Der Prophet Habakuk
Kapitel 1
Bestürzung und Gewissheiten
1. Klagen des Propheten: V.1–4
Von Beginn des Buches an erleben wir eine enge Unterhaltung zwischen Habakuk und seinem Gott. Der Prophet offenbart die Qualen seines Herzens. Er ist bedrückt wegen eines Urteils oder einer Offenbarung, die er nicht nur gehört, sondern gesehen hat. Habakuk ruft aus: „Wie lange?“ (V.2). Dies ist der Schrei des Glaubens, der die Gewissheit besitzt, dass Gott eines Tages eingreifen wird. Aber dieser Glaube hat es nötig, gestärkt und erleuchtet zu werden. Angesichts des Bösen, der Sünde und der Ungerechtigkeit ist eben dieser Schrei schon viele Male von der Erde zu Gott aufgestiegen. David drückt ihn allein in dem Psalm 13 schon vier Mal aus. Asaph war ebenso entmutigt, als er den Wohlstand der Gottlosen sah (Ps 73,3.12). Ja, warum, wie, bis wann … all diese Gewalt, diese Bosheit, diese Ungerechtigkeit, die unbestraft bleibt? Und Gott, der weiß, kennt, hört und vor allem vermag, scheint nicht zu antworten.
Nicht weniger als 15 Fragen werden in den drei Kapiteln dieses Buches gestellt! Der scheinbare Triumph des Bösen über den Gerechten hat zu allen Zeiten Unverständnis, Verwirrung und Empfindungen der Ungerechtigkeit hervorgerufen. Man denkt an den einen vollkommenen Gerechten, der zu den Menschen gekommen ist, den die menschliche Bosheit nicht ertragen konnte (V.4) und den diese mit einem verdrehten Recht verurteilte!
Angesichts der heutigen Entwicklungen auf moralischem, wirtschaftlichem, sozialem oder politischem Gebiet, angesichts einer Gesellschaft, in der „die Grundpfeiler umgerissen werden“ (Ps 11,3), spüren wir die ganze Aktualität der Ratlosigkeit, die in den ersten Versen dieses Buches enthalten ist (V.1–4). Die zahlreichen Zitate, die wir daraus im Neuen Testament finden, bestätigen dies: Außerhalb des historischen oder des prophetischen Aspekts möchte Gott dort wie immer auch zu uns reden. Und über die Fragen hinaus sind es die Antworten des souveränen Gottes, welche die Offenbarung ausmachen.
2. Die Antwort Gottes: V.5–11
Gott ist ein Gott, der hört und der nicht nur dem Propheten, sondern auch uns antwortet, ohne immer zu erklären, was der Mensch nicht verstehen würde (Jes 55,9). So offenbart er Habakuk und Juda, dass er sich, um sein ungehorsames Volk zu züchtigen, des grausamen und mächtigen Babylons bedient, welches keine Angst kennt und den ganzen Mittleren Orient beherrscht (612–539 v. Chr.). Die Gewalt des Volkes Israel wird mit der Gewalt des chaldäischen Eindringlings beantwortet, der durch nichts und niemand aufgehalten wird.
Die Anführung des Verses 5 in Apostelgeschichte 13,41 zeigt, dass die Züchtigung Gottes auch die erreichen wird, die in der Zeit der Gnade das Evangelium verachten. Gott wird all seine Geschöpfe zur Rechenschaft ziehen. Der Anführer der chaldäischen Nation (V.11) hatte durch seinen Hochmut, seine Grausamkeit und seinen Götzendienst schwer gesündigt. Aber irgendwann verfällt er noch mehr dem Bösen, und seine eigenen Kräfte nehmen den Platz Gottes ein. Er betet sich selbst an. Ein schrecklicher Zustand, den man in der Philosophie findet, welche das Verlangen nach Macht und – auf feinere Art und Weise – dieses unsinnige Vertrauen, das die Menschen in die Wissenschaft und die Technik setzen, steigert.
Im Gegensatz dazu ist sich der Christ seiner Schwachheit bewusst und kann wie der Apostel Paulus sagen: „Daher will ich mich am allerliebsten vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft des Christus über mir wohne … Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2. Kor 12,9.10).
3. Unverständnis (zweite Frage) und Gewissheiten: V.12–17
Dass Gott sein Volk und dessen Sünden bestrafen muss, versteht der Prophet nicht nur, sondern er fordert es auch (V.12). Aber als Gott ankündigt, dass das Gericht über die Juden durch ein noch gottloseres und böseres Volk als sie eintreten wird, befinden sich die Erregung und die Qual des Propheten auf ihrem Höhepunkt. Sein Unverständnis ist vollständig, sein Herz blutet für seine Landsleute und er leidet schon im Voraus mit ihnen. Die Existenz von Sünde in Juda hatte ihn dahin gebracht, die Heiligkeit und die Gerechtigkeit Gottes zu verteidigen, aber niemals hatte er mit einem Instrument der Züchtigung von Seiten Gottes gerechnet, das in seinen Augen genauso ungerecht war. Denn es war damals nicht nur der grenzenlose Hochmut der Chaldäer bekannt, sondern auch ihre Grausamkeit: Sie hackten Arme, Nase und Ohren ab, sie setzten alles in Brand und führten die Besiegten in die Gefangenschaft. Man kann die Reaktion Habakuks nachvollziehen. Aber lasst uns den zentralen Aspekt dieses Buches festhalten: Gerade inmitten seiner menschlichen Überlegungen und seines Unverständnisses glaubt Habakuk fest an die Liebe, an die Treue und an die Ewigkeit dessen, den er seinen Gott, seinen Heiligen, nennt (V.12). Dies ist auch der Gott von alters, der Verheißungen gibt und treu ist. Und wenn er verkündet, was Gott für ihn persönlich ist, so geht er in seinen Gewissheiten in Bezug auf sein Volk und ihn noch viel weiter, denn er sagt: „Wir werden nicht sterben.“ Schon Hiob besaß dieses Vertrauen (Hiob 13,15). Welch eine Zuversicht und welch ein Zeugnis!
Jedes Kind Gottes kann dies ebenso, vielleicht sogar in einem weit höheren Maß, bezeugen, da es ja weiß, dass das am Kreuz vollbrachte Werk Wirklichkeit ist! Hierin zeigt sich wahrhaftig der Glaube im Gegensatz zum Schauen, die Zuversicht, die der Verwirklichung vorausgeht, und die Gewissheit, dass die stärkste Macht hier auf Erden, nämlich der Tod, nicht den Sieg davontragen wird über den, der Fels genannt wird (V.12; Mt 16,18). Der Verstand ist eine echte Gabe Gottes, aber wir sollten seine Grenzen erkennen. Der Verstand kann nicht als letzte Instanz die Gedanken Gottes beurteilen, die unser Fassungsvermögen völlig übersteigen. Der Glaube kommt immer zuerst und erhellt den Verstand. Dieser erlaubt uns, einen Teil des Weges zu Gott zu verstehen. Er kann uns jedoch keine absoluten Überzeugungen geben, wie wir sie hier bei Habakuk finden. Der Glaube führt uns also viel weiter als der Verstand. Blaise Pascal hatte dies verstanden, sodass er sagen konnte: „Das Herz hat seine Ursachen, welche der Verstand nicht kennt. Das Herz und nicht der Verstand nimmt Gott wahr. Das heißt glauben. Gott ist für das Herz wahrnehmbar, und nicht für den Verstand.“ (Pensée Nr. 424). Wenn wir demütig auf das hören wollen, was Gott uns zu sagen hat, so entdecken wir, dass er in der Bibel zu uns spricht, und dass er zu unserer Einsicht Beweise vorlegt: die Schöpfung, die Auferstehung des Herrn Jesus und die erfüllten Prophezeiungen.
Welche Freude, welches Glück zu wissen, dass unser Gott alle Dinge lenkt! Die hebräischen und griechischen Worte, die in unserer Bibel mit „Glaube“ übersetzt werden, tragen eine umfassendere Bedeutung als das deutsche Wort. In ihnen ist auch der Begriff des Vertrauens und der Treue enthalten.
Das Leben eines Christen wird durch helle und dunkle Punkte gekennzeichnet. Lasst uns heute mit Glauben vorangehen, in der Gewissheit, dass Gott uns nicht enttäuscht. Lasst uns nicht sagen: „Ich glaube“, obwohl wir so leben, als ob wir nicht glauben würden! Wie bei Habakuk bedürfen unsere Gedanken der Korrektur durch Gott selbst (vgl. V.3 und V.13). Wir lernen den Charakter Gottes nicht kennen, indem wir das Böse anschauen. Vielmehr erkennen wir den wahren Charakter des Bösen, indem wir Gott besser kennen lernen.