Der Brief an die Römer
Kapitel 4
Der Apostel hat nun von Kap 1,18 bis 3,20 den traurigen Zustand des Menschen – ob Jude oder Heide – entwickelt und von da an, bis zum Ende von Kapitel 3, das Blut Jesu Christi als die einzige und völlig genügende Antwort auf diesen Zustand dargestellt, indem er alle Gerechtigkeit aus Gesetzeswerken verwirft. Wenn nun aber der Jude durch das bisher Gesagte nicht hinreichend überzeugt war, dass der Mensch nur aus Glauben vor Gott gerechtfertigt werden kann, so gab es für ihn noch eine andere Tatsache von größerem Gewicht, dass nämlich Abraham von Gott berufen war, der Vater der Gläubigen zu sein; und in Wirklichkeit berühren jene Gedanken über das Gesetz die Frage der dem Abraham gemachten Verheißungen in keiner Weise.
Der Apostel wendet also hier die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben auf Abraham an, indem er zunächst die Lehre selbst sehr deutlich vorstellt (Verse 1–8) und dann dem Charakter und der Ausdehnung der Vorrechte und Segnungen Abrahams, worin die Juden mit Recht die Wurzel ihres nationalen Vorzugs sehen, den rechten Platz anweist (Verse 9–16). Am Schluss dieses Kapitels eröffnet er die neue Stellung, die die Auferstehung uns gibt (Verse 17–25). Wir empfangen in Christus Jesus beides – Gerechtigkeit und Leben, und darum kann auch die Heiligkeit des Lebens von der Rechtfertigung aus Glauben nicht getrennt werden. – Es sind demnach drei Gedanken, die in diesem Kapitel entwickelt werden:
- Abraham glaubte Gott.
- Abraham trat in die Segnungen des Glaubens ein, als er noch nicht beschnitten war.
- Sein Glaube umfasst die Kraft und das Leben der Auferstehung.
„Was sollen wir nun sagen, dass Abraham, unser Vater nach dem Fleisch, gefunden habe“ (Vers 1)? Auf diese Frage gibt der Inhalt des ganzen Kapitels ausführliche Antwort. – Abraham erlangte die Gerechtigkeit sowie die Verheißung, dass er der Welt Erbe sein sollte, auf dem Grundsatz des Glaubens und nicht der Werke des Gesetzes. „Denn wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, so hat er etwas zum Rühmen – aber nicht vor Gott“ (Vers 2). Der Mensch würde den aus Werken gerechtfertigten Abraham gepriesen haben, aber Gott konnte mit seiner Gnadengabe nur dem gläubigen Abraham begegnen. Die Schrift sagt in 1. Mose 15,6: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“ (Vers 3). Gott sprach und Abraham glaubte. Er sprach von sich selbst, als dem Geber der Segnung, als dem Gott der Gnade, und Abraham verherrlichte Ihn durch seinen Glauben. Dieser Glaube aber wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. – Wenn der Apostel Jakobus in seinem Brief in Kap 2,21 sagt: „Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak, seinen Sohn, auf dem Altar opferte“? – so will er, indem er hier von der Versuchung Abrahams spricht, die lange nachher folgte, einfach dem Scheinglauben entgegentreten und beweisen, dass der rechtfertigende Glaube Abrahams nicht ein toter, sondern ein lebendiger und wirksamer gewesen ist. Es war aber einfach der Glaube, der ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wurde.
Die beiden folgenden Verse (Verse 4 und 5) enthalten allgemeine Grundsätze, die einfach und bestimmt bezeugen, dass Gott nicht den Wirkenden, sondern den Glaubenden rechtfertigt. Christus hat sein teures Blut für Gottlose vergossen, und allein auf diesem Grund kann Gott dem Menschen begegnen, wenn Er ihn segnen will. Er handelt in vollkommener Gnade, indem Er den Gottlosen rechtfertigt. Dem Wirkenden würde der Lohn nicht nach Gnade, sondern nach Schuldigkeit gerechnet werden (Vers 4). Der Nichtwirkende hingegen, der da erkennt, dass er vor Gott nichts anderes als ein Sünder ist, ergreift Gott als den, der aufgrund des Blutes Christi den Gottlosen rechtfertigt, und sein Glaube wird ihm zur Gerechtigkeit gerechnet (Vers 5). Diese Gerechtigkeit hat mit dem Wirken des Menschen nichts zu tun; sie geht in vollkommener Reinheit aus Gott selbst hervor; ja, es ist seine eigene Gerechtigkeit, die dem Glaubenden aus freier Gnade geschenkt wird.
David, der sich unter dem Gesetz befand, spricht auch nicht von der Glückseligkeit der Täter dieses Gesetzes, sondern von der Glückseligkeit des Menschen, dem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet. Er preist den Menschen – wer er auch sein mag – glückselig, der zwar in sich selbst nichts anderes als ein Sünder ist, dem aber der in vollkommener Gnade handelnde Gott die Sünden nicht zurechnet, sondern sie bedeckt, und ihm die Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet (Verse 7 und 8).
„Diese Glückseligkeit nun – die Gerechtigkeit des Glaubens – beruht sie auf der Beschneidung oder auch auf der Vorhaut?“ (Vers 9). Der festgestellte Grundsatz ist, dass Abraham sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet wurde. War Abraham nun beschnitten, als er für gerecht erklärt wurde? Nein, er war noch in der Vorhaut. Die Gerechtigkeit ist deshalb aus Glauben und wird also den Unbeschnittenen aus Glauben zugerechnet – ein niederschmetterndes Zeugnis für den Juden, der alle seine Ideen von Vorrechten auf Abraham gründete. Diese Gerechtigkeit war nicht der Beschneidung, sondern dem Glauben des Abraham zugerechnet, und diese Zurechnung geschah, als er noch in der Vorhaut war (Verse 9 und 10). Die Beschneidung war also nicht das Mittel zu seiner Rechtfertigung, sondern nur das Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er in der Vorhaut hatte (Vers 11). Abraham ist also der Vater aller, die in der Vorhaut glauben, damit auch ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet werden kann und ist auch Vater der Beschneidung, d.h. der wahren Absonderung für Gott. In ihm begann Gott diese Absonderung. Inmitten des Bösen stellte Er den Menschen für sich beiseite. Es war aber für den Juden nicht genug, der Beschneidung anzugehören, sondern er musste in den Glauben Abrahams eintreten, wenn er an seinen Segnungen teilhaben wollte.
Der Apostel beweist jetzt, dass die dem Abraham und seinem Geschlecht gegebene Verheißung ebenso wenig vom Gesetz abhängig war wie auch die von Gott ihm zugerechnete Gerechtigkeit von der Beschneidung. Die Verheißung steht allein mit der Glaubens-Gerechtigkeit, die Abraham schon in der Vorhaut hatte, in Verbindung (Vers 13). Wenn aber die vom Gesetz Erben der Verheißung wären, so würde der Glaube nichts mehr sein, und auch die Verheißung wäre aufgehoben (Vers 14), weil das Gesetz Zorn bewirkt – es bringt Fluch statt Segen. Denn alle, die unter dem Gesetz sind, sind in Übertretung desselben und haben deshalb nicht die Verheißung, sondern den Zorn Gottes zu erwarten (Vers 15). Die Verheißung als solche hebt durchaus nicht die Frage der Sünde auf; aber diese hindert Gott nicht daran, das, was Er verheißen hat, auch zu erfüllen. Er kann aber bei Erfüllung seiner Verheißungen der Sünde wegen nur nach vollkommener Gnade handeln, und darum können auch alle – seien es Juden oder Heiden – nur auf dem Grundsatz des Glaubens Erben sein. „Darum ist es aus Glauben, damit es nach Gnade sei, damit die Verheißung der ganzen Nachkommenschaft fest sei, nicht allein der vom Gesetz, sondern auch der vom Glauben Abrahams, der unser aller Vater ist“ (Vers 16). Es ist also der Glaube und nicht das Gesetz, der Anspruch auf das Erbe gibt. Selbst die Juden konnten auf keinem anderen Weg erben, und den Nationen war ebenfalls durch ihn die Tür geöffnet. Auf diese Weise wurde das Wort erfüllt: „Ich habe dich zum Vater vieler Nationen gesetzt“ (1. Mo 17,5). Die Gnade sichert allen Gläubigen die Verheißung, sie mögen vom Gesetz sein oder nicht.
Wir haben nun gesehen, dass Abraham, als er noch in der Vorhaut war, durch Glauben – ohne das Gesetz und noch vor demselben – gerechtfertigt wurde; aber worauf ruhte sein Glaube? Auf dem Gott, „der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre“ (Vers 17). Für das Auge war keine Hoffnung vorhanden, um Vater vieler Nationen zu sein. Sein fast 100-jähriger Körper und der erstorbene Mutterleib von Sara waren sogar aller Hoffnung entgegen; allein sein Glaube hielt gegen alle Hoffnung an der Verheißung Gottes fest. Auf keinem anderen Weg als auf dem Weg des Glaubens – des Glaubens, der sich auf nichts Sichtbares gründete, sondern unerschütterlich an den Verheißungen Gottes festhielt – war es möglich, Vater vieler Nationen zu werden, wie denn seine Nachkommenschaft sein sollte (Verse 18 und 19). Abraham „zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern wurde gestärkt im Glauben, Gott die Ehre gebend, und war der vollen Gewissheit, dass er, was er verheißen hatte, auch zu tun vermag“ (Verse 20 und 21). Der Glaube allein gibt Gott die Ehre; jeder Unglaube aber verunehrt Ihn. Deshalb findet auch nur der Glaube Ruhm vor Gott; er wurde dem Abraham zur Gerechtigkeit gerechnet (Vers 22).
Diese Zurechnung der Gerechtigkeit ist aber nicht nur für Abraham vorhanden, sondern für alle Glaubenden, also auch für uns, „die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat“ (Verse 23 und 24). Der Apostel spricht hier nicht vom Glauben an Jesus, sondern an Gott – an den, der in die Region des Todes, in der Jesus unserer Sünden wegen lag, in Macht eingetreten ist und Ihn auferweckt hat. Die Auferstehung – sei es die des Christus oder die seiner Erkauften – ist die Frucht des machtvollen Handelns der Liebe Gottes, der Ihn unter den Folgen der Sünde, nachdem Er unsere ganze Sündenschuld getragen, weggenommen hat, so dass wir, wenn wir an den glauben, der Ihn also aus den Toten auferweckt hat, die ganze Tragweite des Werkes, auf die die Auferstehung das Siegel gedrückt hat, ergreifen. Wir ergreifen sowohl die Gnade als auch die Macht, die in diesem Werk dargestellt sind. So wie Gott im Blick auf Jesus gehandelt hat, so hat Er auch im Blick auf uns gehandelt. Er hat ein für alle Mal mit unseren Sünden ein Ende gemacht und hat uns, die Glaubenden, in Jesus versetzt – gerechtfertigt durch das, was Er getan hat, weil Er es für alle getan hat, die an Ihn glauben. Seine Dahingabe ist der vollkommenste Beweis unserer Übertretungen und seine Auferweckung der vollkommene Beweis unserer Rechtfertigung (Vers 25). Die Auferstehung, wie sie in Christus dargestellt wird, ist auch nicht nur einfach eine Auferstehung der Toten, sondern eine Auferstehung aus den Toten – die Frucht des Eingreifens Gottes, um in Gerechtigkeit den, der Gott verherrlicht hatte, aus den letzten Folgen der Sünde, d.h. dem Tod, hervorgehen zu lassen. Wenn wir nun an diesen Gott glauben, so verstehen wir, dass Er selbst es ist, der uns, indem Er uns lebendig machte, von allem, was die Sünde auf uns gebracht, erlöst hat, weil Jesus, für uns zur Sünde gemacht, für alle Gläubigen auf ewig die Sünden vernichtet hat.
Es ist auch zu bemerken, dass im vorliegenden Fall der Unterschied zwischen den Gläubigen des Alten Testaments und uns darin besteht, dass jene glaubten, Gott habe die Macht, seine Verheißungen zu erfüllen und dass wir an Ihn als den glauben, der Jesus, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat (Vers 24). Wir glauben nicht, dass Er es tun kann, sondern dass Er es getan hat.
Der Grundsatz der Auferstehung, den wir namentlich in diesen beiden letzten Versen bestätigt finden, wird nun in Kapitel 5 auf die Rechtfertigung, in Kapitel 6 auf das Leben des Gerechtfertigten, in Kapitel 7 auf das Gesetz und in Kapitel 8 auf die völlige Befreiung angewandt – er bildet gewissermaßen die Überschrift zu diesen vier Kapiteln.