird der Gläubige getrost und glücklich bewahrt in den Wechselfällen des Lebens, so dass seine Beziehungen zu Gott, in welche ihn das Blut Jesu gebracht hat, trotz aller Anläufe des Feindes, durch den hohenpriesterlichen Dienst Jesu Christi unterhalten werden, um nicht mehr verloren zu gehen.
Bekannt ist ja dem gläubigen Leser, dass der Hohepriester im Alten Bunde, wenn er in seinen prächtigen Kleidern erschien, auf dem Brustschild, das ihm unverrückbar auf die Brust gebunden war, auf zwölf glänzenden Edelsteinen die Namen der zwölf Stämme des Volkes Gottes trug, ebenso auf zwei Onyxsteinen, welche die Schulterstücke des Ephods zusammenhielten. So trägt Jesus Christus, der wahre und ewige Hohepriester, auf seinem Herzen, dem Sitz seiner ewig treuen Liebe und göttlich vollkommenen Zuneigung, und auf seinen allmächtigen Schultern nicht nur die Namen seiner Erlösten, die er so teuer erkauft hat mit seinem eigenen Blute, nein, er trägt die Erlösten nun selbst. So heißt es in einem Liede 6:
Dein Erlösungswerk auf Erden
hast, o Jesu, du vollbracht,
was vollendet sollte werden,
das vollführtest du mit Macht.
Du bist selbst für uns gestorben,
hast uns durch dein Blut erworben,
und dein siegreich Auferstehn
lässt uns als Befreite gehn.
Alle Namen deiner Frommen
trägst du jetzt auf deiner Brust;
alle, die zu dir gekommen,
pflegest du mit Lieb' und Lust.
Du vertrittst, die an dich glauben,
drum wird niemand sie dir rauben,
und beim Vater richtest du
ihnen eine Wohnung zu.
Dies ist das glückselige Teil und die gesegnete Stellung der Gläubigen schon jetzt, während sie noch in der Welt und Wüste sind, in der Nähe und innigen Gemeinschaft Gottes. Wie schade, dass es so wenige der Gläubigen kennen! Wie schade, dass so viele in Zweifel und Furcht dastehen im Vorhof und nicht im Heiligtum! Welch ein Schmerz und Verlust ist dies für Gottes Herz, und welch ein Verlust auch für ihr eigenes Herz und Leben!
Alle, welche in Aufrichtigkeit und Wahrheit ihre Zuflucht zu Jesus Christus genommen haben, stehen in Gottes Augen nun unter dem ewigen Schutz des Blutes seines Sohnes und seines treuen Dienstes, des großen und mitleidsvollen Hohenpriesters zu seiner Rechten. Sie sind völlig gerettet und ihm auf ewig nahe gebracht. „Ihre Herzen sind besprengt“ mit dem Blute Christi, und „so sind sie gereinigt vom bösen Gewissen“, und ihr Leib ist „gewaschen mit reinem Wasser“, d.h. sie besitzen durch Gottes Wort und Geist neues, göttliches Leben.
Und dieses kostbare Teil sollen die Gläubigen kennen und sich daran erfreuen; das will Gott. Er ruft ihnen zu, mit Freimütigkeit in seine lichte Gegenwart, vor sein Angesicht und an sein Herz zu kommen „mit wahrhaftigem Herzen“, d.h. in Lauterkeit ohne Zweifel und Bedenken, „und in voller Gewissheit des Glaubens“.
Alles ist jetzt für die Gläubigen „wahrhaftig“. Sie stehen nicht mehr im Zwielicht und Schatten oder Vorbild, auch nicht in einem irdischen Heiligtum, sondern sind da, wo ihr Hohepriester ist, d.h. „in der wahrhaftigen Hütte“, „im wahrhaftigen Heiligtum“ (Heb 8,2; 9,24), vor Gottes Angesicht droben, wenn sie auch noch mit ihren Füßen im heißen Sande der Wüste sind. 7 Und auch „die Herzen sind wahrhaftig“ (Heb 10,22). Darum sind wir auch „die wahrhaftigen Anbeter“, die Gott nun im Geist und in der Wahrheit anbeten (Joh 4,23). Dementsprechend lesen wir am Schluss des Hebräerbriefs: „Durch ihn nun (durch Jesus Christus, unseren hochgelobten Erlöser und Hohenpriester) lasst uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen!“ (Heb 13,15).
Wahrlich, das ist die gesegnete und herrliche Absicht Gottes mit seinen Erlösten schon in dieser Zeit und Wüste, vielmehr noch allerdings für die selige Ewigkeit, dass wir ihm, wie wir ganz zu Anfang unserer Betrachtung schon sagten, ein Fest feiern, ihm Dank und Anbetung bringen.
Wie schade – so sagen wir noch einmal –, dass nur so wenige gläubige Christen ihr herrliches Teil verstehen, so wenige ihren glückseligen Platz kennen und schon jetzt einnehmen im Heiligtum Gottes zum Preise seiner Gnade! Ja, welch ein Schmerz und Verlust ist dies für Gott und seine Ehre, und welch ein Verlust an Segen und Kraft für sie selbst!
Fußnoten
- 1 d.h. für den Bock der „Abwendung“.
- 2 Ergreifend ist es, wie viele der frommen oder orthodoxen Juden heute am Jom Kippur (dem Versöhnungstage), den sie des Fastens wegen auch „den langen Tag“ nennen, klagen und jammern und keinen Frieden finden können, denn es fehlt die Versöhnung und Erlösung. – Manche Juden machen Gebrauch von einem Opfer, das gewisse Rabbiner (aber nicht alle und nicht die orthodoxen) zugestehen, indem sie für die männlichen Glieder im Hause je einen Hahn, für die weiblichen Glieder eine Henne opfern. Aber auch diese, die das nach Gottes Wort gar nicht zulässige Opfer eines Hahnes bringen und sein Blut für ihre Sünden fließen lassen, finden natürlich keinen Frieden und rufen meist am Schluss des Tages aus: „Ach, dass wir nicht geboren wären!“ „Abgewendet ist uns der Messias, unsere Gerechtigkeit; wir erbeben, aber niemand ist, der uns rechtfertigt.“
- 3 eigentlich: „dem lebendigen Gott Gottesdienst darzubringen“.
- 4 Apg 26,18; Kol 1,12-14.
- 5 in etwa auch schon in Heb 9,14; wir haben dort „Christus“, dann den „ewigen Geist“ und „Gott“. Israeliten nehmen oft unnötig Anstoß an der Lehre von der Dreieinheit Gottes. Für den Fall, dass Israeliten diese Schrift lesen, führe ich einige Stellen aus dem Alten Testament an, die ihnen zeigen, dass auch dort schon in etwa die Dreieinheit Gottes bezeugt ist: „Ich bin, der da ist, ich der Erste und der Letzte [...] Und nun hat der Herr, Jehova, mich gesandt und sein Geist“ (Jes 48,12.16). Sodann Jesaja 63: „In all ihrer Bedrängnis war er bedrängt, und der Engel seines Angesichts hat sie gerettet. [..]. Sie aber haben seinen Heiligen Geist betrübt“ (Jes 63,9.10). Zu dem „Engel seines Angesichts“ vgl. den Ausdruck „Engel des Bundes“ für Christus in Maleachi 3,1. Vgl. auch noch zu diesem Punkt von der Dreieinheit den hebräischen Text von 1. Mose 1,1 und Sprüche 30,4!
- 6 nach J.J. Rambach, einem Schüler August Hermann Franckes in Halle, gestorben als Professor in Gießen 1735.
- 7 In der Stiftshütte, auf die im Hebräerbrief immer wieder Bezug genommen wird, gab es keinen künstlichen Fußboden. Der Priester stand mit den Füßen im Sand, auch wenn er im Heiligtum und Allerheiligsten stand, wo Alles Herrlichkeit war. So ist der Gläubige jetzt, obwohl noch in den Schwierigkeiten der Welt und Wüste, doch seiner Stellung nach schon droben vor Gottes Angesicht (vgl. dazu Eph 2,5-6). Diese Wahrheit von unserer himmlischen Stellung ist im Hebräerbrief nicht weiter entwickelt. Auch eine andere herrliche Wahrheit finden wir nicht im Hebräerbrief, dass wir, solange Israel als Volk noch im Unglauben verharrt und darum draußen steht, wir, die Gläubigen aus Nationen und Juden, mit Christus durch den Heiligen Geist vereinigt sind zu einem Leibe. Und wenn Christus, wie einst der Hohepriester im Alten Bund am großen Versöhnungstage, aus dem Heiligtum zurückkehrt, wohin er einst einging, dann werden wir mit ihm kommen aus dem Heiligtum, wohin er uns entrücken wird. Und dann wird das gläubig gewordene Israel von dem jetzt noch verborgenen Hohenpriester, der mit uns zu Israel herabkommen wird, gesegnet werden.