Der Brief an die Römer
Einleitung
In keinem der Briefe, sowohl des Apostels Paulus als auch eines der übrigen Apostel, wird uns die Grundlage unserer Beziehungen zu Gott auf eine so deutliche und ausführliche Weise dargestellt, wie in dem Brief an die Römer. Der Apostel beginnt mit der Sünde des Menschen. Er wendet sich direkt an das Gewissen desselben, entwickelt danach die persönliche Rechtfertigung und zeigt gleichzeitig, wie der Gläubige von der Sünde freigemacht ist und worin der Charakter dieser Freiheit besteht.
Um aber diesen Brief in seinem Zusammenhang besser verstehen zu können, ist es nötig, sich mit dem Zustand der Versammlung in Rom etwas näher bekanntzumachen. Die damaligen Verhältnisse lassen uns schon in etwa auf diesen Zustand schließen, aber noch mehr Belehrung gibt uns der Brief selbst darüber. Doch ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, wollen wir nur die eine Tatsache hervorheben, dass die Versammlung in Rom aus Christen bestand, die sowohl aus den Juden, als auch aus den Nationen waren. Jene rühmten sich ihrer fleischlichen Vorrechte und waren beschäftigt, jüdische Elemente einzuführen, während diese jene Vorrechte ganz und gar geringschätzten und in Gefahr standen, eine fleischliche Freiheit aufzurichten. Solche Zustände gaben nicht nur zu allerlei lieblosen Reibungen Anlass, sondern, was noch schlimmer ist, sie waren sehr geeignet, den Boden der Wahrheit zu lockern und zu verunreinigen. Der Apostel, diese Gefahr erkennend, tritt ihr als treuer Diener der Wahrheit durch eine vollkommene Entwicklung der Grundsätze von der Lehre des Heils entgegen – eine Entwicklung, die allen Ruhm des Menschen, sei er Jude oder Heide, völlig ausschließt und die Verherrlichung Gottes eindeutig ans Licht bringt.
Nach einer kurzen Einleitung von Kap 1,1–16, die die frohe Botschaft der Gnade darstellt, beginnt der Apostel sofort damit, die Sünden der Nationen und Juden aufzudecken. Er zeigt die Verantwortlichkeit und den völlig verderbten Zustand des Menschen. Mag er unter Gesetz oder ohne Gesetz, Jude oder Heide sein – er ist verloren (siehe Kap 1,16 – 3,20).
Am Ende dieser Beschreibung des verlorenen Zustandes des Menschen, von Kap 3,21–31, offenbart er das alleinige und völlig ausreichende Heilmittel für diesen Zustand – das Blut des Christus. Dieses Blut offenbart sowohl die Gerechtigkeit Gottes wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter seiner Nachsicht als auch seine Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass Er nämlich gerecht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist. Der Mensch, ob Jude oder Heide, kann nur durch Glauben aufgrund des Werkes Christi gerechtfertigt werden; diese Wahrheit warf alle Ansprüche der Juden auf ihre vermeintlichen Vorrechte völlig zu Boden.
Die Juden rühmten sich aber nicht nur des Gesetzes, sondern auch ihrer fleischlichen Abstammung von Abraham. Deshalb beweist der Apostel jetzt, dass sowohl Abraham als auch David bezeugten: Der Mensch wird aus Glauben gerechtfertigt und findet sein Heil allein in der Vergebung. Diese Berufung auf Abraham gibt nun zur Entfaltung eines neuen und höchst wichtigen Grundsatzes Veranlassung, nämlich zu der Einführung des Menschen in einen ganz neuen Zustand vor Gott durch die Auferstehung – in einen Zustand, in dem die Sünde nicht mehr herrscht, in dem der Mensch gerechtfertigt ist, nicht nur, indem er Vergebung seiner Sünden hat, sondern auch, weil er vor Gott angenehm ist (Kap 4).
Diese Auferstehungslehre wird in Kap 5 auf unsere Rechtfertigung angewandt, in Kap 6 auf das neue Leben in Christus, dessen Kraft es ist, sich der Sünde für gestorben zu halten, in Kap 7 auf die Befreiung vom Gesetz. In Kap 8 endlich wird uns der Zustand des befreiten Christen vorgestellt, dessen Befreiung auf dem Werk Christi ruht, dessen Freude eine Folge der Teilhaftigkeit des Lebens Christi ist und dessen Erlösung sich auch auf seinen Körper ausdehnen wird.
Jetzt bleibt noch eine andere Frage zur Beantwortung übrig. Der Apostel hatte in dem Vorhergehenden bewiesen, dass die Juden, betrachtet unter dem Gesetz, nichts zu ihrer Rechtfertigung beitragen konnten. Das Gesetz verdammte sie sogar. Was aber konnte nun im Blick auf die Verheißungen gesagt werden? Gott hatte die Verheißungen ohne Bedingung gegeben. Diesen Gegenstand behandelt der Apostel von Kap 9 bis 11.
In Kap 9 zeigt er, dass die Juden, obwohl sie Abrahams Nachkommen sind, doch wegen Unglauben und Ungehorsam mit Recht verworfen werden konnten, weil ja auch Ismael und Esau, von demselben Vater stammend, von den Vorrechten ausgeschlossen waren, indem diese dem Jakob und seinem Nachkommen zuerkannt wurden. Sie mussten folglich die Unumschränktheit Gottes anerkennen, und Gott war deshalb auch vollkommen frei, die Aussprüche der Propheten im Blick auf die Berufung der Nationen auszuführen.
In Kap 10 zeigt er, dass die Juden, wie diese Propheten geweissagt hatten, sich an dem Stein des Anstoßes gestoßen und sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen hatten. Ist dann infolgedessen das Volk ganz und gar verworfen? Gewiss nicht, denn in Kap 11 beweist der Apostel zunächst, dass ein Überrest vorhanden war, danach, dass die Berufung der Nationen bezweckte, die Juden zur Eifersucht zu reizen und schließlich, dass der Erretter aus Zion kommen werde.
Aufgrund der völligen Gleichstellung der Juden und Nationen, sowohl hinsichtlich ihres verlorenen Zustandes als auch im Blick auf das Mittel zu ihrer beiderseitigen Errettung und aufgrund ihrer völligen Einheit als Gerechtfertigte aus Glauben an Christus, ermahnt der Apostel sie jetzt zur brüderlichen Einheit – in Ehrerbietung einer den anderen zu übertreffen, jede Reibung zwischen Brüdern aus Juden und Nationen zu vermeiden und eine gegenseitig herzliche Liebe zu haben. Er fügt noch viele andere Ermahnungen im Blick auf unseren geistlichen Wandel auf dieser Erde hinzu (Kap 12 – 15) und schließt dann seinen Brief mit vielen Grüßen an mehrere Gläubige der Versammlung, die sich durch ihre Bewährung ausgezeichnet hatten und ihm persönlich bekannt waren (Kap 16).
Was nun den Charakter des von Paulus verkündigten Evangeliums betrifft, so ist es gut, hier einige Worte darüber zu sagen:
Gleich nach seiner Berufung predigte er in Damaskus Christus, als den Sohn Gottes (Apg 9,20). Das bisherige Zeugnis der Apostel, wie in den ersten acht Kapiteln der Apostelgeschichte deutlich wird, hatte den von dem Volk Israel verworfenen und gekreuzigten, aber von Gott anerkannten und auferweckten Messias oder Gesalbten zum Gegenstand. Gott hat Ihn auferweckt und zum Herrn und Christus gemacht, und das Volk Israel wurde durch die Gegenwart und das Zeugnis des Heiligen Geistes aufgefordert, Ihn in dieser neuen Stellung durch Buße und Glauben anzuerkennen. Es war also ein Zeugnis, das sich auf das Verhältnis zwischen Gott und seinem irdischen Volk bezog. Israel aber verweigerte diese Anerkennung und verwarf dieses Zeugnis des Heiligen Geistes endgültig in der Steinigung des Stephanus, „ein Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes“ (Apg 6,5; 7,57–60). Jetzt hatte Israel auch das letzte Zeugnis verworfen, und es blieb für dasselbe nur noch das Gericht übrig. Doch die Vollziehung dieses Gerichtes ist noch nicht erfolgt. Israel, auch wenn schon lange als Nation ganz und gar beiseitegesetzt, hat dieses endgültige Gericht immer noch zu erwarten.
Sobald nun Israel alles verworfen hatte, erweckte Gott Paulus, offenbarte ihm ein neues Zeugnis, das jener sein Evangelium nennt. Dieses Zeugnis, wozu Paulus als Apostel berufen wurde, hatte nicht Christus als Messias, sondern als Sohn Gottes zum Gegenstand. Es bezog sich nicht auf ein Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk, sondern auf das Verhältnis zwischen Gott und seinen Kindern.