Elia
In der Zurückgezogenheit (1.Kön 17,2–24)
Kaum hatte Elia sein Zeugnis abgelegt, als er schon wieder der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen wurde. Gott berief ihn in die Einsamkeit und Zurückgezogenheit: „Gehe von hinnen und wende dich nach Osten, und verbirg dich am Bach Krith, der vor dem Jordan ist“ (V 3). Diese Worte sind voll tiefer Belehrung. Elia hatte einen sehr hervorragenden Platz unter Israel eingenommen, einen Platz, der die Folge einer früheren Zurückgezogenheit und Übung in der Gegenwart Gottes war; aber dennoch hielt der treue Herr, für den er gewirkt hatte, es für nötig, ihn aufs neue in die Einsamkeit zurückzuführen, damit er nicht nur einen hohen Platz unter seinen Brüdern, sondern auch einen niedrigen Platz vor Gott einnehmen möchte. Dies ist sehr zu beherzigen. Wir müssen niedrig gehalten, das Fleisch muss unterjocht werden. Die Zeit unserer Erziehung im Verborgenen muss weit hinausgehen über die Zeit unserer Wirksamkeit im Öffentlichen. Dies sehen wir bei Elia. Nachdem er eine gewisse Zeit mit Gott allein gewesen war, stand er für einen kurzen Augenblick im öffentlichen Zeugnis; aber dann wurde er sogleich wieder in die Abgeschiedenheit zurückgeführt, und zwar auf drei Jahre und sechs Monate. Wie wenig können wir es ertragen, auf einen Platz der Ehre gestellt zu sein. Wie bald vergessen wir uns und Gott! Wir werden jetzt sehen, wie sehr der Prophet es bedurfte, in der Zurückgezogenheit gehalten zu werden. Der Herr kannte seinen Charakter und seine Neigungen, und Er behandelte ihn demgemäß. Es ist wahrlich demütigend zu denken, wie wenig uns anvertraut werden kann auf dem Weg des öffentlichen Zeugnisses für Christum. Wir sind so erfüllt von uns selbst; wir bilden uns eitler Weise ein, dass wir etwas sind, und dass Gott vieles durch uns tun will; daher bedürfen wir, gleich dem Propheten, dass uns gesagt wird: „Verbirg dich“, um aus dem Bereich der Öffentlichkeit entfernt zu werden, damit wir in der heiligen Stille der Gegenwart unseres Vaters unser eigenes Nichts kennen lernen. So behandelte unser hochgelobter Herr Seine Jünger, als sie, erfüllt von sich selbst und ihrem Dienst, zu Ihm zurückkehrten und sagten: „Herr, auch die Dämonen sind uns untertan in deinem Namen“ (Lk 10,17) Was war Seine Antwort? „Kommt ihr selbst her an einen öden Ort für euch allein“ (Mk 6,31). Das geistliche Gemüt wird sehr bald die Wichtigkeit davon erkennen. Wir können nicht immer vor den Augen der Menschen sein; kein Geschöpf vermöchte dies zu ertragen. Der Sohn Gottes selbst suchte beständig einsame Orte, abgesondert von dem Getöse und der Unruhe der Stadt, wo Er einen ruhigen Zufluchtsort zum Gebet und zur verborgenen Gemeinschaft mit Gott finden konnte. „Jesus ging auf den Ölberg“. „Und frühmorgens. als es noch sehr dunkel war. stand er auf und ging hinaus; und er ging hin an einen öden Ort und betete dort“ (Mk 1,35). Dies tat Er aber nicht, weil Er nötig gehabt hätte, sich zu verbergen; denn Sein ganzer Pfad auf Erden war – gepriesen sei Sein Name – ein Verbergen Seiner selbst. Der Geist Seines Dienstes ist in jenen Worten ausgedrückt: „Meine Lehre ist nicht mein, sondern dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 7,16). Möchten alle Diener des Herrn dies besser verstehen! Wir alle haben nötig, uns selbst mehr zu verbergen – weit mehr als wir es tun. Der Teufel wirkt stets auf unsere armen, schwachen Herzen – unsere Gedanken drehen sich so vielfach um uns selbst – ja, wir machen so oft unsern Dienst und die Wahrheit Gottes selbst zu einem Denkmal unseres eigenen Ruhmes. Kein Wunder daher, dass wir nicht viel benutzt werden. Wie könnte der Herr solche Boten gebrauchen, die Ihm nicht die Ehre geben wollen? Wie konnte der Herr Israel gebrauchen, wenn Israel immer geneigt war, sich selbst zu rühmen? Lasst uns denn zum Herrn flehen, dass Er uns mehr wahrhaft demütig, mehr selbstverleugnend, mehr bereit mache, angesehen zu werden als ein 'toter Hund', als 'ein Floh'; wie David sagt, oder als 'Kehricht der Welt', oder als gar nichts, um des Namens unseres geliebten Herrn willen.
In seiner einsamen Zurückgezogenheit am Bach Krith hatte Elia nun viele Tage zu verweilen; doch nicht ohne eine köstliche Verheißung von dem Herrn, dem Gott Israels, in Bezug auf seine äußeren Bedürfnisse. Es begleitete ihn die gnädige Zusage: „Ich habe den Raben geboten, dass sie dich daselbst versorgen sollen“ (V 4). Der Herr wollte Sorge tragen für Seinen teuren Knecht, während dieser vor den Augen der Welt verborgen war; Er wollte ihm darreichen, was er bedurfte, wenn auch die Raben dazu als Werkzeuge dienen sollten. Welch eine merkwürdige Vorsorge! Welch eine beständige Übung des Glaubens für Elia, der darauf angewiesen war, auf den täglichen Besuch der Raben zu warten, deren natürliche Neigung es war, das Mahl des Propheten zu verzehren! Aber waren es die Raben, auf welche Elia vertraute? Gewiss nicht; seine Seele ruhte auf den köstlichen Worten: „Ich habe geboten“. Für ihn war es Gott und nicht die Raben. Der Gott Israels war bei ihm in seinem verborgenen Ort – er lebte durch Glauben. Und wie wahrhaft gesegnet ist es für das Herz, sich also in ungeheuchelter Einfalt an diese Verheißung zu klammern! Wie glücklich ist es, durch das Bewusstsein der Gegenwart und Fürsorge Gottes über die Macht der Umstände erhoben zu sein! Elia hatte sich vor den Menschen verborgen, während Gott Sich ihm zeigte. Dies wird immer so sein. Lasst uns nur uns selbst bei Seite setzen, so können wir versichert sein, dass Gott Sich in Kraft unsern Seelen offenbaren wird. Wenn Elia darauf bestanden hätte, einen hervorragenden öffentlichen Platz einzunehmen, so würde er unversorgt geblieben sein. Er musste verborgen werden; denn die Ströme der göttlichen Fürsorge und Erfrischung flossen für ihn nur an dem Ort der Zurückgezogenheit und Selbstverleugnung. „Ich habe den Raben geboten, dich daselbst zu versorgen“ (Vers 4). Wenn der Prophet irgendwo anders als an jenem Ort gewesen wäre, so würde er durchaus nichts von Gott empfangen haben. Welche Lehre für uns! Warum sind unsere Seelen oft so leer und dürre? Warum trinken wir oft so wenig aus den Strömen, mit denen Gott uns in Seiner Fürsorge erfrischen will? Weil wir uns nicht genugsam verbergen. Wir können aber nicht erwarten, dass Gott uns stärken und erfrischen wird, um uns selbst hervortun zu können. Er will uns für Sich stärken und erfrischen. Wenn wir es nur mehr zu verwirklichen vermöchten, dass wir nicht unser selbst sind, dann würden wir auch mehr geistliche Kraft genießen.
Es liegt in der Tat viel Bedeutung in dem kleinen Wörtchen daselbst. Elia musste an jenem Ort sein, und nicht irgendwo anders, um die Aushilfe Gottes zu genießen; und gerade so ist es jetzt mit dem Gläubigen. Er muss wissen, wo Gott ihn haben will, und an diesem Ort bleiben. Wir haben kein Recht, unseren Platz selbst zu wählen. Denn der Herr ordnet die Grenzen unserer Wohnung, und es ist glücklich für uns, dieses zu wissen und uns Seinen weisen und gnädigen Anordnungen zu unterwerfen. Er war an dem Bach Krith, und dort allein, wo den Raben geboten war, dem Propheten Brot und Fleisch zuzuführen. Er mochte wünschen, sich anderswo aufzuhalten; aber wenn er dies getan hätte, so hätte er selbst für sich sorgen müssen. Wie weit glücklicher war es für ihn, es Gott zu überlassen, ihn zu versorgen! Elia fühlte dies, und deshalb ging er nach dem Bach Krith, denn der HERR hatte den Raben geboten, ihn daselbst zu versorgen. Die von Gott zugedachte Nahrung ist nur an dem uns von Gott angewiesenen Platz zu haben. Also wurde Elia von Einsamkeit zu Einsamkeit geführt. Er war von den Bergen Gileads herabgekommen mit einer Botschaft von dem Herrn, dem Gott Israels, an den König Israels; und nach dem Ausrichten dieser Botschaft wurde er wieder durch die Hand Gottes in ununterbrochene Einsamkeit zurückgeführt, damit dort sein Geist geübt und seine Kraft in der Gegenwart Gottes erneuert würde. Und wer möchte sein ohne jene süßen und heiligen Unterweisungen, die im Verborgenen empfangen werden? Wer möchte die Erziehung von des Vaters Hand entbehren? Wer möchte nicht begehren, unter den Augen der Menschen hinweg, und über den Einfluss der irdischen und natürlichen Dinge geleitet zu werden in das reine Licht der Gegenwart Gottes, wo unser Ich und alles um uns her in dem Licht des Heiligtums gesehen und beurteilt wird? Mit einem Wort, wer möchte nicht wünschen, mit Gott allein zu sein – allein, nicht als ein bloß sentimentaler Ausdruck, sondern wirklich und praktisch allein; allein wie Moses auf dem Berg Gottes; allein wie Aaron im Allerheiligsten; allein wie Elia am Bach Krith; allein wie Jesus auf dem Berg. Und hier lasst uns fragen, was es heißt, mit Gott allein zu sein. Es heißt, sich selbst und die Welt beiseite gesetzt zu haben – im Geist erfüllt zu sein mit den Gedanken Gottes, mit Seiner Vollkommenheit und Größe – Seine ganze Güte vor uns vorübergehen zu lassen – Ihn als den großen Wirker für uns und in uns zu sehen – sich über das Fleisch und seine Neigungen, über die Erde und ihre Wege, über Satan und seine Anklagen zu erheben – und vor allem zu fühlen, dass wir in diese heilige Einsamkeit einzig und ausschließlich durch das kostbare Blut unseres Herrn Jesu Christi eingeführt worden sind. Dies sind einige von den Früchten unseres Alleinseins mit Gott. Aber in Wahrheit ist es eine Sache, die man schwerlich einem anderen erklären kann; denn jedes geistliche Gemüt wird seine eigenen Gefühle über diesen Gegenstand haben, und wird am besten aus eigener Erfahrung dessen Bedeutung verstehen. Lasst uns wenigstens ernstlich danach trachten, mehr und mehr in dem Verborgensein der Gegenwart unseres Vaters gefunden zu werden – das traurige und schändliche Streben nach Vergrößerung unseres Ansehens abzulegen, und die Freude, die Freiheit, den Frieden und die ungekünstelte Einfachheit des Heiligtums kennen zu lernen, wo Gott in all Seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Vollkommenheiten vor unserer Seele steht und uns mit unaussprechlicher Wonne erfüllt.
Aber obgleich Elia in seiner so glücklichen Einsamkeit am Bach Krith war, so blieb er doch nicht verschont von den tiefen Übungen der Seele, die aus einem Leben des Glaubens hervorgehen. Es ist wahr, die Raben, gehorsam dem göttlichen Befehl, statteten ihm ihre täglichen Besuche ab, und der Krith floss in seinem ununterbrochenen Lauf weiter, so dass des Propheten Brot ihm gebracht wurde und sein Wasser sicher war (Vers 6); und so mochte er, soweit es ihn persönlich betraf, vergessen, dass die Rute des Gerichts über das Land ausgestreckt war. Aber der Glaube muss auf die Probe gestellt, der Mann des Glaubens muss von sich selbst ausgeleert werden; er muss in der Schule Gottes von einer Klasse zur anderen vorwärts schreiten, wo stets neue Übungen sich darbieten, wo er, nachdem er durch die Gnade die Schwierigkeiten der einen überwunden hat, mit denen einer anderen ringen muss. Es war nötig, dass die Seele des Propheten auf die Probe gestellt wurde, um zu sehen, ob er sich auf den Bach Krith oder auf den Herrn, den Gott Israels verließ. Daher geschah es nach Verlauf einer Zeit, dass der Bach vertrocknete (Vers 7). Wir sind durch die Schwachheit unseres Fleisches immer in Gefahr, unseren Glauben von den Umständen abhängig zu machen, und wenn diese günstig sind, so meinen wir, dass unser Glaube stark sei, und umgekehrt. Aber der Glaube blickt nie auf die Umstände, er blickt direkt auf Gott. Er hat es ausschließlich mit Ihm und Seinen Verheißungen zu tun. So war es mit Elia; es kümmerte ihn wenig, ob der Krith fortfuhr, zu fließen oder nicht; Gott war seine Quelle, seine unfehlbare, unerschöpfliche Quelle. Der Bach mochte dem Einfluss der anhaltenden Dürre unterliegen; aber keine Dürre konnte auf Gott Einfluss ausüben; und dies wusste der Prophet. Er wusste, dass das Wort des Herrn eben so gewiss und sicher war beim ausgetrockneten Bach, wie es während der Zeit seines Aufenthalts an dessen Ufern gewesen war. Und so war es; denn das Wort des Herrn geschah zu ihm und sprach: „Mache dich auf, gehe nach Zarpath, das zu Zidon gehört, und bleibe daselbst; siehe, ich habe daselbst einer Witwe geboten, dich zu versorgen“ (Vers 9). Elias Glaube sollte noch immer auf derselben unveränderlichen Grundlage ruhen: „Ich habe geboten“. Wie wahrhaft gesegnet ist dies! Umstände verändern sich – menschliche Dinge fehlen – irdische Ströme trocknen aus; aber Gott und sein Wort sind dasselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Auch scheint der Prophet durch diesen neuen Befehl von oben nicht im Mindesten beunruhigt worden zu sein. Nein, denn gleich dem alten Israel hatte er gelernt, sein Zelt abzubrechen und wieder aufzuschlagen, je nachdem die Wolke des HERRN sich bewegte. Das Lager vor Alters war berufen, aufmerksam die Räder jenes himmlischen Wagens zu beachten, welche dem Land der Ruhe zurollten, und hier und da in der Wüste anhielten, um einen Ruheplatz zu finden; und gerade so war es mit Elia, er mochte im unerschütterlichsten Vertrauen auf das Wort des Herrn seinen einsamen Posten an den Ufern des Krith nehmen, oder seinen beschwerlichen Weg nach Zarpath wandeln. Dem Israel vor Alters war es nicht gestattet, irgendwelche eigenen Pläne zu haben; der HERR bestimmte und ordnete alles für sie, Er sagte ihnen, wann und wo sie sich zu bewegen und anzuhalten hatten, und bezeigte zu verschiedenen Malen durch die Bewegung der Wolke über ihren Häuptern seine hohe Freude an ihnen.
„…oder zwei Tage oder einen Monat oder eine geraume Zeit – wenn die Wolke auf der Wohnung verweilte, indem sie darauf ruhte, so lagerten die Kinder Israel und brachen nicht auf; und wenn sie sich erhob, so brachen sie auf. Nach dem Befehl des HERRN lagerten sie sich, und nach dem Befehl des HERRN brachen sie auf“ (4. Mo 9,22+23). Dies war die glückliche Stellung der Erlösten des Herrn, während sie von Ägypten nach Kanaan zogen. Sie hatten niemals ihre eigenen Wege zu gehen. Wenn ein Israelit sich geweigert hätte, zu gehen, wenn die Wolke ging, oder anzuhalten, wenn sie anhielt, dann würde er in der Wüste umgekommen sein. Der Fels und das Manna folgten ihnen, während sie dem HERRN folgten; mit anderen Worten, Nahrung und Erfrischung konnten nur auf dem Pfad des einfachen Gehorsams gefunden werden. Ebenso war es mit Elia. Es war ihm nicht erlaubt, seinen eigenen Willen zu haben – er konnte nicht die Zeit seines Aufenthaltes am Bach Krith bestimmen, noch die Zeit seiner Reise nach Zarpath; das Wort des HERRN bestimmte alles für ihn, und wenn er demselben gehorchte, so fand er seinen Unterhalt. Welch eine Lehre für einen Christen! Der Pfad des Gehorsams ist allein der Pfad des Glückes. Würden wir uns selbst mehr Gewalt antun, so würde unser geistlicher Zustand weit kräftiger und gesunder sein. Nichts dient so sehr zur Gesundheit und Tatkraft der Seele wie ein unerschütterlicher Gehorsam; durch die Bemühung im Gehorsam gewinnen wir an Kraft. Dies ist für alle wahr, aber besonders für diejenigen, die befähigt sind, im Werk des Herrn zu arbeiten. Diese müssen vor allem im Gehorsam wandeln, wenn sie denn im Dienst gebraucht werden wollen. Wie hätte Elia später sagen können, als er auf dem Berg Karmel stand: „Wenn der HERR Gott ist, so wandelt ihm nach“, wenn sein eigener Pfad durch einen eigenwilligen und rebellischen Geist gekennzeichnet gewesen wäre! Der Pfad eines Dieners muss der Pfad des Gehorsams sein, anders hört er auf, ein Diener zu sein. Das Wort Diener ist eben unzertrennlich mit Gehorsam verbunden, wie Arbeit mit Arbeiter. Es hat jemand gesagt: „Ein Diener muss sich regen, sobald die Klingel schellt“. Möchten wir deshalb alle aufmerksamer sein auf den Schall der Klingel unseres Herrn, und bereitwilliger, in der Richtung zu laufen, in welche Er uns ruft. „Rede Herr, denn dein Knecht hört“, dies ist unsere wahre Sprache. Ob das Wort des Herrn uns aus unserer Zurückgezogenheit in die Mitte unserer Brüder ruft, oder von dort in die Einsamkeit zurück, möge unsere Sprache immer sein: „Rede, Herr, denn Dein Knecht hört“. Das Wort des Herrn und das aufmerksame Ohr eines Dieners sind alles, was wir nötig haben, um sicher und glücklich weiter zu kommen.
Freilich ist dieser Pfad des Gehorsams keineswegs ein leichter; er erfordert beständige Selbstverleugnung, und kann nur verfolgt werden, wenn das Auge unverrückt auf Gott gerichtet ist und das Gewissen unter der Wirkung Seiner Wahrheit gehalten wird. Wahr ist es, dass in jeder Handlung des Gehorsams reiche Belohnung liegt; doch müssen Fleisch und Blut beiseite gesetzt werden, und das ist keine leichte Sache. Der Pfad des Propheten beweist es. Er wurde zuerst berufen, seinen Platz an dem Bach Krith zu nehmen, um durch Raben gespeist zu werden. Wie konnten Fleisch und Blut dies verstehen? Dann wieder, als der Bach versiegte, wurde er nach einer entfernten Stadt Zidons berufen, um dort von einer armen Witwe ernährt zu werden, welche gerade an dem Punkt angelangt war, vor Hunger umzukommen. Dies war der Befehl: „Mache dich auf, gehe nach Zarpath, das zu Zidon gehört, und bleibe daselbst; siehe, ich habe daselbst einer Witwe geboten, dich zu versorgen“. Und welche Sicherheit erhielt Elia durch seine eigene Überzeugung, als er an diesem Ort anlangte? Durchaus keine; sondern wenn er die Umstände sah, konnte ihn alles nur mit Zweifel und Furcht erfüllen. „Und er machte sich auf und ging nach Zarpath; und als er an den Eingang der Stadt kam, siehe, da war eine Witwe daselbst, die Holz auflas. Und er rief ihr zu und sprach: Hole mir doch ein wenig Wasser im Gefäß, dass ich trinke! Und als sie hinging, um es zu holen, rief er ihr zu und sprach: Hole mir doch einen Bissen Brot in deiner Hand! Und sie sprach: So wahr der HERR, dein Gott, lebt, wenn ich einen Kuchen habe, außer einer Handvoll Mehl im Topf und ein wenig Öl im Krug! Und siehe, ich lese ein paar Holzstücke auf und will hineingehen und es mir und meinem Sohn bereiten, dass wir es essen und dann sterben“ (Verse 10–12). Dies war der Anblick, welcher sich dem Auge des Propheten darbot, als er an seinem von Gott bezeichneten Bestimmungsort ankam. Wahrlich, ein trüber und niederdrückender Anblick für Fleisch und Blut! Elia aber besprach sich nicht mit Fleisch und Blut; sein Geist war gestärkt durch das unveränderliche Wort des HERRN; sein Vertrauen war auf die Treue Gottes gegründet, und er bedurfte keiner Hilfe von den Dingen, die um ihn her waren. Der Horizont mochte dem sterblichen Auge finster und trübe erscheinen; aber das Auge des Glaubens konnte die Wolken durchdringen und über sie alle hinwegschauen auf den festen Grund hin, der für den Glauben in des HERRN treuem Wort gelegt ist. O wie köstlich ist das Wort Gottes! Wohl mochte der Psalmist sagen: „Deine Zeugnisse habe ich mir als Erbteil genommen auf ewig“ (Ps 119,111). Kostbares Erbteil! Reine, unverderbliche, unsterbliche Wahrheit! Wie sollten wir unsern Gott preisen, dass Er sie zu unserm sicheren Teil gemacht hat! Mögen alle irdischen Dinge verschwinden – mag die Welt und ihre Lust vergehen – mag alles Fleisch wie dürres Gras verzehrt werden, so wird doch dieses Teil für den Gläubigen eine sichere, eine ewige, eine unvergängliche Wirklichkeit bleiben. „Gott sei Dank für seine unaussprechliche Gabe“ (2. Kor 9,15)!
Aber welche Umstände waren es, denen das Auge des Propheten bei seiner Ankunft in Zarpath begegnete? Eine Witwe und ihr Sohn waren dem Hungertod nahe; sie hatten noch ein wenig Öl und eine Handvoll Mehl. Und doch hieß das Wort: „Ich habe daselbst einer Witwe geboten, dich zu versorgen“. Welche Prüfung! Wie höchst geheimnisvoll war alles dieses! Doch Elia „zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde gestärkt im Glauben, Gott die Ehre gebend“ (Röm 4,20). Er wusste, dass es der höchste und allmächtigste Gott, der Herr des Himmels und der Erde war, welcher für seine Bedürfnisse sorgen wollte; deshalb würde es ihn auch wenig bekümmert haben, wenn auch gar kein Öl oder Mehl da gewesen wäre. Er blickte über die Umstände hinaus zu dem Gott der Umstände; er sah nicht die Witwe, sondern Gott; er schaute nicht auf die Handvoll Mehl, sondern auf den göttlichen Befehl; und daher war sein Geist völlig ruhig und getrost inmitten von Umständen, die den Geist dessen, der auf das gesehen hätte, was vor Augen war, verdunkelt haben würde. Er war fähig, ohne einen Schatten von Zweifel zu sagen. „Denn so spricht der HERR, der Gott Israels: Das Mehl im Topf soll nicht ausgehen, und das Öl im Krug nicht abnehmen bis auf den Tag, da der HERR Regen geben wird auf den Erdboden“ (Vers 14).
Hier haben wir die Antwort des Glaubens auf die Sprache des Unglaubens: „So spricht der HERR“; dies bringt alles zum Schweigen. Von dem Augenblicke an, wo der Geist die Verheißungen Gottes ergreift, sind die Einreden des Unglaubens zu Ende. Der Unglaube setzt die Umstände zwischen die Seele und Gott; der Glaube aber setzt Gott zwischen die Seele und die Umstände; und das ist ein sehr großer Unterschied. Möchten wir in der Macht und Energie des Glaubens zum Preise Dessen wandeln, den der Glaube immer ehrt!
Es ist aber noch ein anderer Punkt in dieser lieblichen Geschichte, der wohl zu beherzigen ist, dass nämlich der Tod stets den Geist dessen umschwebt, der nicht durch Glauben wandelt. „... dass wir essen und dann sterben“, war die Sprache der Witwe. Tod und Unglauben sind untrennbar miteinander verbunden. Der Geist kann nur durch die Energie des Glaubens auf dem Pfad des Lebens geleitet werden. Wenn diese Energie nicht vorhanden ist, so ist kein Leben, keine Macht, keine Erhebung da. So war es mit dieser armen Witwe. Ihre Hoffnung des Lebens gründete sich auf das Fass Mehl und auf den Krug Öl; über diese Dinge hinaus sah sie keine Quelle des Lebens, keine Hoffnung der Erhaltung. Ihre Seele kannte noch nicht den wahren Segen der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott, dem allein die Ausgänge des Todes gehören. Sie war noch nicht fähig, 'gegen Hoffnung auf Hoffnung' (Röm 4,18) zu leben. Ach! welch ein armes, zerbrechliches, schwankendes Ding ist jene Hoffnung, welche sich nur auf einen Ölkrug und auf ein Mehlfass gründet! Wie ärmlich müssen jene Erwartungen sein, die nur auf der Kreatur beruhen! Und sind wir nicht alle zu sehr geneigt, uns auf etwas zu stützen, das in den Augen Gottes ebenso erbärmlich und niedrig ist, wie eine Handvoll Mehl! Ja wahrlich: und es muss so sein, wo nicht Gott von der Seele erfasst wird. Für den Glauben ist es entweder Gott oder nichts. Eine Handvoll Mehl wird in der Hand Gottes und in den Augen des Glaubens ein ebenso gutes Mittel zum Unterhalt sein, wie tausend mit Rindern bedeckte Hügel. „Wir haben nichts hier als nur fünf Brote und zwei Fische“; „aber was ist dies für so viele?“ (Mt 14,17; Joh 6,9). Dies ist die Sprache des menschlichen Herzens; aber der Glaube sagt niemals, was ist dies für so viele? Sondern, was ist Gott für so viele? Der Unglaube sagt: Wir sind nicht fähig; der Glaube sagt: Gott aber ist wohl fähig. Und würde es nicht gut sein, bevor wir zu unserm Gegenstand zurückkehren, diese Grundsätze auf den armen, hilfsbedürftigen Sünder anzuwenden? Wie oft findet man nicht solche, die allerlei vergebliche Mittel anwenden, um die Vergebung ihrer Sünden zu erlangen, anstatt sich allein an das auf dem Kreuz vollbrachte Werk Christi zuklammern, welches für immer die Anforderungen der göttlichen Gerechtigkeit befriedigt hat, und deshalb gewiss fähig ist, die Stimme eines schuldigen Gewissens zu beschwichtigen. „Ich habe keinen Menschen, dass er mich, wenn das Wasser bewegt worden ist, in den Teich wirft; während ich aber komme, steigt ein anderer vor mir hinab“ (Joh 5,7). Dies ist die Sprache eines Menschen, der noch nicht gelernt hat, von aller menschlichen Hilfe ab auf Jesum hinzuschauen. „Ich habe keinen Menschen“, sagt der arme, schuldige, ungläubige Sünder; aber ich habe Jesum, sagt der Gläubige, und er kann hinzufügen: „So spricht der HERR: die reinigende Kraft des Blutes soll nicht aufhören, noch sein Wert sich verringern, bis zu der Zeit, wo der Herr Seine Erlösten für immer in Seine eigenen himmlischen Wohnungen sicher heimgebracht haben wird“.
Wenn diese Zeilen dem Auge eines armen, zitternden Sünders begegnen sollten, so möchte ich ihn einladen, seine Zuflucht zu der köstlichen Wahrheit zu nehmen, dass Gott in Seiner unendlichen Gnade das Kreuz Christi zwischen Sich und seine Sünden gesetzt hat, wenn er nur dem göttlichen Zeugniss glauben will. Der große Unterschied zwischen einem Gläubigen und einem Ungläubigen ist dieser: Der Erstere hat Christum zwischen sich und seinen Sünden, der Letztere hat seine Sünden zwischen sich und Christus. Bei dem Gläubigen ist Christus der Gegenstand, worauf das Auge ruht. Er blickt nicht auf die Größe seiner Sünde, sondern auf den Wert des Blutes und auf die Köstlichkeit der Person Christi. Er weiß, dass Gott jetzt nicht auf dem Richterstuhl, sondern auf dem Gnadenthron sitzt. Würde Er auf jenem Seinen Platz genommen haben, so würden Seine Gedanken nur mit der Sünde beschäftigt sein, weil Er aber auf diesem ist, so sind – gepriesen sei Sein Name – Seine Gedanken einzig und allein mit dem kostbaren Blut Christi beschäftigt. O, möchten wir doch mehr mit himmlischen Gedanken erfüllt und völliger von den Dingen und Gedanken der Erde getrennt sein! Der Herr gebe dies allen Seinen Heiligen!
Wenden wir uns jetzt zu unserm Gegenstand zurück. – Der Mann des Glaubens muss auf alle Weise geprüft werden. Jede neue Szene und Stellung im Leben des Gläubigen ist nur der Eintritt in eine neue Klasse der Schule Christi, wo er eine neue und natürlich auch schwierigere Aufgabe zu erlernen hat. Aber man möchte fragen, inwiefern die Umstände in Zarpath für Elia schwieriger gewesen seien als am Bach Krith? War es nicht besser, auf menschliches Mitgefühl angewiesen zu sein, als Raben zu seinen Versorgern zu haben? Und war es ferner nicht angenehmer, von menschlichen Wesen bedient zu werden, als in der Einsamkeit des Baches Krith zu wohnen? Ohne Zweifel wird dies wohl der Fall sein; aber die Einsamkeit hat ihr Süßes und die Gesellschaft hat ihre Versuchungen. Allerlei selbstsüchtige Absichten machen sich den Menschen geltend, und verbittern das Angenehme und die Bequemlichkeit, welche die menschliche Gesellschaft bieten kann. Der Prophet hörte solche Worte nicht, wie diese: „für mich und meinen Sohn“, als er sich an jenem einsamen Bach aufhielt. Dort gab es kein selbstsüchtiges Interesse, das seinen Unterhalt und seinen Genuss beschränkte. Sobald er aber aus seiner Zurückgezogenheit in die menschliche Gesellschaft zurückgekehrt war, musste er fühlen, dass das menschliche Herz es nicht liebt, sein eigenes Interesse im Mindesten beeinträchtigt zu sehen. Er musste die tiefe Bedeutung der Worte „für mich und meinen Sohn“, welche die verborgenen Quellen der Selbstsucht und mithin den gefallenen Zustand der Menschen offenbaren, kennen lernen. Aber ohne Zweifel war es für das Herz der Witwe ganz natürlich, zuerst an sich selbst und ihren Sohn zu denken, als an irgendjemanden sonst. Dies tut die Natur immer. Höre die folgenden Worte eines wahren Naturkindes: „Und ich sollte mein Brot und mein Wasser nehmen und mein Geschlachtetes, das ich für meine Scherer geschlachtet habe, und es Männern geben, von denen ich nicht weiß, woher sie sind?“ (1. Sam 25,11). Die Natur wird immer zuerst das Ihrige suchen, und es kommt dieser verderbten Welt nicht in den Sinn, die menschliche Seele so zu erfüllen, dass sie zum Wohle Anderer überströmt. Dies zu tun, ist allein das Vorrecht Gottes. Es ist eine ganz vergebliche Mühe, zu versuchen, das Herz des Menschen durch irgendein Mittel weit zu machen, ausgenommen durch die überströmende Gnade Gottes. Diese allein kann die Tür seiner Zuneigungen für jeden Notleidenden weit öffnen. Die menschliche Wohltätigkeit mag vieles tun, wenn reichliche Hilfsquellen die Möglichkeit der eigenen Entbehrung verhindern; aber nur die Gnade wird einen Menschen befähigen, das eigene Interesse den Bedürfnissen Anderer unterzuordnen: „Die Menschen werden dich preisen, wenn du dir selbst wohltust“. Dies ist der Grundsatz der Welt, und nichts kann uns befähigen, denselben zu verlernen, als die Erkenntnis der Tatsache, dass Gott uns Gutes getan hat, und dass Er es ferner tun wird bis ans Ende. Die Erkenntnis dieses göttlichen Grundsatzes befähigte den Propheten, zu sagen: „Bereite mir zuerst einen kleinen Kuchen davon, und bringe mir ihn heraus; und dir und deinem Sohn bereite danach“ (Vers 13). Mit diesen Worten drückte Elia einfach die göttlichen Ansprüche auf die Vorräte der Witwe aus; und wie wir wissen, wird die wahre und wirkliche Befriedigung dieser Ansprüche eine reiche Ernte des Segens für die Seele sein. In diesem allen lag eine Anforderung an den Glauben der Witwe. Sie war berufen, in einer schwierigen und versuchungsvollen Lage einfach in der Energie des Glaubens zu handeln, gestützt auf eine göttliche Verheißung: „Denn so spricht der HERR, der Gott Israels: Das Mehl im Topf soll nicht ausgehen, und das Öl im Krug nicht abnehmen bis auf den Tag, da der HERR Regen geben wird auf den Erdboden“ (Vers 14). Und ist es nicht so bei einem jeden Gläubigen? Ohne Zweifel; wir müssen im Glauben handeln. Der große wirkende Grundsatz in der Seele des Christen muss immer auf die Verheißung Gottes gegründet sein. Es würde sich auf Seiten der Witwe für die Übung des Glaubens keine Gelegenheit geboten haben, wenn der Krug voll gewesen wäre; aber als er geleert, als sie zu ihrer letzten Handvoll gekommen war, und ihr gesagt wurde, diese Handvoll zuerst einem Fremden zu geben, so war dies sicher eine Anforderung, welcher nachzukommen nur der Glaube sie befähigte. Aber der Herr handelt oft mit Seinem Volk, wie Er mit Seinen Jüngern bei der Speisung der Fünftausend handelte, wo wir lesen: „Dies aber sagte er, um ihn zu versuchen; denn er selbst wusste, was Er tun wollte“ (Joh 6,6). Er lässt uns oft in versuchungsreiche Umstände eintreten, wodurch unser Glaube auf eine schwere Probe gestellt wird; aber sobald wir gehorchen, erkennen wir nicht nur den Beweggrund dazu, sondern bekommen auch Kraft, um vorwärts zu gehen. In der Tat werden alle göttlichen Anforderungen an unsere Handlungen durch den Grundsatz geleitet, der in dem Befehl an die Kinder Israel ausgedrückt wird: „Rede zu den Kindern Israel, dass sie aufbrechen“ (2. Mo 14,15). Wohin sollten sie ziehen? Durch das Meer. Sonderbarer Weg! Doch hinter diesem versuchungsvollen Befehl sehen wir die Gnade, welche die Fähigkeit gibt, ihn auszuführen, indem der Herr zu Moses sagt: „Und du, erhebe deinen Stab und strecke deine Hand aus über das Meer und spalte es, dass die Kinder Israel mitten in das Meer hineingehen, auf dem Trockenen“ (2. Mo 14,16). Der Glaube befähigt einen Menschen, auszugehen, ohne zu wissen wohin er kommt.
Aus dieser wahrhaft interessanten Szene ist also mehr zu lernen, als der bloße Grundsatz des Gehorsams; wir sehen auch, dass nur die Macht der göttlichen Gnade den menschlichen Geist über die kalte Atmosphäre der Selbstsucht, worin der gefallene Mensch lebt und sich bewegt und sein Wesen hat, erheben kann. Die Strahlen des göttlichen Wohlwollens, welche in die Seele scheinen, zerstreuen jene Nebel, worin die Welt eingehüllt ist, und befähigen den Menschen, nach höheren und edleren Grundsätzen zu denken und zu handeln. Diese arme Witwe hatte ihr Haus verlassen und wurde durch keinen höheren Beweggrund, als das eigene Interesse und die Selbsterhaltung geleitet, und sie hatte keinen besseren Gegenstand vor ihren Augen als den Tod. Und ist es in irgendeiner Beziehung besser mit jedem unwiedergebornen Menschen? Nicht im Geringsten. Der Ausgezeichnetste, der Geistvollste, der Gelehrteste – mit einem Wort, jeder Mensch, in dessen Geist das Licht der göttlichen Gnade noch nicht eingedrungen ist, wird durch Beweggründe des eigenen Interesses und der Selbsterhaltung, gleich der armen Witwe, geleitet, und hat keine glänzendere Aussicht vor sich als den Tod. Jedoch die Gnade Gottes verändert schnell die Lage der Dinge. Auf die Witwe wirkte sie mächtig; sie sandte sie zurück nach ihrem Haus, beschäftigt und besorgt für einen Andern, und erfüllte ihre Seele mit neuer Hoffnung des Lebens. Und so wird es immer sein. Sobald die Seele mit der Wahrheit und der Gnade Gottes in Gemeinschaft tritt, wird sie auf einmal von diesem gegenwärtigen bösen Zeitlauf befreit und dem Strom entrissen, der mit reißender Schnelligkeit Millionen auf seiner Oberfläche dahintreibt. Die Seele wird dann durch himmlische Beweggründe geleitet und durch himmlische Gegenstände belebt. Die Gnade lehrt den Menschen, für andere zu leben und zu wirken. Je mehr unsere Seelen die Süßigkeit der errettenden Liebe kosten, desto ernstlicher wird unser Wunsch sein, andern zu dienen. O, dass ein jeder in dieser Zeit der traurigen Kälte und Gleichgültigkeit tiefer und bleibender die alles vermögende Macht der Liebe Christi fühlen möchte! Wollte Gott, dass wir alle in dem Bewusstsein leben und wirken möchten, dass wir nicht unser selbst sind, sondern teuer erkauft sind!
Die Witwe von Zarpath lernte diese Gnade kennen. Der Herr machte nicht nur Seine Ansprüche auf eine Handvoll Mehl und den Krug Öl geltend, sondern legte Seine Hand an ihren Sohn – den teuersten Gegenstand ihrer Zuneigung. Der Tod besuchte das Haus, wo der Prophet des Herrn, in der Gesellschaft mit der Witwe und ihrem Sohn, die köstlichen Früchte des göttlichen Wohlwollens genoss. Wir lesen in Vers 17: „Und es geschah nach diesen Dingen, da wurde der Sohn der Frau, der Hauswirtin, krank; und seine Krankheit wurde sehr schwer, so dass kein Odem mehr in ihm blieb“. Dieser Sohn aber, wie wir wissen, hatte ihr, so wie sie selbst, im Weg gestanden, der göttlichen Anforderung sofort Gehorsam zu leisten. Deshalb haben wir in dem Tod dieses Kindes eine ernste Unterweisung für jeden Heiligen: Wenn wir irgend einem Gegenstand – seien es Eltern oder Kinder, Mann oder Frau, Bruder oder Schwester – erlauben, uns auf unserem Pfad des Gehorsams und der Nachfolge Christi aufzuhalten, so können wir versichert sein, dass dieser Gegenstand entfernt werden wird. Die Witwe hatte ihrem Sohn einen höheren Platz in ihren Gedanken eingeräumt, als dem Propheten des Herrn; und der Sohn wurde ihr weggenommen, damit sie lernen möchte, dass nicht nur „die Handvoll Mehl“ Ihm unterworfen und für Ihn bereit sein sollte, sondern auch ihr teuerster irdischer Gegenstand. Es bedarf keines geringen Maßes des Geistes Christi, um alles für Gott in Bereitschaft zu halten. Wir sind so geneigt, die Dinge als unser Eigentum zu betrachten, anstatt uns zu erinnern, dass alles, was wir sind und was wir haben, dem Herrn angehört, und dass wir schuldig sind, es zu jeder Zeit auf Seinen Wink hinzugeben. Dies ist nicht nur eine Sache des wahren Gehorsams, sondern es dient zugleich zu unserem dauernden Wohl und unserer wahren Glückseligkeit. Die Witwe gehorchte dem Befehl Gottes, als Er die Handvoll Mehl von ihr verlangte, und was geschah? Sie und ihr Haus wurden jahrelang versorgt! Wiederum legte der Herr die Hand an ihren Sohn, und was geschieht? Ihr Sohn wird vom Tod auferweckt durch die mächtige Kraft Gottes, um sie zu lehren, dass Er nicht nur das Leben erhalten, sondern auch geben kann. Die Auferstehungsmacht offenbarte sich in ihren Umständen; und sie empfing jetzt ihren Sohn, wie sie vorher ihren Unterhalt empfangen hatte, unmittelbar aus der Hand des HERRN, des Gottes Israels. Wie glücklich, abhängig zu sein von einer solchen Güte! Wie glücklich, zu unserem Mehlfass oder unserem Ölkrug zu gehen, und ihn täglich durch die gütige Hand unsers Vaters wieder gefüllt zu finden! Wie glücklich, den teuersten Gegenstand unserer Zuneigung in Abhängigkeit von der Auferstehungsmacht zu besitzen. Das sind die Vorrechte selbst der schwächsten Gläubigen.
Eine andere Wirkung des göttlichen Besuches war, dass bei der Witwe eine ernste Frage über ihre Sünde erweckt wurde. Sie rief aus: „Was haben wir miteinander zu schaffen, Mann Gottes? Du bist zu mir gekommen, um meine Ungerechtigkeit ins Gedächtnis zu bringen und meinen Sohn zu töten“ (Vers 18). Wenn der Herr uns nahe tritt, dann wird das Gewissen wach und zart, was immer höchst gesegnet ist. Man kann oft im gewöhnlichen Lauf des Lebens, von Tag zu Tag vorwärts gehen im Genuss eines gefüllten Topfes oder Kruges, ohne eine tiefe Übung des Gewissens vor Gott. Letzteres wird man nur da finden, wo in wirklicher Gemeinschaft mit Gott gewandelt wird, oder wo die Hand des Herrn uns heimsucht. Hätte der Herr nur die Notdurft der armen Witwe von Tag zu Tag befriedigt, so wäre in ihrem Gemüt vielleicht nie eine Frage in Betreff ihrer Sünde entstanden; aber als der Tod eintrat, begann das Gewissen zu wirken; denn der Tod ist der Sünde Sold. In allen Wegen Gottes mit uns offenbart sich ein zweifaches Handeln: das Handeln der Gnade und das Handeln der Wahrheit. Letzteres enthüllt das Böse und Ersteres schafft es hinweg; dieses offenbart, was der Mensch ist, und jenes, was Gott ist; dieses bringt die verborgenen Werke des Bösen im menschlichen Herzen ans Licht, jenes offenbart die reichen und unerschöpflichen Quellen der Gnade im Herzen Gottes. Doch beide sind nötig, die Gnade zur Feststellung unserer Segnung, die Wahrheit zur Rechtfertigung des Charakters und der Eigenschaften Gottes. Wie gesegnet ist es, zu wissen, dass beides, Gnade und Wahrheit, durch Jesum Christum geworden ist (Joh 1,17).
Das göttliche Handeln mit der Witwe würde nicht vollständig gewesen sein, wenn sie nicht zu dem Bekenntnis gebracht worden wäre: „Nunmehr erkenne ich, dass du ein Mann Gottes bist, und dass das Wort des HERRN in deinem Mund Wahrheit ist“ (Vers 24). Sie hatte in der wunderbaren Hilfe in der Not die Gnade kennen gelernt: sie lernte die Wahrheit kennen in dem Tod ihres Sohnes. Und wenn wir nur geistlicher wären, so würden wir stets diese beiden Seiten der Erziehung unsers Vaters bemerken. Wir sind beständig Gefäße Seiner Gnade; aber immer wieder empfangen wir Beispiele Seiner Wahrheit durch die Führungen Seiner Hand, um das Böse aus den verborgenen Winkeln unseres Herzens hervorzubringen, damit wir es richten und hinwegtun. So lange wir unseren Topf und unseren Krug gefüllt sehen, ist das Gewissen geneigt, zu schlummern; aber wenn der Herr durch Seine züchtigende Hand an die Tür unserer Herzen anklopft, so wacht es sofort auf und das Selbstgericht beginnt.
Es gab aber auch für Elia eine Stimme in dieser Heimsuchung. Er hatte sich selbst der Witwe in dem Charakter eines Mannes Gottes vorgestellt und es war daher nötig, seine Berufung zu diesem Charakter zu bewahrheiten. Der Herr tat dies nach Seiner Gnade für ihn, durch die Auferweckung des Kindes. „Nunmehr erkenne ich“, sagte sie, „dass du ein Mann Gottes bist“. Die Auferweckung war es, welche seinen Anspruch auf ihr Vertrauen rechtfertigte. Die Erweisung eines gewissen Maßes von Auferstehungskraft in dem Leben des Christen ist nötig, bevor seine Ansprüche auf diesen Charakter völlig gerechtfertigt erscheinen. Und dies wird geschehen durch den Sieg über das eigene Ich und alle bösen Wirkungen desselben. Der Gläubige ist mit Christus auferstanden – er ist zum Teilhaber der göttlichen Natur gemacht; aber er ist noch in der Welt und trägt den Leib der Sünde mit sich umher, und wenn er sich da nicht selbst verleugnet, so wird er seinen Charakter als Mensch Gottes in Frage gestellt finden. Es würde jedoch ein armseliger Gegenstand sein, nur zu suchen, unser eigenes Ansehen aufrecht zu erhalten. Der Prophet hatte ein höheres und edleres Ziel, und zwar die Wahrheit des Wortes Gottes in seinem Mund zu erweisen. Das ist ein passender Gegenstand für den Mann Gottes. Sein eigener Charakter und Ruf waren Dinge von geringer Wichtigkeit für ihn, ausgenommen wo sie mit dem Wort des Herrn verbunden waren. Der Apostel Paulus ging nur aus dem Grund zur Verteidigung seines Apostelamtes in seinen Briefen an die Galater und Korinther über, um den göttlichen Ursprung des von ihm gepredigten Evangeliums aufrecht zu erhalten. Es kümmerte ihn wenig, was sie von Paulus dachten; aber es war ihm viel daran gelegen, was sie von dem Evangelium des Paulus hielten. Darum war er bemüht zu beweisen, dass das Wort des Herrn in seinem Mund Wahrheit war. Und wie wichtig war es für den Propheten, ein solches Zeugnis für den göttlichen Ursprung seines Dienstes zu haben, bevor er den Schauplatz betrat, auf welchem er sich hier in Kapitel 18 bewegt. Dieses Zeugnis erlangte er besonders bei seiner Zurückgezogenheit in Zarpath. Daselbst wurde sein Glaube befestigt; er empfing ein göttliches Siegel für seinen Dienst; er wurde befähigt, aufs Neue seine öffentliche Laufbahn mit der glückseligen Gewissheit zu betreten, dass er ein Mann Gottes und das Wort des Herrn in seinem Mund Wahrheit sei. 1
Diese Geschichte hat für uns aber auch noch eine vorbildliche Bedeutung. Christus selbst beruft Sich auf die Sendung des Propheten zu der heidnischen Witwe, und dies gibt uns Anleitung, darin ein schönes Vorbild von der Aufnahme der Heiden in die Kirche Gottes zu erblicken. „In Wahrheit aber sage ich euch: Viele Witwen waren in den Tagen Elias in Israel, als der Himmel drei Jahre und sechs Monate verschlossen war, so dass eine große Hungersnot über das ganze Land kam; und zu keiner von ihnen wurde Elia gesandt als nur nach Sarepta im Gebiet von Sidonien zu einer Frau, einer Witwe“ (Lk 4,25+26). Der Herr Jesus hatte Sich Israel vorgestellt als der Prophet, aber keine Anerkennung gefunden; die Tochter Zions weigerte sich, die Stimme ihres Herrn zu hören. Die Worte der Gnade, die von Seinem Mund ausgingen, wurden durch die fleischliche Frage beantwortet, ob dieser nicht der Sohn Josephs sei. Deshalb findet Sein Geist, angesichts der Geringschätzung und Verwerfung von Seiten Israels, eine Erquickung in der glücklichen Betrachtung, dass es noch Gegenstände außerhalb der jüdischen Grenze gab, zu welchen die göttliche Gnade, deren Kanal Er war, in ihrer ganzen Fülle und Reinheit ausströmen konnte. Die Gnade Gottes ist von einer solchen Art, dass sie, wenn sie durch den Stolz, den Unglauben oder die Herzenshärtigkeit der Einen aufgehalten wird, sie nur desto reichlicher ausströmt zu anderen. „Ich habe dich auch zum Lichte der Nationen gesetzt, um mein Heil zu sein bis an das Ende der Erde“ (Jes 49,6). Es ist aber nicht unser Zweck; hier weiter auf die Berufung der Heiden einzugehen, sondern nur auf eine einfache und praktische Weise das Leben und den Dienst unseres Propheten zu betrachten, und zwar mit dem herzlichen Wunsch, dass es dem Herrn wohlgefallen möge, diese Betrachtungen zur Ermunterung und zur Auferbauung Seiner Heiligen dienen zu lassen!
Fußnoten
- 1 Ich möchte hier noch ein Wort über die Aufrechthaltung des eigenen Ansehens hinzufügen. Es ist traurig, wenn ein Diener Gottes hierzu genötigt ist: Es zeigt, dass entweder etwas Schlechtes bei ihm selbst ist, oder bei denen, die es für ihn nötig gemacht haben, also zu handeln. Wenn aber eine solche Rechtfertigung erforderlich ist, so gibt es eine große Sache, die stets klar vor unserer Seele stehen muss, dass es uns nämlich nur um die Ehre Christi und die Reinheit der Wahrheit zu tun ist. Es ist oft der Fall, dass, wenn irgendeine Beschuldigung gegen unsern Dienst oder unsern persönlichen Charakter gemacht wird, wir schnell bei der Hand sind, uns selbst zu verteidigen. Doch sollten wir uns zu jeder Zeit erinnern, dass wir, getrennt von unserer Verbindung mit Christo und Seinen Heiligen, nichts sind als Staub und Asche, unwert eines jeden Gedankens oder Wortes. Es sollte daher weit von uns entfernt sein, die Behauptung unseres eigenen Ansehens zu suchen. Wir sind nach einem gewissen Maß berufen, die Bewahrer des Ansehens Christi zu sein, und vorausgesetzt, dass wir dieses unbefleckt aufrechthalten, so haben wir nicht nötig, für uns selbst Sorge zu tragen. Der Herr gebe uns allen Gnade in dem bleibenden Bewusstsein unserer hohen Würde und heiligen Verantwortlichkeit zu wandeln, „als der Brief Christi, gekannt und gelesen von allen Menschen!“