Einführende Vorträge zur Apostelgeschichte
Kapitel 21
Die abschließenden Kapitel 21 bis 28 beschäftigen sich mit einem Thema voller Anziehungskraft und Gewinn für uns: Paulus’ Weg von Jerusalem nach Rom. Wir befinden uns hier in einer Atmosphäre, die sich beachtlich von der im vorigen Teil des Buches dargestellten unterscheidet. Wir sehen nicht länger die gewaltige Kraft des Heiligen Geistes, wie Er das große Werk Gottes auf der Erde in Jerusalem feierlich einführte, noch seine gleichermaßen wunderbare Energie, welche die alten Schläuche des Judentums durchbrach, als die Gnade völlig frei zunächst nach Samaria und dann zu den Nichtjuden ausfloss und dem Grundsatz nach, wie wir wissen, zur angemessenen Zeit bis an die Enden der Erde. Auch sehen wir nicht mehr den Apostel zum, wie gesagt wird, Evangelium Gottes abgesondert. Das waren die Themen der drei großen Teile unseres Buches bis zu dem Punkt, den wir jetzt erreicht haben. Doch nun wird der Apostel zum Gefangenen, und zwar nicht ohne vorherige Warnung. Schon bei oberflächlicher Betrachtung der von mir vorgelesenen Verse erkennen wir, wie der Heilige Geist den Apostel immer wieder mahnend warnte. Dieser hingegen zeigt uns auf treffendste Weise eine Verknüpfung dessen, was in Glauben und Leben wahrhaft himmlisch ist, mit dem festesten Herzensanhangen an seine Brüder nach dem Fleisch. Das verkleinert keineswegs die Schwierigkeit, seine weitere Lebensgeschichte richtig zu werten. Wir dürfen jedoch sagen, dass seine Schwachheit zugegebenermaßen aus dem edelsten Teil seines menschlichen Herzens (falls es so etwas gibt, und ich leugne es nicht) hervorbrach. Nichtsdestoweniger lernen wir aus den unmittelbaren Folgen, wie sogar eine solche Handlungsweise uns in völlig neue Umstände hineinführen muss, worin Gott niemals aufhört, sich selbst zu verherrlichen. Gott weiß, wie Er Umstände, welche in sich selbst auf Fehler beruhen, zu seiner eigenen Verherrlichung wenden kann. Er gestaltet dann in Gnade neue Wirkkanäle und die dazu passenden Wege – allerdings nicht ohne eine gerechte Verurteilung des Irrtums, auch wenn er von dem Besten begangen wurde. In unserem Fall ist dies umso bemerkenswerter, weil Paulus wirklich der Beste war. Das ist, wie ich glaube, die herausragende Lehre dieser letzten Kapitel der Apostelgeschichte. – Lasst uns jedoch dem Lauf der göttlichen Belehrung folgen!
Der Apostel zog seinen Weg und fand Jünger in Tyrus, bei denen er sich, wie uns gesagt wird, „sieben Tage“ lang aufhielt (V. 4). Das scheint eine übliche Zeit des Aufenthalts gewesen zu sein – und wir können uns leicht denken warum. Ein großer Grund bestand zweifellos darin, die Gemeinschaft mit den Erlösten zu genießen und mit den Christen an einem neuen Ort jenen Tag zu feiern, welcher die stärksten Rechte auf ein Herz ausübt, das Jesus aufrichtig zugetan ist, d. h. den ersten Tag der Woche. Das wurde uns nachdrücklich in Kapitel 20 gezeigt. Der Geist Gottes wiederholt diesen schon ausgedrückten Gedanken hier nicht noch einmal. Dennoch gehen wir meiner Ansicht nach wohl kaum fehl, wenn wir die sieben Tage des apostolischen Besuchs mit der klaren Aussage der Verse 6 und 7 jenes Kapitels verbinden. Es wird gesagt, dass sie in Troas „sieben Tage verweilten. Am ersten Tage der Woche aber, als wir versammelt waren, um Brot zu brechen, unterredete sich Paulus mit ihnen.“ Solche eindeutigen Hinweise finden wir hier nicht. Trotzdem werden in ähnlicher Weise sieben Tage unter den Jüngern erwähnt, welche nach einer geistlichen Erklärung dafür verlangen, aus welchem Beweggrund sie angeführt werden. Ich für mein Teil bezweifle nicht, dass sie als Gelegenheit dienten für die Freude, alle Erlösten an einem Ort zu treffen und auf ihrem persönlichen Lebensweg zu ermuntern und zu stärken.
Zweifellos führen die geistlichen Instinkte Kinder Gottes stets zu dem Wunsch, beisammen zu sein. Ich für mein Teil kann ein Kind Gottes nicht verstehen, welches grundsätzlich solchen Gelegenheiten fern bleibt, zu denen die Glieder des Haushalts des Glaubens um den Namen des Herrn versammelt sind. Letzteres erscheint mir keineswegs als Zeitverschwendung; auch könnte nichts anderes von gleicher Bedeutung sein. Es geht einfach um die Frage, ob wir Christus recht würdigen, ob wir wirklich im Geist wandeln und in Ihm leben und ob die Gegenstände der beständig wirkenden Liebe Gottes im rechten Maß auch Gegenstände unserer Liebe im Namen Christi sind.
Daher denke ich, dass es dem Willen des Herrn entspricht, wenn die Kinder Gottes, falls praktikabel, täglich zusammen sind. Die Kraft des Geistes möchte uns dahin bringen; allein die Umstände, in welche wir in dieser Welt notwendigerweise versetzt sind, verhindern dies. Folglich besteht der wahre Grundsatz nach dem Wort Gottes in einem Zusammenkommen, wann immer es durchführbar ist; und wir sollten unsere Herzen und Gewissen ermuntern, wirklich zu erforschen, worin diese Durchführbarkeit besteht oder, vielmehr, inwiefern die vorgebliche Undurchführbarkeit echt ist oder nur eingebildet. Sehr oft stellt sich heraus, dass letztere auf unserem Willen beruht. Sie dient als Entschuldigung für geistliche Trägheit, für einen Mangel an Liebe zu den Kindern Gottes und für ein Fehlen an Gefühl für unsere eigenen Bedürfnisse. So erlauben wir in unseren Herzen das Aufrichten von Hindernissen wie die Anforderungen des Berufs, der Familie oder sogar des Werkes des Herrn. Natürlich beanspruchen diese ihren Platz. Sicherlich wünscht Gott, dass alle seine Kinder Ihn zu verherrlichen suchen, welche Pflicht sie auch immer zu erfüllen haben. Wir haben natürliche Pflichten in dieser Welt; und die wunderbare Kraft des Christentums wird gerade darin gesehen, dass wir alles, was ohne Christus einfach nur der Natur angehört, mit göttlichem Wesen füllen. Dieses Kennzeichen sollte sich natürlich auf dem ganzen Lebensweg eines Menschen bis in alle seine Zweige zeigen, sobald er Christus angehört. So dürfen zum Beispiel die Anforderungen von Kindern, Eltern oder dergleichen keineswegs bestritten werden. Wenn diese Pflichten wirklich um Christi willen auf sich genommen werden, denke ich nicht, dass es zum Schaden von Eltern oder Kindern gereichen wird, wenn wir die Kraft des Herrn und nach unseren Gelegenheiten die Gemeinschaft unter den Geschwistern suchen. Zum anderen wird wohl die geringe dabei verbrachte Zeit auf unserem langen Lebensweg kaum zu einem Verlust führen. Wir sollten jedenfalls beide Seiten (den Besuch der Zusammenkünfte und die Erfüllung der auferlegten Pflicht; Übs.) gewissenhaft gegeneinander abwägen. Überdies werden wir niemals Kraft haben, anderen zu helfen, wenn wir uns nicht bewusst sind, dass auch wir Hilfe von anderen brauchen. Beides geht immer zusammen.
Mir scheint, dass der Geist Gottes in diesen flüchtigen Strichen und ihrer Wiederholung uns wertvolle Hinweise geben will auf die Gesinnung, welche den gesegneten Apostel auf seinem Weg belebte. Vielleicht wissen wir selbst in einem geringeren Grad, was es bedeutet, auf einer langen Reise ohne rechte Rast, Nahrung oder Schutz zu sein; und damals war eine Reise von einem Land oder Kontinent zum anderen keineswegs so leicht wie in moderneren Zeiten. Wir sind es gewohnt, eilig zu reisen und das Ziel schnell zu erreichen. Wir können verstehen, dass der Apostel bei so vielen Hindernissen auf seinem Weg die Ermunterung solcher mehrmaliger Aufenthalte – wie wir sahen: sieben Tage an dem einen Ort, sieben Tage an einem anderen – empfand. Dabei zeigte er auch ausdrücklich das Verlangen seines Herzens nach Gemeinschaft mit den Geschwistern und den Wunsch, sie aufzuerbauen. Diese Kennzeichen finden wir auf dem Arbeitsweg dieses gesegneten Mannes. Sicherlich sollte es auch bei uns, wenn auch in einem geringeren Ausmaß, so sein.
Bei der geschilderten Gelegenheit jedoch sagten die Jünger durch den Heiligen Geist, dass er nicht nach Jerusalem hinaufgehen solle. Das war sehr ernst. Etwas anderes können wir dazu nicht sagen. Wir wissen nicht, wie der Apostel darauf antwortete und reagierte, außer dass er unveränderlich seine Reise nach Jerusalem fortsetzte. „Als es aber geschah, dass wir die Tage vollendet hatten, zogen wir fort und reisten weiter“ (V. 5). Dann lesen wir von jener schönen Szene mit den Frauen und Kindern. Auch das hat seinen Wert. Bemerkenswerterweise werden in der Apostelgeschichte fast nie Kinder erwähnt; stattdessen lesen wir viel von Männern und Heiligen und Knechten Gottes. Doch wir hören von Kindern bei einem Anlass, der völlig zu ihnen passt. Hier werden sie in den Vordergrund gestellt, jedoch nicht in der Art, wie es eine abergläubische Kirche nicht viel später tat, indem Kinder unter anderem auch ein Teil vom Tisch des Herrn empfingen. Die Dinge haben sich schnell geändert, wenn auch noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Hier sehen wir die Kinder indessen als Ausdruck jener Liebe, die alle erfüllte, und des Verlangens, bis zum letzten Augenblick den Segen zu genießen, einen Apostel in ihrer Mitte zu haben. Kurz gesagt, waren die Kinder nicht weniger ein Zeichen respektvoller Liebe dem gegenüber, der sie verließ, als auch einer Herzenseinstellung, welche soviel Segen wie möglich für sie empfangen wollte, welche der Herr in seiner Gnade ausgießen mochte. „Und sie alle geleiteten uns mit Weibern und Kindern“, wie gesagt wird, „bis außerhalb der Stadt; und wir knieten am Ufer nieder und beteten. Und als wir voneinander Abschied genommen hatten, stiegen wir in das Schiff, jene aber kehrten heim.“
In Cäsarea werden wir auf andere Weise in die Wege Gottes unter seinem Volk eingeführt. „Wir gingen in das Haus des Philippus, des Evangelisten, der einer von den sieben war“ (V. 8). Wir werden seine Arbeit in früheren Tagen in der Stadt Samaria und ihrer Umgebung wohl kaum vergessen haben. Wir erfahren jetzt jedoch eine Einzelheit über ihn, welche wir bisher nicht wussten: „Dieser aber hatte vier Töchter“ (V. 9). Da sie unverheiratet waren, blieben sie im Haus ihres Vaters; und sie weissagten. Es gibt keinen Grund, warum eine Frau nicht diese oder andere Gaben haben sollte genauso wie ein Mann. Damit sage ich nicht, dass es sich immer um dieselbe Art von Gabe handelt. Gott ist ganz gewiss weise und gibt passende Gaben sowohl an Männer als auch an Frauen – und ich möchte fast sagen: auch an Kinder. Der Herr ist unumschränkt und weiß allen, die glauben, indem Er sie in den Leib Christi einfügt, auch eine angemessene Aufgabe nach den Absichten seiner Gnade zu geben. Offensichtlich bekleidete Er diese vier Töchter des Philippus mit einer ganz besonderen geistlichen Kraft. Sie besaßen eine der Gaben von höchstem geistlichem Charakter. Sie weissagten. Und falls sie mit dieser Kraft ausgerüstet waren, dann sollten sie diese sicherlich nicht unter den Scheffel stellen, sondern ausüben. Die einzige Frage ist: Wie?
Wenn wir uns ihr unterwerfen, ist die Bibel in dieser Hinsicht eigentlich eindeutig. Zunächst einmal ist Weissagung zugegebenermaßen die höchste Form des Lehrens. Sie ist also Lehren. Zweitens ist gerade der Apostel derjenige, welcher schreibt, dass er einer Frau nicht erlaubt zu lehren. Das entscheidet eigentlich alles. Falls wir uns dem Apostel als inspiriert, um uns Gottes Gedanken mitzuteilen, beugen, sollten wir wissen, dass eine christliche Frau nicht lehren darf. Über dieses Thema spricht Paulus nicht in 1. Korinther 11, sondern in Kapitel 14. In 1. Timotheus 2 zieht er eine Linie zwischen Mann und Frau. Dieser Brief verbietet den Frauen als Klasse der Gesellschaft gesehen das Lehren. Das andere und noch engere Wort im Korintherbrief gebietet ihnen, in der Versammlung still zu sein. Offensichtlich gab es in Korinth einige Schwierigkeiten bezüglich der gottgemäßen Ordnung und der richtigen Beziehungen zwischen Mann und Frau. Denn die Korinther waren ein Volk mit der Gewohnheit, anstatt zu glauben, alles mit ihrer Vernunft erfassen zu wollen. Der griechische Verstand neigte dazu, alles in Frage zu stellen. Sie konnten nicht verstehen, wie Gott einer Frau genauso gut eine Gabe gegeben haben sollte wie einem Mann, ohne dass sie diese in derselben Weise benutzen durfte. Wir können ihre Schwierigkeit gut verstehen. Auch heute fehlen solche Vernünftler nicht. Der Fehler lag und liegt darin, dass man Gott nicht berücksichtigt. An Seinen Willen dachten die Korinther nicht. Sie warteten nicht auf den Herrn, um seine Gedanken in Erfahrung zu bringen. Wenn Er die Kirche (Versammlung) ins Dasein gerufen hat, dann soll sie eindeutig zu seiner Verherrlichung dienen. Gott hat seine eigenen Vorstellungen über die Kirche und hat deshalb in seinem Wort seinen Willen eindeutig festgelegt, wie all die Gaben seiner Gnade ausgeübt werden sollen.
Die Bibelstellen in 1. Korinther 14 und 1. Timotheus 2 scheinen mir vollkommen klar zu sein hinsichtlich der besonderen Stellung der Frau, unabhängig von ihrer Gabe. Man mag nun daraus schließen, dass diese Verse nur für einen Bereich, dem der Versammlung, entscheidend sind, in dem eine Frau nach der Schrift ihre Gabe nicht ausüben darf. Dazu möchte ich hinzufügen, dass es in jenen Tagen nicht vorkam, dass Frauen auszogen, um öffentlich das Wort zu predigen. So schlimm die Zustände in jenen frühen Tagen auch waren, trotzdem herrschte damals ein größeres Empfinden von dem, was sich für Frauen geziemt. Es kann nicht im Geringsten bezweifelt werden, dass viele Frauen mit den besten Absichten gepredigt haben und heute noch predigen. Sie oder ihre Freunde verteidigen diese Handlungsweise auf der einen Seite mit dem Segen seitens Gottes und auf der anderen mit der schreienden Not umkommender Sünder überall. Aber nichts kann sicherer sein, als dass die Bibel (und sie ist der Maßstab!) jene Frauen ohne die geringste Berechtigung seitens des Herrn für ihr Verhalten lässt. Öffentliches Predigen des Evangeliums durch Frauen wird in der Bibel nirgendwo in Erwägung gezogen. Es war schlimm genug von den Korinthern, dass sie daran dachten, Frauen unter den Gläubigen reden zu lassen. Anscheinend standen jene Frauen unter der Aufsicht gottesfürchtiger Männer und stellten sich nicht öffentlich vor allerlei Art von Menschen in der Welt auf, wie es bei einer Evangeliumsverkündigung geschieht. Sie bildeten sich vielleicht ein, dass unter den Gläubigen mehr oder weniger eine Art Schleier über sie gebreitet sei. Doch in moderneren Zeiten wird vorausgesetzt, dass der Zweck die Mittel heiligt. So anstößig die Korinther sich auch verhielten, muss ich für mich gestehen, dass mir die Methoden unserer Tage in dieser Beziehung noch viel ernster aussehen und viel weniger zu entschuldigen sind.
Wie dem auch sei, wir lesen hier jedenfalls, dass die Töchter des Philippus weissagten. Das geschah, wie schon angedeutet, zweifellos in ihrem Vaterhaus. Wenn es nicht so wäre, würde das Wort Gottes sich selbst widersprechen.
Während Paulus sich dort aufhielt, kam ein gewisser Prophet aus Judäa herab, der die Warnung an den Apostel wiederholte. Indem er Paulus’ Hände und Füße mit dessen Gürtel band, erklärte er: „Den Mann, dem dieser Gürtel gehört, werden die Juden in Jerusalem also binden und in die Hände der Nationen überliefern“ (V. 11). Dies wurde später bis auf den Buchstaben erfüllt. Trotz der Tränen der Heiligen, trotz der Warnung dieses Propheten und der anderen vorher hielt Paulus an seinem Entschluss fest und sprach: „Was machet ihr, dass ihr weinet und mir das Herz brechet? Denn ich bin bereit, nicht allein gebunden zu werden, sondern auch in Jerusalem für den Namen des Herrn Jesus zu sterben“ (V. 13).
Schließlich reiste der Apostel weiter und wurde in Jerusalem von den Brüdern freudig aufgenommen. „Des folgenden Tages aber ging Paulus mit uns zu Jakobus, und alle Ältesten kamen dahin“ (V. 18). Aus diesem Bild erfahren wir, dass in kirchlicher Hinsicht in Jerusalem alles in Ordnung war. Es befand sich dort ein Apostel, welcher sich offensichtlich einer hohen Stellung in der örtlichen Wertschätzung erfreute. Außerdem gab es dort die üblichen Aufseher, die der Heilige Geist als Leiter und Führer in der Versammlung eingesetzt hatte, d. h. eine lokale Ältestenschaft. „Und als er sie begrüßt hatte, erzählte er eines nach dem anderen, was Gott unter den Nationen durch seinen Dienst getan hatte“ (V. 19). Sie anerkannten die Art, wie der Herr verherrlicht wurde. Gleichzeitig sagten sie zu Paulus: „Du siehst, Bruder, wie viele Tausende [Die wahre Aussage des griechischen Wortes lautet: Zehntausende, Myriaden. Das mag vielleicht einigen eine mehr als normal übliche Vorstellung von der gewaltigen und schnellen Ausbreitung des Evangeliums in jenen Tagen unter jener Nation geben.] der Juden es gibt, welche glauben, und alle sind Eiferer für das Gesetz. Es ist ihnen aber über dich berichtet worden, dass du alle Juden, die unter den Nationen sind, Abfall von Moses lehrest und sagest, sie sollen die Kinder nicht beschneiden, noch nach den Gebräuchen wandeln“ (V. 20–21). Dies stimmte nicht; denn der Apostel handelte nicht so.
In Wirklichkeit lehrte Paulus, dass es unangebracht sei, die Nichtjuden unter das Gesetz zu stellen. Zu jener Zeit mischte er sich nicht in jüdische Angelegenheiten. Später kam vom Heiligen Geist eine andere, diesmal endgültige Botschaft. Doch der Herr führte die Juden schrittweise weiter. Ich halte seine Verfahrensweise mit seinem alten Volk auch für uns von Bedeutung, so dass wir sie lernen und nachahmen sollten. Es stimmt natürlich vollkommen, dass Gott in seinem Herzen hatte, zur rechten Zeit sowohl die Befreiung der Juden als auch der Nichtjuden vom Gesetz gänzlich herauszustellen. Das geschah jedoch nicht auf einmal – auf jeden Fall nicht in Bezug auf die Juden. Wogegen sich der Apostel nachdrücklich wehrte, war der Versuch, die Nichtjuden unter das Gesetz zu bringen; und gerade dieses Ziel wurde von den Brüdern, die von den Pharisäern kamen, mit Eifer verfolgt. Seien es judaisierende Christen, seien es die Nichtjuden selbst – wenn sie die Erfüllung des Gesetzes auf sich nahmen, trat der Apostel ihnen entschlossen entgegen, um den verhängnisvollen Irrtum zurückzuweisen und zu verurteilen. In Bezug auf die Juden selbst finden wir echte Langmut. Diese entströmte jedoch nicht allein einer kennzeichnenden Herzensgröße, sondern vor allem einer zarten Rücksichtnahme auf ihre überängstlichen Gewissen. Solange Gott das abschließende Wort noch nicht gesandt hatte, um ihnen mitzuteilen, dass der alte Bund im Begriff stand zu verschwinden, wie konnte er, der seinem Herrn so nah auf seinen Wegen folgte, voreilig sein? Diese frühen Tage waren wirklich Tage des Übergangs, an denen Christus zuerst den Juden und dann den Nichtjuden verkündigt wurde. Für letztere, die nie unter dem Gesetz standen, war es viel einfacher als für die Juden, die Freiheit des Evangeliums zu schätzen. Der Jude mit seinen Vorurteilen wurde solange ertragen, bis die abschließende Botschaft von Gott kam, welche ihn vor der Gefahr des Abfalls vom Evangelium durch sein Festhalten am Gesetz warnte.
Da ich mich mit diesem Thema schon beim Überblick über den Hebräerbrief 1 beschäftigt habe, besteht umso weniger Anlass, mehr darüber zu sagen. Aber jener Brief war für die hebräischen Gläubigen der letzte Trompetenruf, jede Verbindung mit dem alten System abzubrechen. Bis in jene Tage geschah ein schrittweiser Übergang, indem sich der Spalt immer mehr auftat und der Unterschied immer offensichtlicher wurde. Dennoch wurde vor diesem letzten Ruf nicht jedes Band zerrissen. Eine solche Handlungsweise beeindruckt mich als unseres Gottes würdig – eine Handlungsweise, die unserem überstürzenden Wesen schwierig erscheint, da wir gewohnt sind, als Nichtjuden zu denken. Denn seitdem wir die Wahrheit Gottes immer besser verstehen, erkennen wir das große Unheil, welches entsteht, wenn das Gesetz eingeführt und mit dem Evangelium vermischt wird.
Erinnern wir uns also daran, dass der Heilige Geist stets an der Freiheit für die Nichtjuden festhielt, während es unzweifelhaft eine Zeitspanne der Rücksichtnahme auf die Juden gab. Sogar der Apostel Paulus war darin keine Ausnahme, indem er mit ihren Vorurteilen Geduld hatte. Die übrigen zwölf Apostel scheinen nur sehr langsam in diese Freiheit vom Gesetz eingedrungen zu sein. Zweifellos erfasste Paulus als Apostel der Nichtjuden diese Wahrheit in ganz anderer Weise und in einem viel größeren Umfang, denn er war vom Himmel aus von einem auferstandenen Jesus berufen worden und Zeuge einer besonderen Gnade. Wir werden jedoch finden, dass selbst er in großem Maß warm mit den Gefühlen eines Juden empfinden konnte. Er ist derjenige, dem wir unter Gottes Leitung für die Kenntnis aller Wahrheiten des Christentums in ihrer ganzen Gestalt und wahren Kraft verpflichtet sind. Trotzdem ist offensichtlich, dass er trotz allem, wenn schon nicht jüdische Vorurteile, so doch sicherlich die wärmsten jüdischen Zuneigungen zeigte. Tatsächlich war es ja gerade die Stärke seiner Gefühle für das alte Volk Gottes, welche ihn in die Schwierigkeiten führte, die in den letzten Kapiteln dieses Buches, der Apostelgeschichte, geschildert werden.
Wir müssen uns auch daran erinnern, dass sein Verhalten in einem gewissen Maß eine Antwort auf die Liebe war, die wir auch in unserem gesegneten Herrn selbst finden. Doch es gibt auch auffallende Unterschiede. Bei unserem Herrn war seine Liebe zu Israel, wie in allen Dingen, vollkommen. Bei Ihm gab es nicht die geringste Beimischung von irgendetwas Tadelnswertem; denn das konnte nicht sein. Wir wissen gut, wie anstößig schon die Spur eines Gedankens in diese Richtung für unseren Glauben und unsere Liebe zu Ihm ist. Für einen Christen ist es unmöglich, nur einen Augenblick daran zu denken. Indessen wissen wir, dass seine Liebe für jenes Volk bis zum Letzten gefühlt und zum Ausdruck gebracht wurde. Seine beharrliche Liebe führte Ihn in die Umstände seiner völligen Verwerfung, als Gottes Zeit gekommen war; und Er ertrug all die Folgen ihres Hasses. (Allerdings ging sein Leiden in der Sühne unendlich weiter; und diese war ausschließlich sein Teil.). Auch der Apostel wusste, was es heißt, Israel zu lieben und für diese Liebe zu leiden. Es galt nicht nur in Bezug auf die Nichtjuden, sondern unter allen Erlösten, dass er umso weniger geliebt wurde, je mehr er liebte. Dem war wirklich so. Aber wenn dies im Allgemeinen zutraf, dann ganz bestimmt in Hinsicht auf die Juden. So steht die wunderbare Tatsache in der Geschichte des Apostel Paulus’ fest: Der Mann, der das wahre Wesen der Kirche (Versammlung) am deutlichsten offenbart hat und ihren himmlischen Charakter wie niemand sonst aufzeigte – der Mann, welcher die bedingungslose Beseitigung der alten Bande und Beziehungen unter Beweis stellte, weil in einem erhöhten Christus zur Rechten Gottes alles dies beiseitegesetzt ist – gerade er ist der Mann, dessen Herz die festesten Zuneigungen der Liebe zum alten Volk Gottes festhielt. Ich habe daher nicht den geringsten Zweifel, dass Gott uns an diesem Beispiel eine ernste, aber gnädige Warnung vor dieser Gefahr geben will. Handelte es sich auch um einen Apostel, sogar den größten der Apostel – dennoch war Paulus nicht Christus. Was in Christus nur absolute Vollkommenheit sein konnte und auch war, war es in Paulus nicht. Und doch war Paulus ein Mensch, der alle, die seit jenen Tagen gelebt haben, in den Schatten stellt.
Falls ich meine gegenwärtigen Empfindungen zum Ausdruck bringen darf, dann möchte ich sagen, dass nichts für meinen Geist eine größere Übung darstellt, als dieses Thema zu berühren. Wenn ich diese Dinge erwähne, fürchte ich mich außerordentlich davor, ich könnte den Eindruck erwecken, über einen solchen Knecht Christi zu urteilen. Doch Gott hat die Geschichte all dieser Umstände niederschreiben lassen; und Er hat es wohl keineswegs getan, damit wir es gefühlsbetont stillschweigend übergehen, sondern vielmehr zur Verkündigung und zum allgemeinen Nutzen. Er hat es zweifellos auch mitgeteilt, damit wir unser eigenes großes Zukurzkommen fühlen und unseren Geist hüten, sich auf den Platz eines Richters zu setzen, um jemanden wie den großen Apostel der Nationen zu verurteilen.
Dennoch muss ich wiederholen, dass der Heilige Geist hier auf der einen Seite von seinen Warnungen berichtet und, falls ich es wagen darf, so zu reden, auf der anderen von der Weigerung des Apostels, entsprechend zu handeln, auch wenn dieses Verhalten durch die Fülle zarter Liebe und eine stets brennende Zuneigung zu seinen Brüdern nach dem Fleisch hervorgerufen wurde. Ach, wenn wir an unsere Fehler denken – wenn wir uns vergegenwärtigen, aus welch wenig lieblichen Quellen sie entspringen – wenn wir uns daran erinnern, wie sehr sie mit Weltlichkeit, Ungeduld, Stolz, Eitelkeit und dem Ich vermischt sind – wenn wir sehen, wie Paulus so tiefgehend gezüchtigt wurde und ihm ein solch trauriges „Halt!“ in seinem weltweiten Werk, das Gott ihm gegeben hatte, zugerufen wird – in welchem Licht erscheinen dann unsere Fehler! Er stand unter einem Druck der Versuchung, den nur wenige außer ihm jemals kannten. Und was ihm alles noch bitterer machte: Diese Züchtigungen waren eine natürliche Folge seiner Missachtung der Warnungen des Geistes Gottes, indem er sich mit nicht endender Liebe einem Volk hingab, aus dem er letztlich durch die Wirksamkeit Gottes für das Werk, das der Herr ihm übertragen hatte, abgesondert worden war. Gott hat uns diesen Bericht gegeben. Welche Gefühle uns auch immer erfüllen – können wir bezweifeln, dass wir verpflichtet sind, ihn zu lesen und durch die Gnade zu verstehen lernen? Ja, nicht nur das, mögen wir ihn auch zum gegenwärtigen Segen unserer Seelen und zu einem Fortschreiten auf dem Pfad Christi hienieden, welcherart er auch sei, nutzen! Unser Wirkkreis mag so klein sein wie möglich. Trotzdem ist ein Heiliger ein Heiliger und in den Augen Gottes sehr teuer, welcher sich in dem Geringsten verherrlichen möchte, der sein Eigentum ist.
Es ist sicherlich für uns zum Nutzen und zur Verherrlichung Gottes, wenn der Heilige Geist uns diesen bemerkenswerten Anhang zur Geschichte – der fortschreitenden Geschichte – dieses Bibelbuches geschrieben hat. Hier haben wir einen äußerlichen Stillstand, der neue Dinge vorstellt als Frucht des Beharrens darauf, den Weg nach Jerusalem fortzusetzen, trotz des abmahnenden Zeugnisses des Geistes. Je gesegneter der Mann, desto ernster ist das Verlassen eines festen Standpunkts! Paulus begab sich einen Schritt weg von dem Weg, den der Heilige Geist ihm aufgetragen hatte, wie sehr dieses Abweichen auch mit Schönem und Lieblichem vermischt war. Gleichzeitig stand er nicht auf der Höhe einer Leitung durch den Geist Gottes. Das setzte den Apostel, wie es immer geschieht, einer größeren Gefahr aus, und zwar umso mehr, weil es ein Mensch war wie Paulus. Denselben Grundsatz erkennen wir eindeutig auch im Leben Davids. Der Mangel an Energie, der vielleicht bei jedem anderen verhältnismäßig wenig Schaden angerichtet hätte, wurde für David zum größten Fallstrick. Nachdem er so den Weg des Herrn verlassen hatte, glitt er bald in die Netze des Teufels. Damit möchte ich keineswegs Paulus in dieser Angelegenheit mit David auf einen Boden stellen. Weit davon entfernt! Tatsächlich wurde in seinem Fall der Apostel barmherzig vor allem bewahrt, was der Verderbnis der menschlichen Natur die geringste Wirksamkeit erlaubte. Er zeigte, so wie es mir aussieht, einfach einen Mangel an Wachsamkeit gegen seine natürliche Liebe zu Israel und missachtete folglich die Warnungen des Geistes. Die Tränen und ernsten Vorstellungen scheinen sein Verlangen nur noch mehr angeregt und verstärkt zu haben. Das setzte ihn einer nicht unmoralischen, sondern religiösen Schlinge aus, indem er auf andere hörte, die eigentlich weniger geistliches Verständnis hatten als er. Er nahm den Rat des Jakobus an.
„Was ist es nun? Jedenfalls muss eine Menge zusammenkommen, denn sie werden hören, dass du gekommen bist. Tue nun dieses, was wir dir sagen: Wir haben vier Männer, die ein Gelübde auf sich haben. Diese nimm zu dir und reinige dich mit ihnen und trage die Kosten für sie, damit sie das Haupt scheren lassen [In was für einer Lage befand sich der Apostel hier!]; und alle werden erkennen, dass nichts an dem ist, was ihnen über dich berichtet worden“ (V. 22–24). Ich behaupte nicht, dass es in Paulus’ bisheriger Geschichte nichts gab, das diesem vergleichbar wäre (vgl. Kap. 18, 18). Doch ging es hier offensichtlich darum, dem Apostel den Anschein eines sehr guten Juden zu geben. War dies vertretbar? War es die ganze Wahrheit? War Paulus nicht ein etwas zweideutiger Jude? Ich glaube, wie wir schon gesehen haben, dass in ihm noch eine gewisse verborgene Ehrfurcht vor dem wirkte, was einst von Gott eingesetzt worden war; und genau darin sehen wir den Unterschied zu den vollkommenen Wegen unseres gesegneten Herrn. Bis zum Kreuz hatte, wie wir wissen, die Haushaltung des Gesetzes (oder der erste Bund) die Zustimmung Gottes. Nach dem Kreuz war sie grundsätzlich gerichtet. Der Apostel hatte dies bestimmt durchdacht und in seinen Konsequenzen abgeschätzt. Kein Mensch musste ihm die Wahrheit zeigen. Gleichzeitig war seine Erkenntnis nicht wenig mit Liebe zu seinem Volk durchmischt. Wir wissen sehr gut, wie sehr eine solche Liebe jene Einfalt des Auges stört, welche die Sicherheit eines jeden Christen garantiert.
Der Apostel hörte also auf seine Brüder in einer Angelegenheit, zu deren gesunder Beurteilung er unvergleichlich sachkundiger war als sie. So musste er auch die Folgen tragen. Wir sehen ihn, wie er sich mit jenen Männern reinigte, welche ein Gelübde getan hatten. Er trat in den Tempel „und kündigte die Erfüllung der Tage der Reinigung an, bis für einen jeden aus ihnen das Opfer dargebracht war. Als aber die sieben Tage beinahe vollendet waren [Dies gehörte bekanntermaßen mit zum Nasir-Gelübde.], sahen ihn die Juden aus Asien im Tempel und brachten die ganze Volksmenge in Aufregung und legten die Hände an ihn und schrieen: Männer von Israel, helfet! Dies ist der Mensch, der alle allenthalben lehrt wider das Volk und das Gesetz und diese Stätte; und dazu hat er auch Griechen in den Tempel geführt und diese heilige Stätte verunreinigt“ (V. 26–28). Der nächste Vers zeigt uns warum. Es war ein Irrtum. Nichtsdestoweniger genügte er, um die Gefühle von ganz Israel zu erregen. „Die ganze Stadt kam in Bewegung, und es entstand ein Zusammenlauf des Volkes“ (V. 30). Es erhob sich ein schrecklicher Tumult; und der Apostel stand in Gefahr, von ihren gewalttätigen Händen umgebracht zu werden, als der Oberste der römischen Besatzung herzukam und ihn rettete. Das bereitete den Weg für die bemerkenswerte Rede des Apostels in hebräischer Sprache, die das nächste Kapitel mitteilt.
Fußnoten
- 1 William Kelly: Lectures Introductory to the Study of the Epistles of Paul the Apostle, Reprint 1970, H. L. Heijkoop, Winschoten/NL. (Übs.)