Der Brief an die Römer
Kapitel 9
Nach der Entwicklung der Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben und deren gesegneten Folgen blieb nun noch eine wichtige Frage zur Beantwortung übrig: wie nämlich diese Lehre, die sowohl Juden als Heiden verdammungswürdig vor Gott hinstellte und auch für beide nur eine Errettung kannte, mit den besonderen, den Juden gegebenen Verheißungen in Übereinstimmung zu bringen wäre. Der Ungehorsam der Juden unter dem Gesetz, durch den sie die Segnungen, die durch das Gesetz verheißen waren, verloren, war jedoch nicht imstande, die Verheißungen zu vernichten, die ohne Bedingung und vor dem Gesetz gegeben waren. Und deshalb zeigt der Apostel in den drei folgenden Kapiteln, dass die Verwerfung der Juden sowie die Annahme der Heiden – schon durch die Propheten vorher verkündigt – vollkommen gerecht war, dass aber nach der unumschränkten Gnade Gottes seine vor dem Gesetz gegebenen Verheißungen nicht unerfüllt bleiben konnten und deshalb ein Überrest von Israel errettet werden sollte.
Ehe nun der Apostel diesen Gedanken weiter verfolgt, sucht er zuerst jedem Zweifel an seiner Liebe für sein Volk zu begegnen und ihn zu beseitigen. Seine bisherigen Gedanken im Blick auf Israel sowie die, auf die er jetzt näher eingehen wollte, waren wohl imstande, zu solchen Zweifeln Anlass zu geben. Er hatte bewiesen, dass weder die Beschneidung noch das Gesetz noch die Werke des Gesetzes den Juden irgendwelche Hoffnung zur Erlangung der Verheißung übrig ließen, und ebenso schloss die Auswahl Gottes, von der der Apostel in diesem Kapitel redet, alle fleischlichen Vorrechte aus, weil dieselbe allein auf das freie Erbarmen und die unumschränkte Gnade Gottes gegründet war. Dieses alles aber schwächt in dem Herzen des Apostels nicht im Geringsten die Gefühle für sein Volk. Er bezeugt mit feierlichem Ernst seine große Liebe und Zuneigung für dasselbe, indem Er sein Zeugnis mit Christus und dem Heiligen Geist in Verbindung bringt (Vers 1). Er hatte nicht vergessen, dass die Israeliten seine Brüder und Verwandten nach dem Fleisch waren, und der Gedanke an ihre Verhärtung gegen Christus, durch den sie allein alle Verheißungen und Segnungen erlangen konnten, erfüllte sein Herz mit großer Traurigkeit und unaufhörlichem Schmerz (Vers 2). Ja, diese Gefühle der Liebe und Zuneigung zu seinen Brüdern, seinen Verwandten nach dem Fleisch, hatten ihn sogar einmal so sehr eingenommen und mit fortgerissen, dass er selbst gewünscht hatte, an ihrer statt durch einen Fluch von Christus entfernt zu sein 1 (Vers 3). Der Grund seiner Traurigkeit war nicht der Mangel an Vorrechten für sie, sondern ihre Geringschätzung derselben. Er beeilt sich, hier eine Menge dieser Vorrechte, als ihnen gehörend, aufzuzählen (Verse 4 und 5); und je mehr sein eigenes Herz diese Vorrechte anerkannte und würdigte, desto tiefer war sein Schmerz, wenn er sehen musste, dass sie diese durch ihr Beharren im Unglauben verloren.
Im Folgenden widerlegt nun der Apostel den scheinbaren Einwurf, dass Gottes Wort sein Ziel verfehlt habe, indem er zunächst beweist, dass nicht alle aus Israel auch Israel sind (Vers 6). Es gibt eine Auswahl von Seiten Gottes – eine Auswahl, die auch solche aus den Nationen unter die Kinder der Verheißung aufnimmt. Wollten aber die Israeliten eine solche Auswahl nicht zugeben, so verwarfen sie ihre eigene Stellung, die ebenfalls auf eine Auswahl gegründet war. Ismael war auch ein Nachkomme Abrahams, und Esau hatte mit Jakob denselben Vater und dieselbe Mutter. Es war also nur die Auswahl, die Israel von Ismael und Esau und deren Nachkommen trennte. Diese Auswahl sonderte die Kinder der Verheißung von den Kindern des Fleisches ab. Sie mussten aber auch jetzt notwendigerweise die Souveränität Gottes zulassen; denn seitdem sie den am Sinai geschlossenen Bund des Herrn gebrochen hatten, war die unumschränkte Gnade Gottes der einzige Weg, um die Verheißungen zu erlangen; und diese Gnade übt Gott aus, wem gegenüber Er will.
Es sind also nicht alle deshalb Israel, weil sie aus Israel sind, noch sind sie alle Kinder, weil sie Abrahams Nachkommen sind (Verse 6 und 7). In seiner Souveränität bestimmt Gott durch Auswahl, welches die Erben der Verheißung sind; und zweifellos sind nicht alle Nachkommen Abrahams von Ihm berufen worden, sondern „in Isaak wird dir eine Nachkommenschaft genannt werden“ (Vers 7). Ismael war genauso Abrahams Nachkomme wie auch Isaak; aber Gott erwählte Isaak und nicht Ismael in die Linie der besonderen Gunst. Es sind also nicht die Kinder des Fleisches Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Nachkommen gerechnet (Vers 8). „Denn dieses Wort ist eine Verheißung: Um diese Zeit will ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben“ (Vers 9). Das wurde noch völliger in der folgenden Generation bestätigt; denn obwohl beide Kinder aus demselben Vater und derselben Mutter hervorgegangen waren – „selbst als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten (damit der Vorsatz Gottes nach Auswahl bleibe, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden), wurde zu ihr gesagt: Der Größere wird dem Kleineren dienen“ (Verse 11 und 12). Und das prophetische Zeugnis des Maleachi fügt hinzu: „Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst“ (Vers 13).
Wie ernst und niederschmetternd war diese Wahrheit für Israel, das alle seine Vorrechte auf seine fleischliche Abstammung von Abraham gründete! Die Abstammung nach dem Fleisch aber ließ, wie wir gesehen haben, auch Ismael und Esau zu, deren Nachkommen, die Araber und Edomiter, sie doch unter allen Nationen am meisten hassten. Es blieb ihnen also nichts anderes übrig, als die unumschränkte Auswahl Gottes anzuerkennen, so sehr das auch alle ihre fleischlichen Vorrechte zu Boden warf. Die Erlangung der Segnungen ist nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden.
Das natürliche Herz mag bei dieser Lehre von der Auswahl wohl fragen: „Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott“ (Vers 14)? ,,Das sei ferne“, sagt der Apostel; denn wenn Gott auf dem Weg der Gerechtigkeit mit dem durch Sünde verderbten Menschen handelt, so ist er völlig verloren. Deshalb hat auch kein Mensch mehr ein Recht, sich gegen Gott zu beschweren, weil Er seinen unumschränkten Willen an denen ausübt, die ganz unter der Sünde liegen. Mag Er Gnade oder Gericht erweisen, so kann sich doch kein Mund gegen Ihn auftun. Keiner kann sagen: Du tust nicht recht. Sowohl in seiner unumschränkten Gnade, als auch in seinem Gericht gegen Gottlose steht Er immer verherrlicht da. Der Apostel stellt hier an zwei Beispielen die Souveränität Gottes noch klarer ans Licht. Zuerst zeigt Er seine freie Gnade an seinem schuldbeladenen und todeswürdigen Volk und dann sein gerechtes Gericht an dem Feind desselben. Besonders bemerkenswert sind dabei die Umstände, in denen Gott seine Souveränität offenbart. Denn wann war es, als Gott zu Mose sagte: „Ich werde begnadigen, wen ich begnadige und ich werde mich erbarmen, wessen ich mich erbarme“ (Vers 15)? Es war zu der Zeit, als Israel aufgrund der Gerechtigkeit vertilgt werden musste (vgl. 2. Mo 32,33). Gott aber in seiner Souveränität widerrief sein Urteil, um Israel, das Er nach seiner Gerechtigkeit mit seinen goldenen Kälbern hätte vernichten müssen, zu verschonen. Wie gesegnet war es also für Israel, dass es nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott liegt (Vers 16)! Wie gesegnet für sie, dass dieser allgemeine Grundsatz an ihnen Wirklichkeit wurde! Das einzige, was sie nach dem Fall noch suchen und begehren konnten, war Gnade. Es war zu spät, um vom Recht zu reden. Daran noch zu denken, zeigte nur ihre Blindheit und Verderbtheit; denn mit ihren Sünden hatten sie gerade die Rechte Gottes mit Füßen getreten. Es blieb nur noch übrig, Ihn zu preisen, dass Er seine Rechte dazu benutzte, um dem Volk, das sich völlig verderbt hatte, seine unumschränkte Gnade zu bewahren.
So ist es auch jetzt. Der Selbstgerechte mag bei jedem Schritt mit der Souveränität Gottes rechten, der Sünder aber, wenn er wirklich unter dem Gefühl seiner Sünde niedersinkt, ist höchst erfreut, zu hören, dass die Gnade Gottes unumschränkt genug ist, um sich auch über ihn zu erbarmen, und der Errettete preist diese Gnade, die dem verlorenen Sünder gegenüber so reichlich ausströmt.
Der Apostel zeigt uns dann den Pharao auf der Seite des Gerichts: „Denn die Schrift sagt zum Pharao: Eben hierzu habe ich dich erweckt, damit ich meine Macht an dir erweise und damit mein Name verkündigt werde auf der ganzen Erde“ (Vers 17). Diese Handlungsweise gegen Pharao war in der Tat völlig gerecht; denn er hatte die Rechte Gottes über sein Volk verhöhnt und verleugnet. Er war Gott gegenüber stolz und rebellisch, und darum machte ihn Gott zu einem Exempel. Er hatte gesagt: „Wer ist der Herr, auf dessen Stimme ich hören soll, Israel ziehen zu lassen? Ich kenne den Herrn nicht, und auch werde ich Israel nicht ziehen lassen“ (2. Mo 5,2). Der Herr bediente sich Pharaos, der schon durch die Verdorbenheit seines Herzens in diesem Zustand des Aufruhrs und des Hochmuts war, um an ihm seinen Zorn und sein göttliches Gericht zu demonstrieren. „So denn, wen Er will, begnadigt er, und wen er will, verhärtet er“ (Vers 18). Die Verhärtung und das endgültige Gericht kamen mit Recht über Pharao, weil er sich vorher selbst verhärtet hatte. Dieser Grundsatz findet sowohl im Judentum (Jes 6) als auch im Christentum (2. Thes 2) seine Anwendung. Der Mensch ist gottlos und verwirft Gott, und darum kann Gott in seinem unumschränkten Ratschluss ihn der Verhärtung übergeben. Wir heben nun noch einmal besonders hervor, dass nicht Gott es ist, der den Menschen gottlos macht, wenn Er ihn verhärtet, sondern dass Er einen völlig gottlosen Menschen nimmt und ihn als Beispiel hinstellt. Würde jenes der Fall sein, dann könnte der Mensch sich mit Recht beschweren. Jetzt aber, da er sich durch eigene Schuld verderbt hat, muss er sich der unumschränkten Handlungsweise Gottes gegen sich völlig unterwerfen.
Dennoch beklagt sich der Mensch; dennoch fragt er: „Warum tadelt er denn noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden“ (Vers 19)? Was soll ich denn machen, da Gott sowieso handelt wie er will? „Wer bist du denn, o Mensch“, erwidert der Apostel, „der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem, der es geformt hat, sagen: Warum hast du mich so gemacht“ (Vers 20)? Gott handelt, wie Er will, und gibt niemand Rechenschaft über sein Tun. Doch der Mensch tadelt immer. Gott mag gegen ihn nach seiner Gerechtigkeit oder gegen andere nach dem Reichtum seiner Gnade handeln – immer hat er etwas auszusetzen; und man könnte leicht zu der Frage veranlasst werden: Hat Gott den Menschen oder hat der Mensch Gott zu richten? Sobald aber der Mensch Gott das Recht seiner Souveränität streitig macht, räumt er Ihm weniger Macht und Freiheit ein als einem Töpfer, der „aus derselben Masse das eine Gefäß zur Ehre und das andere zur Unehre“ machen kann (Vers 21). Gott aber kümmert sich nicht darum. Er handelt völlig unabhängig von den anmaßenden Gedanken des Menschen. Er erweist seinen Zorn und tut seine Macht an den Gefäßen kund, die zum Verderben zubereitet sind (Vers 22). Es ist wichtig zu sehen, dass der Apostel hinsichtlich dieser Gefäße nicht sagt: welche Gott zum Verderben zubereitet hat; denn ehe Gott anfängt, sich in seinem Zorn und in seiner Macht an diesen Gefäßen zu verherrlichen, sind sie schon längst zum Verderben zubereitet; Er hat sie sogar bis dahin mit vieler Langmut ertragen, so dass sie keine Entschuldigung haben (Vers 22). Ihre eigene Sünde hat sie in diesen verwerflichen Zustand gebracht, worin sie mit Recht nichts anderes als den Zorn Gottes erwarten können. Dagegen hat Gott selbst die Gefäße der Begnadigung zur Herrlichkeit zuvor bereitet, um an ihnen den ganzen Reichtum seiner Herrlichkeit kundzutun (Vers 23).
Es werden uns hier also drei Grundsätze mit einer merkwürdigen Genauigkeit vorgestellt:
- Gott hat die Macht und das Recht, zu tun, was Er will, und niemand kann etwas dagegen einwenden;
- Gott handelt mit großer Geduld und Langmut gegen die Gottlosen, ehe Er an ihnen seinen Zorn offenbart,
- Er zeigt den ganzen Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen, die Er selbst zur Herrlichkeit zuvor bereitet hat – Gefäße, die Er sowohl aus den Juden als auch aus den Heiden berufen hat.
Die Souveränität Gottes zerstört also den Gedanken an eine ausschließliche Berufung der Juden zu den Verheißungen. Wollten sie sich auf ihre Abstammung von Abraham her stützen, so mussten sie, wie wir gesehen haben, auch ihre Feinde zulassen, die genauso Nachkommen Abrahams waren wie auch sie. Wollten sie sich auf das Gesetz berufen, so machte schon das goldene Kalb jedem Anrecht ein Ende. Nur das Erbarmen Gottes war noch die einzige Quelle zur Erlangung der Segnungen, und dieses freie Erbarmen berief sowohl aus den Juden als auch aus den Nationen (Vers 24). Gleichzeitig beweist diese Berufung, dass hier nicht von einer nationalen Auswahl die Rede ist.
Der Apostel zeigt dann, dass die Berufung der Heiden und die Auswahl aus Israel kein neuer Gedanke war, sondern mit der Lehre des Alten Testaments vollkommen übereinstimmte. Wenn man die aus Hosea angeführte Stelle (Kap 2,25) genau untersucht und sie mit der in 1. Pet 2,10 vergleicht, so wird man sehen, dass Petrus, der an gläubige Juden schrieb, nur die Stelle am Ende des zweiten Kapitels in Hosea anführt, wo Lo-Ammi (Nicht-mein-Volk) und Lo-Ruchama (Nicht-Geliebte) Ammi und Ruchama – Mein Volk und Geliebte – werden. Das wird natürlich allein von Israel gesagt. Paulus aber führt hier auch die Stelle aus dem ersten Kapitel des Propheten an, wo wir lesen, dass sie an dem Ort, an dem gesagt war: Ihr seid nicht mein Volk, Kinder des lebendigen Gottes genannt werden sollen (Vers 10). Diese letzte Stelle nun wendet Paulus auf die Heiden an, die durch diese Gnade berufen sind. Ebenso bestätigen aber auch hier die Stellen anderer Propheten auf eine ernste Weise das Gericht Gottes, das der Apostel hier durch den Geist den Juden ankündigt. Der Ausruf Jesajas über Israel kündigt dieses Gericht ganz deutlich und bestimmt an (Vers 27). Doch wird dieses Gericht in seinem Lauf abgebrochen werden, damit der Überrest errettet wird und aufgrund der unumschränkten Gnade die Segnungen erlangt (Vers 28). Auch hier erklärt derselbe Prophet, dass Israel, wenn Gott nicht Nachkommen übriggelassen hätte, Sodom und Gomorra gleich geworden wäre (Vers 29). Diesem Überrest gehört die Verheißung, und er wird auch die Segnungen erlangen. Es sind aber nicht ein Nachkommen, die sich selbst bewahrt haben, sondern die Gott übrig gelassen hat und wodurch allein Israel vor dem völligen Verderben bewahrt wird.
Am Schluss dieses Kapitels haben wir dann das moralische Urteil, das der Heilige Geist schon jetzt über den Zustand der Juden und Nationen ausspricht. Die Nationen haben nicht nach der Gerechtigkeit getrachtet und haben doch die Gerechtigkeit erlangt – nicht aber eine Gerechtigkeit auf dem Grundsatz der Werke, sondern auf dem Grundsatz des Glaubens (Vers 30). Israel dagegen hat nach einer Gerechtigkeit gesucht und hat keine gefunden, weil sie eine Gerechtigkeit auf dem Grundsatz der Werke und nicht die Gerechtigkeit auf dem Grundsatz des Glaubens suchten, die auch allein durch Glauben erlangt wird. Sie haben sich an dem Stein des Anstoßes, den Gott in Zion zur Offenbarung der Herzen der Menschen legte, gestoßen und sind gefallen (Vers 32). Christus ist dieser Eckstein und der einzige Grund, auf den die Gerechtigkeit aus Glauben gegründet ist. So ist also nun die Errettung für jeden – sei er Jude oder Heide – der an den glaubt, der den Juden ein Anstoß und den Griechen eine Torheit ist (Vers 32).
Fußnoten
- 1 Andere sind der Meinung, dass dieser Wunsch des Apostels nicht in die Zeit seines Apostelamts falle, sondern dass es einfach die Bezeichnung seines Zustandes sei, worin er sich vor seiner Bekehrung befunden habe. Zu jener Zeit habe er durch die Tat bewiesen, dass er aus Eifer für sein Volk und deren Vorrechte gewünscht habe, durch einen Fluch von Christus entfernt zu sein. Sie gründen diese Meinung besonders auf die verschiedenen Zeitformen des 2. und 3. Verses. Im 2. Verse spricht der Apostel in der Gegenwart und im 3. in der Vergangenheit; er sagt:,,Ich h a b e gewünscht.“ Dann aber auch sagen sie, dass der Apostel durch einen solchen an und für sich nutzlosen Wunsch nur bezeugt hätte, dass er sein Volk, – seine Brüder und seine Verwandten nach dem Fleisch – mehr liebte als Christus und dass Gott sicher an einem solchen Wunsch kein Wohlgefallen gefunden haben würde. – Es kann aber erwidert werden, dass man in Betreff der verschiedenen Zeitform bei dem Ausdruck:,,Ich habe gewünscht“, nicht nötig hat, bis zu dem Zeitpunkte zurückzugehen, an dem Paulus noch unbekehrt war. Der Gedanke an den traurigen Zustand seines Volkes erfüllte sein Herz mit großer Traurigkeit und unaufhörlichem Schmerz und hatte einmal eine solche Höhe erreicht, dass sein Gemüt durch den Wunsch mit fortgerissen wurde, an ihrer Stelle durch einen Fluch von Christus entfernt zu sein; und konnte er sich auch eines solchen Wunsches vor Gott nicht rühmen, so konnte er es doch vor seinem Volk, wenn seine Liebe gegen sie in Frage gestellt wurde. Es gibt noch einige andere Beispiele in der Heiligen Schrift, die geeignet sind, das Verständnis dieser Stelle zu erleichtern. Im 2. Buch Mose 32, 32 sehen wir z. B., dass Moses einen ähnlichen Wunsch aussprach, als nämlich Gott das Volk vertilgen wollte:,,Und nun, wenn du ihre Sünde vergeben wolltest! Wenn aber nicht, so lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast.“ – In 2. Kor 7,8 schreibt der Apostel an die dortige Versammlung, dass es ihn gereut habe, sie durch den ersten Brief betrübt zu haben. Und man könnte mit Recht fragen: wie konnte er das bereuen, da es dem Heiligen Geist gefallen hatte, durch ihn auf eine so ernste Weise an sie zu schreiben? Und weiter könnte man fragen: War es zu rechtfertigen, dass der Apostel, als er Titus nicht fand, von dem er Nachricht aus Korinth erwartete, wegen Unruhe seines Geistes die ihm vom Herrn in Troas geöffnete Tür nicht nutzen und dort wirken konnte? Diese Fragen aber werden nur dann eine richtige Antwort und wahre Würdigung finden, wenn die Liebe des Apostels, die er, wie er selbst sagt,,,besonders zu den Korinthern“ hatte, verstanden wird. Diese Liebe zu jener Versammlung, die doch in vielfacher Beziehung so traurig dastand, wird in der Tat durch diese Ausdrücke auf eine sehr innige und ergreifende Weise gezeigt, wenn auch seine Gefühle von einer anderen Seite beurteilt, zu seinem Nachteil ausgelegt werden können. Betrachten wir nun auch den fraglichen Wunsch des Apostels von jenem Gesichtspunkte aus, so wird uns die Erklärung gewiss nicht schwerfallen.