Elia, der Tisbiter
Flucht
Vielleicht erscheint es verwunderlich, dass Elia, ein Mann, der moralisch so viel höher stand als Ahab, vom Karmel bis Jisreel dem Wagen des Königs vorauslief – eine nicht unbedeutende Strecke. Er ehrte den König damit gemäß der Aufforderung in 1. Petrus 2,17. Dies ist für die Heiligen Gottes immer die geziemende Haltung gegenüber den Gewalten und Regierungen, unabhängig von deren persönlichem Charakter. Jeder Herrscher, wer er auch sein mag und zu welcher Zeit und in welchem Land er auch sein mag, ist ein Beauftragter Gottes. Er mag selbst zu ungeistlich sein, um dies zu verstehen, aber der Glaube erkennt es an und handelt entsprechend.
Wir können uns vorstellen, wie Elia die Stadt erreichte: vom Regen ganz durchnässt, äußerst hungrig und sehr erschöpft. Aber hatte er überhaupt hierher kommen sollen? Er hatte es zweifellos aufrichtig und gut gemeint, wie Paulus auf seiner letzten Reise nach Jerusalem (Apg 21). Die ausdrückliche Anweisung des Herrn führte Elia an den Bach Krith, nach Zarpat und zweimal in die Gegenwart Ahabs. Aber in Verbindung mit seinem Weg nach Jisreel wird das Wort des Herrn nicht erwähnt.
Hatte er Isebel vergessen? Diese gewalttätige Frau besaß eine nicht zu unterschätzende Macht. Von einem Mann, der die Glaubensgewissheit besaß, dass Gott seine Schritte lenkte, brauchte sie jedoch nicht gefürchtet zu werden. Der Herr lehrte seine Jünger zu beten „Führe uns nicht in Versuchung“ (Mt 6,13), denn wir können uns nicht vorstellen, wie schwach wir in Prüfungen werden können.
Wenn nun angeführt wird, dass die Hand des Herrn über Elia kam und ihm folglich auch dadurch die Kraft für diese Wegstrecke gegeben wurde, ist das doch nicht der Beweis, dass der Herr ihn auch gesandt hatte. Denn es wurde auch ein Engel vom Himmel gesandt, um ihm eine Mahlzeit zuzubereiten, als er nach Horeb floh – eine Reise, die er höchstwahrscheinlich auch nicht durch das Wort des Herrn unternommen hatte.
Der armselige, schwächliche Ahab berichtete Isebel nach seiner Rückkehr vom Berg Karmel alles, was sich dort zugetragen hatte, ganz besonders die Vernichtung der Propheten. In ihrem Zorn sandte Isebel eine Botschaft an Elia: „So sollen mir die Götter tun und so hinzufügen, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dein Leben dem Leben eines von ihnen gleichmache!“ (1. Kön 19,2). Diese Botschaft wurde Elia vermutlich sehr schnell überbracht, und der Bote Isebels wird Elia deshalb in einem körperlich schwachen Zustand angetroffen haben.
Elia scheint nicht in der Lage gewesen zu sein, die Drohung in Ruhe zu betrachten, geschweige denn, sie vor dem Herrn auszubreiten. Ein wenig Nachdenken hätte ihm deutlich gemacht, dass es sich um eine leere Drohung handelte, denn warum sollte Isebel ihm ihre Tötungsabsicht für den nächsten Tag überhaupt ankündigen? Ihre Boten hätten ihn mit Leichtigkeit sofort töten können, so wie die Henker des Herodes Johannes den Täufer enthaupteten (Mk 6,27.28). Es sieht eher danach aus, als wäre das wirkliche Ziel Isebels gewesen, Elia aus dem Land zu vertreiben, damit sein Einfluss in Bezug auf ihre bösen Absichten nicht zu stark würde. Die öffentliche Meinung war zu diesem Zeitpunkt zugunsten des Propheten und es wäre politisch unklug gewesen, ihn zu töten.
Von Chrysostomos von Konstantinopel wird berichtet, dass er auf eine drohende Botschaft der Kaiserin Eudoxia antworten ließ: „Gehe hin, sage Ihrer Majestät, dass ich nichts anderes fürchte, als zu sündigen.“ Doch dies schien für Elia in diesem kritischen Augenblick nicht möglich zu sein. Mit Recht ist gesagt worden, dass der Glaube in uns nie schwächer ist als nach einem großen Sieg! Wir sehen das bei David. In 1. Samuel 26, als Saul in seiner Gewalt war, und er es ablehnte, ihm Schaden zuzufügen, errang er einen moralischen Sieg über sich selbst. Das nächste, was wir von ihm lesen, ist: „Und David sprach in seinem Herzen: Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen; mir ist nichts besser, als dass ich schnell in das Land der Philister entkomme“ (1. Sam 27,1). Was für ein Zusammenbruch des Glaubens!
Gott hatte David sicher durch viele Gefahren hindurchgetragen; nun schien sein Vertrauen auf Gott zu Ende zu sein. So war es auch bei Elia in 1. Könige 19. Mit ruhigem Mut hatte er auf dem Berg Karmel den Menschenmengen gegenübergestanden. Nun wurde er durch die Stimme einer Frau von Angst erfüllt! Im Garten Gethsemane in Gegenwart der Soldaten war Petrus kühn genug, aber unter den Dienstmädchen wurde er zu einem erbärmlichen Feigling! Der echten Gefahr widerstand er kühn, aber wo es keine Gefahr zu geben schien, fürchtete er das Schlimmste. Was sind wir doch für schwache Geschöpfe! König, Prophet und Apostel versagen derart! Sind wir besser als sie? Lasst uns wachen und beten, damit wir nicht in Versuchung kommen (Mt 26,41). Eines Tages traten einige Pharisäer an den Herrn Jesus heran und sagten: „Geh hinaus und zieh von hier weg, denn Herodes will dich töten“ (Lk 13,31). Der vollkommene Knecht Gottes durchschaute ihre Handlung. Herodes selbst hatte diese Botschaft hervorgerufen. Er wünschte, dass der Herr Jesus seine Grenzen verlassen sollte. Aber Herodes hatte kein Verlangen danach, einen weiteren Mord zu begehen, denn der Tod Johannes des Täufers beunruhigte noch immer sein Gewissen. Der Herr Jesus aber wies es ab, den Pfad des Gehorsams zu verlassen (Lk 13,32–33). Als der letzte Abend kam, ging Er der Gewohnheit nach an den Ölberg, obwohl Er genau wusste, was Ihn erwartete (Lk 22,39).
Die Drohung Isebels überwältigte Elia: „Und als er das sah, machte er sich auf und ging fort um seines Lebens willen“ (1. Kön 19,3). Ganz im Gegensatz zu Paulus, der gesagt hatte: „Aber ich nehme keine Rücksicht auf mein Leben als teuer für mich selbst“ (Apg 20,24) und: „Ich bin bereit,... auch in Jerusalem für den Namen des Herrn Jesus zu sterben“ (Apg 21,13).
„Und als er das sah“ – Es hängt alles davon ab, was unser Auge sieht – egal, ob wir stark oder schwach sind. Der Anblick des verherrlichten Christus bestärkte Stephanus darin, zu leiden und zu sterben (Apg 7,54–60), und Paulus bestärkte er darin, zu leiden und zu leben (Kol 1,11). Elia konnte hier nicht mehr sagen: „So wahr der HERR lebt, der Gott Israels, vor dessen Angesicht ich stehe“ (1. Kön 17,1). In diesem Augenblick waren seine Blicke nicht mehr auf Gott gerichtet. Sein Weggehen von Isebel war kein bloßes Sich-Zurückziehen wie bei dem Herrn Jesus in Johannes 11,54 – es war reine Panik! Es kam ihm sogar noch nicht einmal in den Sinn, in dem Herrschaftsgebiet des gottesfürchtigen Königs Josaphat Schutz zu suchen. Er eilte durch das Land Juda bis nach Beerseba im äußersten Süden. Dort ließ er seinen Diener zurück und ging noch weiter, um tatsächlich das Land Gottes vollständig zu verlassen!
Wir sollten die Belehrung hieraus nicht übersehen! Es ist immer möglich, dass der persönliche Glaube eines Menschen mit der Größe seines Zeugnisses nicht übereinstimmt. In so einem Fall wird der Druck der quälenden Umstände früher oder später zu einem Zusammenbruch führen. Meinen wir auch immer das, was wir sagen? Ist Gott für unsere Seelen wirklich das, was Er durch unsere Worte für uns zu sein scheint? Dies sind ernste Fragen, denen sich jeder Zeuge Gottes stellen muss! Wir müssen wachsam sein und beten, damit nicht Umstände eintreten, in denen offenbar wird, dass wir nicht solche Glaubenshelden sind, wie wir zu sein scheinen.
Nachdem Elia eine Tagereise weit in die Wüste gegangen war, setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und sprach zu Gott – wahrscheinlich seine ersten Gebetsworte, seit er Jisreel verlassen hatte. „Und er bat, dass er sterben dürfe“ (1. Kön 19,4). Unglaube ist immer unvernünftig und widersprüchlich. Wenn der Prophet wirklich zu sterben wünschte, warum flüchtete er dann vor Isebel? Warum wollte er dann nicht den Tod eines Märtyrers inmitten des Volkes Gottes sterben? Der Herr stand nicht mehr an erster Stelle in seinen Gedanken. Er hatte nicht mehr die Herrlichkeit Gottes vor Augen, sondern das, was er als vorteilhaft für sich selbst ansah! Das Leben war für ihn nun eine große Enttäuschung! Sein Dienst in Israel war in seinen Augen völlig fehlgeschlagen. Wie gnädig ist unser Gott, dass Er nicht immer nach den Reden seiner schwachen Knechte handelt. Es lag in Gottes Plan, dass Elia überhaupt nicht sterben sollte, dass er diese Welt verlassen sollte, wie nie jemand vor ihm und nach ihm!
Paulus hatte in Philipper 1 eine ganz andere Blickrichtung als Elia. Nach menschlicher Beurteilung war sein Dienst ebenfalls fehlgeschlagen und er selbst saß im Gefängnis und hatte den drohenden Märtyrertod vor Augen. In der Gegenwart Gottes überdachte er mit Ruhe und Gelassenheit die Situation. Er war in einer großen Bedrängnis (Phil 1,23). Wenn er seine eigenen Interessen an die erste Stelle gesetzt hätte, wäre sein Wunsch gewesen, „abzuscheiden und bei Christus zu sein“. Das wäre für ihn glückseliger als die glücklichsten Erfahrungen hier auf der Erde. Aber er dachte auch an die Bedürfnisse der Heiligen, deshalb wünschte er, noch etwas länger auf der Erde bleiben zu können. Aber in jedem Fall war es sein einziges Begehren, dass Christus „erhoben werden wird an meinem [d. i. Paulus'] Leib, sei es durch Leben oder durch Tod“ (Phil 1,20).
Die Bitte Elias war kurz und deutlich, wie es seine Art war: „Es ist genug; nimm nun, HERR, meine Seele, denn ich bin nicht besser als meine Väter“ (1. Kön 19,4). In diesen Worten ist möglicherweise das Geheimnis seines Versagens verborgen. Wer hatte je gesagt, dass er besser sei als seine Väter? Vielleicht hatte ihn sein Erfolg auf dem Berg Karmel aufgebläht. Ganz allein hatte er große Dinge für Gott vollendet. Sollte dies tatsächlich bewirkt haben, dass ein gewisses Gefühl der Wichtigkeit oder gar der Unentbehrlichkeit in ihm entstand? Das ist ein Herzenszustand, der in jedem von uns leicht aufkommen kann – aber er ist verhängnisvoll für unsere Nützlichkeit. Vor vielen Jahren musste ich mich von einem alten Diener Christi, der kurz vor seinem Eingehen in die Gegenwart des Herrn stand, verabschieden. Als wir uns zum Abschied die Hände reichten, sagte er: „Lebe wohl, geliebter Bruder. Denke daran: Wenige Menschen sind wichtig, aber niemand ist unbedingt notwendig.“ Das sind gesunde Worte, über die man nicht leichtfertig hinweggehen sollte. Es ist eine unaussprechliche Ehre, wenn der große Gott einen von uns in seinem Dienst gebrauchen will. Aber wir sollten nie glauben, Er könnte es nicht auch ohne uns tun!
Elia schlief ein. Das ist verständlich, da er sicher völlig erschöpft war. Nach einiger Zeit (wir können annehmen, dass dies nicht allzu schnell geschah) rührte ihn ein Engel an und sagte: „Steh auf, iss!“ (1. Kön 19,5). Als er um sich blickte, sah er einen auf heißen Steinen gebackenen Kuchen und einen Krug Wasser. Nachdem er sich gestärkt hatte, schlief er wieder ein. Hier haben wir eine wirklich wunderbare Darstellung der Güte und Freundlichkeit Gottes. Ein Engel wurde vom Himmel gesandt, um einem fehlerhaften Diener eine Mahlzeit zuzubereiten, obwohl dieser einen wichtigen Dienstposten verlassen hatte und weit weg von dem Ort war, an den Gott ihn geleitet hatte! Wie gnädig ist Gott zu Menschen, die gestrauchelt sind! Wie gütig ist Er zu denen, die Fehler gemacht haben!
Wenn wir diesen Dienst des Engels mit den Erfahrungen des Propheten am Bach Krith vergleichen, kommen wir zu folgendem Schluss: Als Elia in Übereinstimmung mit Gott war, musste nur den Bedürfnissen seines Leibes entsprochen werden und für diesen Dienst genügten Raben. Aber jetzt, wo seine innere Haltung vor Gott nicht richtig war, war mehr notwendig, als die leiblichen Bedürfnisse zu stillen. Gott wollte jetzt sein Herz erreichen. Die Aufmerksamkeiten des Engels sollten für den Propheten eine deutliche Zusicherung davon sein, dass Gott ihn noch immer liebte und für ihn sorgte, trotz seines schweren Versagens. Elia hätte anhand dieser Fürsorge erkennen können, wie tief die Gefühle Gottes für sein abtrünniges Volk Israel waren. Die Klagen des Propheten am Berg Horeb werden uns zeigen, dass er dem Volk gegenüber nicht die gleichen Gefühle hatte wie Gott. Zum zweiten Mal weckte ihn der Engel und sagte: „Steh auf, iss! Denn der Weg ist sonst zu weit für dich“ (1. Kön 19,7). Es war der Weg fort von einem Ort, zu dem er eigentlich nie hätte gehen sollen.
Johannes 21 berichtet von einem anderen Fall, bei dem die göttliche Liebe eine Mahlzeit für ungehorsame Knechte vorbereitet hat. Es war nicht ein Engel, sondern der Herr Jesus selbst, der das Frühstück mit den Fischen zubereitete. Die sieben frierenden, nassen und hungrigen Jünger, die, anstatt geduldig auf ihren Herrn zu warten, im Eigenwillen auf Fischfang gegangen waren, wurden ohne ein Wort des Tadels von Ihm selbst am wärmenden Feuer empfangen und gespeist!
Es ist ein köstlicher Gedanke, dass Gott seine Heiligen nie aufgibt, wie fehlerhaft sie auch sein mögen. Vor langer Zeit war ich bei einer Wortbetrachtung, bei der es darum ging, dass ein Mensch, der an den Herrn Jesus glaubt, in dem ewigen Sonnenschein der Gunst Gottes steht. Dabei stellte jemand die Frage: „Aber was geschieht, wenn ich Ihm den Rücken zukehre?“ Die Antwort war: „Dann wird Er auf deinen Rücken scheinen!“ Gott wusste, dass sein schwacher Knecht Elia körperlich völlig erschöpft war, und Er handelte mit Ihm seinem Zustand entsprechend. Unser verachtenswerter Feind bevorzugt es, die Kinder Gottes gerade zu solchen Zeiten anzugreifen. Leider hat er oft Erfolg dabei. Der Herr Jesus war vierzig Tage ohne Nahrung gewesen, als Satan sich Ihm in der Wüste näherte und Ihm vorschlug, Steine zu Brot zu machen, aber bei diesem heiligen Knecht Gottes hatte er keinen Erfolg. Ganz gleich, ob Er satt oder hungrig war, niemals wollte Er auch nur in den geringsten Dingen etwas ohne ein Wort von Gott tun (Mt 4,4).
Während ich diese Zeilen schreibe, gibt es in der Welt größere Spannungen, als sie die Menschen je gekannt haben. Viele geliebte Kinder Gottes sind erschöpft. Immer wieder gibt es Bombenalarme, Besitztümer werden zerstört, viele haben geliebte Angehörige verloren. Gleichzeitig fehlt es im Alltag an Unterstützung. Wenn die körperliche Energie sinkt, sind die Versuchungen des Teufels sehr ernst und schwer. Der Glaube kann nur dann auf seiner wahren Höhe erhalten bleiben, wenn wir uns jeden Augenblick abhängig von Gott wissen. Keine Lebensumstände sind seiner überreichen Gnade zu schwer!