Einführende Vorträge zur Apostelgeschichte
Kapitel 24-26
Paulus jedenfalls wurde gerettet und betrat einen neuen Schauplatz. Ananias, der Hohepriester, kam mit den Führern des Volkes herab, um ihr Glück hinsichtlich des Gefangenen vor dem Landpfleger zu versuchen. Dazu dingten sie einen Berufsredner, um ihren Fall zu vertreten. Während er seine Rede mit gröbster Schmeichelei und schwülstiger Sprache begann, antwortete der Apostel mit einer auffallend bewundernswerten und ruhigen Würde, wie sie den Umständen genau angemessen war.
Dabei legte der Apostel, als der Landpfleger ihm zu sprechen erlaubte, dar, wie gänzlich falsch alle Anklagen dieses gemieteten Schönredners waren. Er liebte seine Nation zu sehr, um in irgendeiner Weise als der Unruhestifter aufzutreten, als den man ihn anklagte. „Indem du erkennen kannst, dass es nicht mehr als zwölf Tage sind, seit ich hinaufging, um in Jerusalem anzubeten. Und sie haben mich weder in dem Tempel mit jemand in Unterredung gefunden, noch einen Auflauf der Volksmenge machend, weder in den Synagogen noch in der Stadt“ (V. 11–12). Es stimmte also nicht, was Tertullus vorgetragen hatte, indem er sagte: „Wir haben diesen Mann als eine Pest befunden und als einen, der unter allen Juden, die auf dem Erdkreis sind, Aufruhr erregt, und als einen Anführer der Sekte der Nazaräer; welcher auch versucht hat, den Tempel zu entheiligen“ (V. 5–6). Paulus war erst wenige Tage in Jerusalem gewesen, um dort anzubeten und nicht um Unruhe zu stiften. „Auch können sie das nicht dartun, worüber sie mich jetzt anklagen. Aber dies bekenne ich dir, dass ich nach dem Wege, den sie eine Sekte nennen, also dem Gott meiner Väter diene, indem ich allem glaube, was in dem Gesetz und in den Propheten geschrieben steht, und die Hoffnung zu Gott habe, welche auch selbst diese annehmen, dass eine Auferstehung sein wird, sowohl der Gerechten als der Ungerechten“ (V. 13–15). Dann stellte er freimütig heraus, was ihn in diese Situation gebracht hatte. „Aber (ich) kam her, um Almosen für meine Nation und Opfer darzubringen“ (V. 17). Er liebte sein Volk wirklich. „Wobei sie mich gereinigt im Tempel fanden“, fuhr er fort, „weder mit Auflauf noch mit Tumult; es waren aber etliche Juden aus Asien, die hier vor dir sein und Klage führen sollten, wenn sie etwas wider mich hätten“ (V. 18–19). Diese Zeugen waren aber nicht anwesend. Tatsächlich lag nichts Greifbares gegen ihn vor. Es handelte sich allein um einen Ausbruch priesterlichen Hasses und öffentlicher Wut, gefolgt von einer Verschwörung zum Mord. Nachdem alles dies sich als vergeblich erwiesen hatte, suchten sie eine gerichtliche Verurteilung. Erkennen wir darin nicht ausschließlich den bösen Willen und die Schlechtigkeit des Menschen? Nichts anderes war der Ursprung dieser Angelegenheit und ihr Charakter.
„Felix aber ... beschied sie auf weiteres und sagte: Wenn Lysias, der Oberste, herabkommt, so will ich eure Sache entscheiden. Und er befahl dem Hauptmann, ihn zu verwahren und ihm Erleichterung zu geben“ (V. 22–23). Sein durch Erfahrung geschultes Auge erkannte sofort den Stand der Dinge: Es lag nicht der geringste Grund für die Anklagen gegen den Apostel vor. Daraus folgte auch der ungewöhnliche Befehl in Bezug auf Erleichterung sowie auf Freiheit für Paulus' Verwandte und Bekannte, zu ihm zu kommen und ihm zu dienen. Wir lesen jedoch noch mehr. „Nach etlichen Tagen aber kam Felix mit Drusilla, seinem Weibe, die eine Jüdin war, herbei und ließ den Paulus holen und hörte ihn über den Glauben an Christum“ (V. 24). Es gab jedoch keinen Kompromiss; Felix musste hören, was er nicht erwartet hatte. Jetzt war es nicht mehr die Auferstehung, sondern ein sittlicher Appell an sein Gewissen, so wie es hier beschrieben ist, „über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit und das kommende Gericht“ (V. 25). Alles hat seine Zeit; und dies war genau das passende Wort an den Mann und die Frau, zu denen Paulus redete. Es war völlig angebracht. Jeder, der mit der Lebensgeschichte dieser Persönlichkeit vertraut ist – denn Felix ist ein in der Geschichte wohlbekannter Mann –, weiß, dass er gerade in den dargelegten Dingen besonders schuldig war. So trafen die Worte des Apostels unmittelbar seine sittlichen Vergehen und verurteilten sie.
Infolgedessen fürchtete Felix sich und sprach davon, später Weiteres zu hören. Aber diese gelegene Zeit kam niemals wieder. „Zugleich hoffte er, dass ihm von Paulus Geld gegeben werden würde“ (V. 26). Wie wahr und wie angebracht war es also, dass Paulus ihn auf Gerechtigkeit hingewiesen hatte! „Zugleich hoffte er, dass ihm von Paulus Geld gegeben werden würde; deshalb ließ er ihn auch öfter holen und unterhielt sich mit ihm.“ Auch in dem Folgenden erkennen wir den Charakter dieses Mannes. „Als aber zwei Jahre verflossen waren, bekam Felix den Porcius Festus zum Nachfolger; und da Felix sich bei den Juden in Gunst setzen wollte, hinterließ er den Paulus gefangen“ (V. 27). Von diesem ungerechten Richter konnte man keine Gerechtigkeit erwarten. Ihm fehlte es nicht an Einsicht, Weisheit oder Urteilsvermögen. Er besaß dies alles; und das war für ihn umso schlimmer. Er war indessen bereit, alles um eigensüchtiger Ziele willen zu opfern. Sein Verlangen nach Geld wurde enttäuscht. Jetzt hinterließ er Paulus gefangen, um jenen Juden, die er von Herzen verachtete, zu gefallen. Er wollte sich bei ihnen beliebt machen, ohne dass es ihn persönlich etwas kostete.
In
Kapitel 25
tritt Festus vor unsere Blicke. Ihn beseelte derselbe Wunsch. Er war nicht besser als sein Vorgänger. Sonderbarerweise schlug er vor, dass Paulus nach Jerusalem hinaufgehen sollte. Das war bei einem römischen Landpfleger – dem Hauptrepräsentanten des Reiches – unerhört: Er wollte eine Person, die vor ihn gestellt worden war, nach Jerusalem zurückzusenden, um dort von den Juden gerichtet zu werden! Paulus nahm sofort den wohlbekannten Grundsatz des Römischen Reiches ein, der eigentlich auch Festus hätte leiten müssen. Er sagte: „Ich stehe vor dem Richterstuhl des Kaisers, wo ich gerichtet werden muss; den Juden habe ich kein Unrecht getan, wie auch du sehr wohl weißt. Wenn ich nun Unrecht getan und etwas Todeswürdiges begangen habe, so weigere ich mich nicht zu sterben; wenn aber nichts an dem ist, wessen diese mich anklagen, so kann mich niemand ihnen preisgeben. Ich berufe mich auf den Kaiser“ (V. 10–11). Hier handelt es sich eindeutig um einen Fall geistlichen Unterscheidungsvermögens. Damit hatte sich Paulus auf diesen Kurs festgelegt, so dass er später tatsächlich vor den Kaiser trat. Er war unwiderruflich. Menschen konnten ihn nicht mehr ändern. Paulus hatte den Satz ausgesprochen, also musste er vor den Kaiser treten. Nichtsdestoweniger lesen wir, dass kurze Zeit später Agrippa herabkam; und der römische Landpfleger, der den regen Verstand des Königs kannte, erzählte ihm Paulus' Geschichte. Er empfand seine Schwachheit im Umgang mit dieser Angelegenheit und wusste von der Anteilnahme Agrippas. Daraufhin sagte Agrippa dem Landpfleger, dass er selbst jenen Mann gerne einmal hören wollte.
„Als nun des folgenden Tages Agrippa und Bernice mit großem Gepränge gekommen und mit den Obersten und den vornehmsten Männern der Stadt in den Verhörsaal eingetreten waren, und Festus Befehl gegeben hatte, wurde Paulus vorgeführt“ (V. 23). Hier finden wir einen sehr bemerkenswerten Gegensatz zu all dem Glanz und Pomp des königlichen Hofes. Der König selbst war ein sehr fähiger Mann, doch in sittlicher Hinsicht kraftlos. Seine Frau 1 hingegen, begünstigt in natürlicher Hinsicht, war, ach!, völlig charakterlos. Beide befanden sich sogar bei den Nichtjuden unter dem Schatten eines außerordentlich peinlichen Verdachts – wie viel mehr bei den Juden! Das waren die Menschen, welche zusammen mit dem römischen Landpfleger über den Apostel zu Gericht saßen. Und dann trat der mit Ketten gebundene Gefangene vor sie! Doch was für eine Kluft trennte sie von ihm! Welch ein Unterschied in den Augen Gottes! Was für ein Anblick bot sich Ihm, als Er diese Richter im Umgang mit einem solchen Mann wie Paulus sah, ohne dass sie den geringsten Fetzen hatten, der als Bedeckung vor Ihm bestehen konnte – ja, in schändlichsten und entwürdigendsten Umständen! In all dem Glanz ihres hohen Ranges auf der Erde und weltlicher Erhabenheit saßen sie da, um den armen, aber reichen Gefangenen des Herrn zu hören.
Kapitel 26
„Agrippa aber sprach zu Paulus: Es ist dir erlaubt, für dich selbst zu reden. Da streckte Paulus die Hand aus und verantwortete sich: Ich schätze mich glücklich, König Agrippa, dass ich über alles, dessen ich von den Juden angeklagt werde, mich heute vor dir verantworten soll“ (V. 1–2). Wir erkennen in diesem geehrten Mann Gottes völligen Frieden und Glückseligkeit, welche der Herr bewirkt hatte, und die mächtige Kraft seiner Gnade. Wir sehen jedoch auch eine mit Würde bekleidete und doch demütige Höflichkeit seinen Zuhörern, vor allem Agrippa, gegenüber. „Besonders weil du von allen Gebräuchen und Streitfragen, die unter den Juden sind, Kenntnis hast; darum bitte ich dich, mich langmütig anzuhören“ (V. 3).
Daher erklärte er sorgfältig seine ganze Lebensgeschichte: Wie er von seiner Jugend an in der strengsten Sekte unter den Juden erzogen worden war. Außerdem erwähnte er, dass er wegen der Hoffnung auf die „unseren“ Vätern von Gott gegebene Verheißung vor Gericht stand. Danach erörterte er die Auferstehung. „Warum wird es bei euch für etwas Unglaubliches gehalten, wenn Gott Tote auferweckt?“ (V. 8). Damit stellte er gleich zu Anfang das vor, was jeder Pharisäer anerkannte und was als Haupttest in Bezug auf Rechtgläubigkeit unter den Juden galt. Diese Frage wandte er auf die Geschichte von Jesus von Nazareth an. Tatsächlich ging es ausschließlich um diese Wahrheit. Falls es stimmte, dass Gott Ihn aus den Toten auferweckt hatte – in welcher Stellung befanden sich dann die Juden, und welche Herrlichkeit besaß infolgedessen Jesus? Demnach drehte sich alles um die Auferstehung.
Dann berichtete er von den Umständen seiner eigenen Bekehrung. Es waren keine günstigen Bedingungen, welche ihn auf den Weg des Evangeliums brachten. Keineswegs war er den Christen gewogen oder lau in Hinsicht auf das Gesetz. Im Gegenteil! Seine ganze Voreingenommenheit stand auf Seiten Israels, alle seine Vorurteile gegen das Evangelium. Nichtsdestoweniger überwand die Gnade Gottes sowohl alle religiösen Bande als auch den religiösen Hass in seinem Herzen. Das geschah, als er letzteren bis zum Äußersten auslebte und mit Autorität von den Hohenpriestern die Christen bis zum Tod zu verfolgen suchte. „Als ich, damit beschäftigt, mit Gewalt und Vollmacht von den Hohenpriestern nach Damaskus reiste“, sprach er, „sah ich mitten am Tage auf dem Wege, o König, vom Himmel her ein Licht, das den Glanz der Sonne übertraf“ (V. 12–13).
Das himmlische Licht, das über dem Apostel aufstrahlte und jedes Licht der Natur übertraf, war genauso eine Wirklichkeit wie die Gnade, welche Gott an diesem Tag zeigte und die alles Menschliche in seinem Herzen und seine ganze bisherige Lebensgeschichte vollkommen verdunkelte. Alles verschwand vor der alles überwindenden Macht der Güte Gottes in Christus. „Als wir aber alle zur Erde niedergefallen waren, hörte ich eine Stimme in hebräischer Mundart zu mir sagen: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Es ist hart für dich, wider den Stachel auszuschlagen. Ich aber sprach: Wer bist du, Herr? Der Herr aber sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst“ (V. 14–15). Das Werk war geschehen. Damit sage ich nicht, dass Paulus sich schon des ganzen Friedens und der Glückseligkeit erfreute, die später sein Teil wurden. Jenes geistliche Licht Christi hatte sich jedoch einen Eingang in sein Herz gebahnt, welches sich mit seinem Gewissen in all seinen Tiefen beschäftigte. Sofort wurde sein sittliches Wesen bis an die Wurzeln aufgepflügt und der gute Same, der Same des ewigen Lebens, in die Tiefen hineingesät. Er wurde aufgefordert, sich aufzurichten und auf seine Füße zu stellen. „Denn hierzu bin ich dir erschienen, dich zu einem Diener und Zeugen zu verordnen, sowohl dessen, was du gesehen hast, als auch worin ich dir erscheinen werde“ (V. 16).
In Vers 17 geht es nicht um Paulus' Erlösung, sondern um sein Herausnehmen aus dem Volk und den Nationen. Der Herr sonderte ihn sowohl von den Juden als auch von den Nichtjuden ab. Der Ausspruch bedeutet hier auch mehr als die Worte des Petrus in Kapitel 15, wo davon gesprochen wird, dass Gott aus den Nationen ein Volk für seinen Namen herausgenommen hat (V. 14). Das haben wir schon gesehen; und es war von erstrangiger Bedeutung, dass auf dem großen Konzil in Jerusalem an dieser Wahrheit bedingungslos festgehalten wurde. Natürlich blieb es weiterhin wahr, dass Gott ein Volk für seinen Namen herausnahm. Aber in dem Fall des Saulus von Tarsus sprach der Herr davon, dass er ihn nicht weniger aus den Juden als aus den Nichtjuden herausnehmen wollte. Das bedeutete eine Absonderung von den Juden und den Nationen zu jenem neuen Werk Gottes. „Zu welchen [d. h. den Nationen] ich dich sende, ihre Augen aufzutun, auf dass sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott, auf dass sie Vergebung der Sünden empfangen und ein Erbe unter denen, die durch den Glauben an mich geheiligt sind“ (V. 18).
Paulus war dem himmlischen Gesicht (Vision) nicht ungehorsam. Er beugte sich dem Herrn. Damit handelte er als ein von Gott belehrter Mann natürlich richtig. Daher verkündigte er „denen in Damaskus zuerst und Jerusalem und in der ganzen Landschaft von Judäa und den Nationen, Buße zu tun und sich zu Gott zu bekehren, indem sie der Buße würdige Werke vollbrächten“ (V. 20). Das waren die wahren Gründe für die Feindschaft der Juden.
Er erhob sich nicht gegen das Gesetz. Gott verhüte, dass jemals ein Christ dies zu seinem Ziel macht! Gott beruft uns nicht zu einem ablehnenden Zeugnis, auch wenn wir dazu vielleicht berechtigt sind. Er beruft uns zu einer Aufgabe, die seinem Wesen mehr entspricht. Gott gibt uns nicht so sehr eine Mission gegen das Böse, sondern vielmehr für das Gute. Wir müssen diese Tatsache stets als unantastbaren Grundsatz festhalten. Ich gebe selbstverständlich zu, dass jeder, der zu einer Aufgabe, die Gottes würdig ist, berufen wird, alles Böse richten muss; ja, seine vornehmliche Aufgabe besteht darin, alles zu beurteilen, auch wenn es äußerlich noch so gut aussieht. Die Absicht Gottes für einen Christen oder die Kirche heutzutage besteht indessen nicht darin, das Böse durch Gewalt abzustellen; und seien wir versichert: Sein Wille ist für uns die einzig wahre Richtschnur und die einzige sichere Grundlage in allem.
Lasst uns deshalb ständig die Bibel danach untersuchen, was Gottes Absicht und Wunsch für sein Volk heutzutage ist! Was hat Er für unsere Tage wirklich als sein Werk offenbart? Wozu hat Er folglich dich und mich berufen? Wozu sonderte Er den Apostel damals ab? gewiss nicht, um die Juden oder ihre Haushaltung des Gesetzes niederzuwerfen! Das Gericht sollte bald über diese Nation kommen. Doch solange Gott verzog, dachte Paulus an sie in geduldiger Liebe. Und handelte er nicht völlig richtig? Nun berief Gott jedoch ein Volk sowohl aus den Nationen als auch aus den Juden. Darum sonderte Er Paulus von seinem Vorleben, das ist von allem, woran sein Herz so innig hing, ab; denn kein sterblicher Mensch liebte Israel jemals so sehr, wie der Apostel Paulus. Aber Gott nahm ihn heraus aus all seinen alten jüdischen Bindungen und trennte ihn auch von den Nichtjuden, zu denen Er ihn jetzt senden wollte.
Es ist offensichtlich, dass wir von allen menschlichen Einflüssen, selbst den besten, frei sein müssen, um ein zubereitetes Gefäß für die Absichten Gottes an den Orten zu werden, wo die Not am größten ist. Wenn du anderen wirklich nachhaltig helfen willst, musst du stets über den Beweggründen und Wegen stehen, die diese Menschen beeinflussen. Du kannst unmöglich eine Person richtig behandeln, wenn du dich auf demselben Niveau befindest. Aus diesem Grund wird in dem Fall, dass ein Bruder von einem Fehltritt übereilt worden ist, eine wahrhaft geistliche Seele benötigt, um seine Wiederherstellung zu suchen. Ein leichtfertiger Christ würde den Fall nur schlimmer machen, denn wenn der fehlende Bruder seinen Finger auf irgendetwas ähnlich seinem eigenen Versagen in dem anderen, der sich mit ihm beschäftigen will, legen kann, findet er darin eine Entschuldigung für seine Sünde und einen Grund, seinen Tadler zu tadeln. Wenn hingegen die Gnade Gottes in demjenigen, der sich an die sündige Seele wendet, wahrhaft gewirkt hat und wenn die Gnade Ersteren sowohl aus allem Bösen herausgeführt hat als auch im Guten aufrechterhält, so dass er in nichts als gegen den Herrn gerichtet angeklagt werden kann, dann wird Gott seine Handlungsweise an dem Sünder entsprechend ehren. Eigentlich brauche ich gar nicht darauf hinzuweisen. Er erfüllt dann Gottes Willen und seine besondere Vorsorge an den Gläubigen, die in irgendeinem Fehltritt verwickelt sind. In dem Apostel Paulus erkennen wir hier denselben Grundsatz, wenn auch in einer tieferen und ausgedehnteren Weise. Tatsächlich ist es nur das Geltendmachen der Gnade – jenes gewaltigen Grundsatzes der Güte Gottes in Macht, welcher trotz all des Bösen seinem Herzen entsprechend wirkt.
Paulus wurde also ganz und gar von Juden- und Nichtjudentum abgesondert und dann insbesondere zu den Nichtjuden gesandt. Der bloße Hinweis darauf entsetzte die Juden. Auch konnten sie nicht miteinander vereinbaren, dass jemand mit brennender Liebe zu den Juden gleichzeitig der bedeutendste und unermüdliche Zeuge der Gnade an die Nationen sein konnte. In ihrem auf dem Gesetz beruhenden Stolz vermochten sie ihm nicht zu vergeben. Die feindseligsten Gefühle brachen aus ihnen gegen Paulus hervor, sobald sie mit dem Wahnsinn der Missgunst und der Eifersucht gegen die Nichtjuden verbunden waren. So berichtete Paulus seinen Zuhörern: „Dieserhalb haben mich die Juden in dem Tempel ergriffen und versucht, mich zu ermorden. Da mir nun der Beistand von Gott zuteil wurde, stehe ich bis zu diesem Tage, bezeugend sowohl Kleinen als Großen, indem ich nichts sage außer dem, was auch die Propheten und Moses geredet haben, dass es geschehen werde, nämlich, dass der Christus leiden sollte, dass er als Erster durch Totenauferstehung Licht verkündigen sollte, usw“ (V. 21–23).
Während er sich so verantwortete, unterbrach ihn der römische Landpfleger in seinen Ausführungen mit dem Ausruf, dass die große Gelehrsamkeit Paulus zur Raserei gebracht habe. Paulus antwortete: „Ich rase nicht, vortrefflichster Festus, sondern ich rede Worte der Wahrheit und der Besonnenheit“ (V. 25). Wir bemerken den größt-möglichen Respekt. Dennoch konnte Paulus nicht ohne Einspruch der Unwissenheit eines blinden Heiden erlauben, einen solchen Schandfleck auf die Wahrheit zu legen. Er berief sich auf einen anderen Zeugen, der keineswegs parteilich war, soweit es das Christentum betraf. „Denn der König weiß um diese Dinge, zu welchem ich auch mit Freimütigkeit rede; denn ich bin überzeugt, dass ihm nichts hiervon verborgen ist, denn nicht in einem Winkel ist dies geschehen“ (V. 26). Die angeführten Tatsachen des Lebens und Sterbens und der Auferstehung Jesu waren Herodes Agrippa nicht unbekannt. Über sie wurde überall geredet, wo Menschen lebten, die mit Israel zu tun hatten.
Plötzlich wandte Paulus sich unmittelbar an den König mit der Frage: „Glaubst du, König Agrippa, den Propheten? Ich weiß, dass du glaubst. Agrippa aber sprach zu Paulus: In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden“ (V. 27–28). Ich stimme nicht mit einigen modernen Versuchen überein, den Wörtern „in kurzem“ die Bedeutung von „fast“ zu geben, da ich überzeugt bin, dass dies nicht dem Sinn dieser Bibelstelle entspricht. „In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden.“ In was für einem Geist wurde dies gesagt? Agrippa scheint in seiner Gefühlsaufwallung von Paulus' Worten überrascht worden zu sein; und in dieser Stimmung wurde ihm seine Äußerung sozusagen abgerungen. Er konnte die Wahrheit dessen, was der Apostel bezeugte nicht leugnen. Er wollte seine eigenen Propheten nicht zurückweisen. Er fühlte sich tatsächlich in die Enge getrieben durch die Ereignisse und die Prophezeiungen, die von Letzteren sprachen. So zwang ihn, den kühlen Mann von Welt, die Überraschung durch jene gezielte Frage, anzuerkennen, dass Paulus ihn in einem gewissen Maß überredete, ein Christ zu werden. Das besagt natürlich keineswegs, dass er wirklich an den Herrn Jesus glaubte. Doch die Darlegungen des Apostels führten zu der Schlussfolgerung, dass die jüdische Prophetie eindeutig auf Jesus Christus hinwies, so dass Agrippa nicht anders konnte, als einen gewissen Eindruck auf sein Herz zuzugeben.
Paulus antwortete in einem wahrhaft bewundernswerten Geist, und zwar nicht nur in Weisheit oder liebendem Verlangen. Ein anderes sehr liebliches Element zeigt hier den Zustand des Apostels zu jener Zeit. Wir erfahren von dem tiefen gegenwärtigen Genuss des Herrn und seiner Gnade in Paulus' Seele. „Ich wollte zu Gott, dass über kurz oder lang nicht allein du, sondern auch alle, die mich heute hören, solche würden, wie auch ich bin, ausgenommen diese Bande“ (V. 29). Ich kenne keine vergleichbare Antwort von menschlichen Lippen. Wir lesen anderswo wunderbare Worte von Paulus sowie anderen Gläubigen. Meiner Ansicht nach werden wir selbst in diesem gesegneten Buch kaum einen weiteren Ausdruck der Gnade und Wahrheit finden, verbunden mit einer Freude, die nur der Heilige Geist schenken kann, welcher bewunderungswürdiger den Umständen aller Betroffenen angemessen ist. Nichts strahlt vollkommener dasjenige wieder, was Gott durch Jesus Christus, unserem Herrn, schenkt.
Paulus wünschte seine Bande nicht jedem, auch wenn er selbst in ihnen frohlockte. Er rühmte sich, ein Gefangener Jesu Christi zu sein. Doch er konnte ein solches Geschick keineswegs einem Mann wünschen, den er zum Herrn führen wollte. Die Zeit kommt zweifellos für einen jeden Gläubigen, dass solche, die sich in jenem Kampf als gute Kriegsmänner erwiesen haben, sich freuen werden, genauso wie Paulus frohlockte in seinen Leiden um Christi, um seines Leibes und des Evangeliums willen. Aber eines konnte er ihnen von ganzem Herzen wünschen, nämlich dass sie nicht nur in einem gewissen Grad (auch wenn er nur klein ist), sondern sogar in einem hohen Maß so seien wie er. Es ging ihm nicht einfach darum, dass sie Christen würden, noch weniger, dass sie sich bekehrten, sondern dass sie würden, „wie auch ich bin.“
Der Wunsch umschloss sowohl die Wirklichkeit oder Stellung als auch den praktischen Zustand eines Christen – ja, vor allem jene Freude, welche das Herz des Paulus füllte in dem Augenblick, als er in Fesseln vor diesem glänzenden Hofstaat stand. Kannte Paulus nicht die dunkle Wolke, welche über Agrippa und Bernice, nicht zu reden von den anderen, schwebte? Die Gnade überragt alles Böse, so wie sie auch die schlimmsten Feinde überwindet und ihnen vergibt. Wir hören nicht von einem einzigen bitteren Gedanken oder von anklagenden Worten. Die Gnade wünscht selbst solchen das Beste, die sich den zeitlichen Ergötzungen der Sünde zuwenden. Wir wissen, wie sicher und gerecht das Gericht ist. Aber die Gnade vermag sich zu einer höheren Art von Gerechtigkeit aufzuschwingen, die nicht der Erde oder des Menschen ist, sondern Gottes, der gerecht sein und trotzdem den Glaubenden rechtfertigen kann – „Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum“ (Röm 3, 22). Das füllte Paulus' Herz. Die volle ungehinderte Kraft der Gnade Gottes, wie sie in Christus gesehen und verwirklicht worden ist, wirkte jetzt in seiner Seele. Das zeigte sich in seinem Genuss und seiner Freude an Christus, von dem er Zeugnis abgelegt hatte und dessen Herrlichkeit allen Glanz verblassen ließ, dessen sich ein römischer Landpfleger oder ein jüdischer König rühmen konnte. Paulus wurde nicht von dieser Herrlichkeit überrascht. Er offenbarte das überströmende Herz eines Mannes, der geradeswegs in die Ewigkeit schaute und sich noch einmal den Glanz der Herrlichkeit des Himmels, in welchem er Christus strahlender als alle übrige Herrlichkeit erblickt hatte, ins Gedächtnis rief. Christus ist Quelle, Kraft und Fülle all dieser Herrlichkeit; und Er gibt sie denen, welche glauben. Diese Wahrheiten erfüllten Paulus damals und stärkten ihn, um solch einen Ausdruck göttlicher Liebe auszusprechen.
Der Hofstaat brach wieder auf. Agrippa bestätigte, dass Paulus ohne seine Berufung auf den Kaiser hätte freigelassen werden können. Das sollten wir beachten.
Fußnoten
- 1 Anm. d. Übers.: Bernice (Berenike), Urenkelin Herodes' des Großen, war nicht die Frau Agrippas, sondern seine Schwester mit der ihm von seinen Zeitgenossen ein blutschänderisches Verhältnis nachgesagt wurde. Später wurde Bernice die Mätresse des nachmaligen Kaisers Titus. (Das große Bibellexikon I, Wuppertal & Giessen, 2. Aufl., 1990, S. 183)