Einführende Vorträge zur Apostelgeschichte
Kapitel 9
Wir kommen jetzt zur Berufungsgeschichte eines anderen und viel geehrteren Zeugen der göttlichen Gnade und der Herrlichkeit Christi. Saulus von Tarsus schnaubte weiterhin nach Drohung und Mord, während der Herr sein fortschreitendes Werk der Gnade unter den Samaritern und den Fremdlingen ausführte. Der zurückreisende Schatzmeister der Königin Kandace war, wie ich annehme, ein Proselyt aus den Nationen, der unter seinen Volksgenossen nicht wie ein Heide, sondern, unabhängig von seiner Geburt und seinem Wohnort, praktisch wie ein Jude lebte. Die Zeit für die Berufung der Nationen im eigentlichen Sinn war noch nicht gekommen; der Weg dazu wurde jedoch vorbereitet. Die Samariter waren, wie wir wissen, eine Mischrasse, der ausländische Kämmerer wahrscheinlich ein Proselyt aus den Nationen. Jetzt wird der Apostel der Nationen berufen. So entfalten sich die Wege Gottes zu diesem Zeitpunkt.
Saulus verlangte in seinem Eifer Briefe, welche ihm die Autorität gaben, die christlichen Juden zu bestrafen. Als er sich auf seiner Reise in der Nähe jener heidnischen Stadt, die das Ziel seiner Reise war, befand, umstrahlte ihn plötzlich „ein Licht aus dem Himmel; und auf die Erde fallend, hörte er eine Stimme, die zu ihm sprach: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Er aber sprach: Wer bist du, Herr?“ (V. 3–5). Davon hing alles ab. Der Herr „aber sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Welch eine Umwälzung bewirkte dieses Wort in jenem energischen Herzen! Das Vertrauen auf Menschen und auf das Ich wurde bis in seine Grundlagen umgestürzt – alles, worauf sein Leben voller Eifer aufgebaut war. „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Der Redende war unzweifelhaft der HERR; und der HERR erklärte, dass Er Jesus war; und Jesus war Jahwe. Saulus wagte nicht länger mehr zu zweifeln; für ihn war jetzt alles nur zu offensichtlich. Falls Jesus wirklich Jahwe war, welchen Wert hatte dann seine Religion? Was hatten dann der Hohepriester oder das Synedrium für ihn, Paulus, getan? War dieser denn nicht der Hohepriester Gottes? War das Gesetz nicht Gottes Gesetz? Zweifellos! Wie konnte ein so verhängnisvoller Fehler begangen worden sein? Doch dieser war eine Tatsache. Die Menschen, Israel, und nicht allein Saulus waren ganz und gar verblendet. Das Fleisch erkennt niemals Gott. Der verachtete und gehasste Name Jesu ist die einzige Hoffnung für den Menschen. Jesus ist der einzige Retter und Herr. Seine Herrlichkeit leuchtete vor den erstaunten Augen des Saulus auf, der sich sofort unterwarf. Sein Niederwerfen geschah nicht ohne ein außerordentlich tiefes Erforschen des Herzens. Wie konnte es eine Frage hinsichtlich der göttlichen Macht geben? Wie konnte ihre Echtheit bezweifelt werden? Genauso wenig gab es eine Frage in Bezug auf die Gnade, die Saulus zuteilwurde, obwohl nicht in der Weise der Menschen. Das Licht, welches ihn plötzlich umstrahlte, kam vom Himmel. Das war Gottes Weg. Die Stimme, welche sagte: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“, war die Stimme Jesu. „Wer bist du, Herr?“, rief Saulus aus; und er vernahm die Antwort: „Ich bin Jesus, den du verfolgst.“ Wie konnte er dem himmlischen Gesicht widerstehen? (vgl. Apg 26,19).
Danach erhob sich Saulus von der Erde. „Die Männer aber, die mit ihm des Weges zogen, standen sprachlos, da sie wohl die Stimme hörten, aber niemand sahen“ (V. 7). Saulus hingegen hörte die Worte der Stimme des Herrn; und seine Worte waren Geist und Leben, ewiges Leben, für seine Seele. Drei Tage lang aß und trank er nicht. Ein tiefgehendes sittliches Werk Gottes fand in seinem bekehrten Herzen statt. Nichtsdestoweniger musste sogar er, ein Apostel, durch dieselbe schmale Pforte eingehen wie jeder andere Gläubige. Daher lesen wir von Ananias und die Wege des Herrn mit ihm. Kein großer Apostel, nicht einmal Philippus – ein einfacher Jünger von Damaskus, Ananias genannt, wurde vom Herrn in einem Gesicht angesprochen; und er ging zu Saulus. In einem anderen Gesicht hatte der Herr diesem schon gezeigt, wie Ananias in sein Zimmer trat und ihm seine Hand auflegte, damit er wieder sehend wurde.
Der Geist Gottes offenbart uns die Freiheit, in welcher ein Knecht des Herrn Jesus sich mit Ihm unterhält; denn weder ein Mensch, noch ein Kind Gottes reicht von selbst an die Höhe seiner Gnade heran. Ananias war auf die Berufung eines solchen Feindes des Evangeliums überhaupt nicht vorbereitet und trägen Herzens. Er konnte den Worten des Heilandes nicht recht Glauben schenken und erhob sozusagen Einwände. „Herr“, sagte er, „ich habe von vielen von diesem Manne gehört, wie viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem getan hat. Und hier hat er Gewalt von den Hohenpriestern, alle zu binden, die deinen Namen anrufen“ (V. 13–14). Der Herr antwortete ihm jedoch: „Gehe hin; denn dieser ist mir ein auserwähltes Gefäß, meinen Namen zu tragen sowohl vor Nationen als Könige und Söhne Israels“ (V. 15).
Auch in diesen Worten ist die Andeutung eigentlich klar genug, dass die Nationen in dem Werk, für das Saulus von Tarsus ausersehen war, im Vordergrund standen. Das war jedoch nicht alles. Sein Werk sollte ausdrücklich ein Zeugnis der Gnade werden, indem er um des Namens Christi willen leiden würde. „Denn ich werde ihm zeigen, wie vieles er für meinen Namen leiden muss“ (V. 16). So geschah es dann auch. Ananias ging zu ihm, legte ihm die Hände auf und begrüßte ihn mit jener lieblichen Anrede, welche Christus eingeführt, geweiht und uns mitgeteilt hat aufgrund unseres neuen Verwandtschaftsverhältnisses. Danach berichtete er Saulus, wie der Herr, das ist Jesus, ihm erschienen war. Welch eine Bestätigung für das Herz des Apostels, als er erfuhr, dass Ananias von demselben Herrn Jesus gesandt wurde ohne irgendein äußeres Einwirken, sei es durch Saulus selbst oder einen anderen Menschen! „Der Herr hat mich gesandt, ... damit du wieder sehend und mit Heiligem Geiste erfüllt werdest“ (V. 17). Jedes dieser Worte fand seine Erfüllung. Saulus „stand auf und wurde getauft. Und nachdem er Speise genommen hatte, wurde er gestärkt. Er war aber etliche Tage bei den Jüngern“ (V. 18–19).
Nach angemessener Frist hören wir in seinem Zeugnis von einem weiteren Wachstum in der Wahrheit über die Person Christi. „Alsbald predigte er in den Synagogen Jesum, dass dieser der Sohn Gottes ist“ (V. 20). Das war die eindrückliche und kennzeichnende Darstellung seiner Person, wie sie dem Apostel übertragen wurde, und zwar sofort. Diese war auch Petrus schon bekannt. Wir alle wissen, wie gesegnet er Jesus während seiner Anwesenheit hienieden nicht nur als den Messias, sondern auch als den Sohn des lebendigen Gottes bekannte (Mt 16,16). Auch die übrigen Jünger besaßen denselben Glauben. Sicherlich galt dies für alle, die wirklich glaubten und denen seine Herrlichkeit nicht fremd war. Nichtsdestoweniger, „aus der Fülle des Herzens redet der Mund“ (Mt 12,34); und der Mann, welcher den Herrn in der Tiefe seiner persönlichen Gnade und der Größe seiner Herrlichkeit vorzustellen liebte, wies sicherlich eine besondere geistliche Befähigung auf, um die Freude des Herzens an dem auszudrücken, was die Gnade in ihm bewirkt hatte. Obwohl zweifellos auch die anderen Jünger durch den Heiligen Geist über denselben Heiland belehrt waren, besaßen doch nicht alle dasselbe Verständnisvermögen, noch fanden alle Wahrheiten in ihnen die gleiche Wertschätzung. Paulus empfing seine Erkenntnis nicht nur plötzlich, sondern auch in einem himmlischen Glanz. Das war einzigartig. Dadurch wurde in kürzester Zeit ein sehr großes Werk in ihm vollbracht. Ihm wurde vorgestellt, was zu Christus gehört – nicht nur der Platz, den Er eingenommen hat, sondern auch sein Wesen von aller Ewigkeit her, d. h. vor allem seine inneren Kostbarkeiten. Paulus predigte in den Synagogen mit aller Kühnheit, „dass dieser der Sohn Gottes ist. Alle aber, die es hörten, gerieten außer sich.“ „Saulus aber erstarkte umso mehr und brachte die Juden, die in Damaskus wohnten, in Verwirrung, indem er bewies, dass dieser der Christus ist“ (V. 22). Die Lehre von Christi Gottessohnschaft hob natürlich nicht im Geringsten sein Anrecht als Messias auf. Letzteres blieb bestehen. Saulus predigte Ihn jedoch viel mehr in seiner eigenen persönlichen Herrlichkeit und nicht als den Sohn Davids, den Knecht. Letzteres war die große Aufgabe von Petrus, welcher ausrief, dass Gott Ihn zum Herrn und Christus gemacht habe. Es ging hier auch nicht um den Sohn des Menschen im Himmel, wie Stephanus Ihn bezeugt hatte. Nein, Paulus verkündigte, dass dieser Jesus, der Christus, der Sohn Gottes ist. Dieses Zeugnis steht offensichtlich in besonderer Verbindung mit seiner göttlichen Natur, d. h. seiner Herrlichkeit als Gott.
Die dann folgende Zucht war nicht leicht für Saulus. Da die Juden die Stadttore bewachten, um ihn umzubringen, nahmen ihn die Jünger bei Nacht und ließen ihn in einem Korb die Stadtmauer hinab. Hierin erkennen wir größte Einfachheit und Ruhe. Wir lesen von keiner Zurschaustellung großer Taten, auch nichts von Wagemut. Könnte Christus in diesen gefunden werden? Im Gegenteil, wir sehen eine Handlungsweise, die äußerlich gesehen, von großer Schwäche zeugte. Saulus war jener Mann, der zu einer anderen Zeit schrieb, dass er sich seiner Schwachheiten rühmt (2. Kor 12,9). Er handelte hier nach denselben Grundsätzen, von denen er später schrieb. Er war von Gott geleitet.
Danach lernen wir eine weitere bedeutsame Lektion. „Als er aber nach Jerusalem gekommen war, versuchte er, sich den Jüngern anzuschließen; und alle fürchteten sich vor ihm, da sie nicht glaubten, dass er ein Jünger sei“ (V. 26). Gott hatte ihn nicht mit einem solch überwältigenden Einfluss bekleidet, dass ihm durch die größten der Apostel alle Türen offen standen. Warum sollte ein Bekenner Christi – jedes Kind Gottes – davor zurückscheuen, jene gottgemäß zufrieden zu stellen, welche Bedenken haben? Warum gibt es soviel Eile und Ungeduld? Warum ist man so unwillig, anderen entgegenzukommen und sich ihnen zu unterwerfen, wenn es sich um eine Frage der Aufnahme handelt? Sollten wir nicht ein ernstes Verlangen zeigen, uns all dem zu beugen, was der Kirche (Versammlung) Gottes angemessen ist? Hier erfahren wir, dass sogar der Apostel Paulus nicht darüber stand.
Das heißt andererseits nicht, dass wir in der Versammlung oder als einzelne Christen einen Geist der Verdächtigungen und des Misstrauens pflegen sollten. Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass es vonseiten der Geschwister in Jerusalem schön gewesen wäre, dieser wunderbaren Entfaltung der göttlichen Gnade gegenüber in einer zögernden Haltung zu verharren. Was ich indessen zu unserem Nutzen, geliebte Geschwister, betonen möchte, ist die Wahrheit, dass derjenige, der ein Gegenstand der Gnade geworden ist, es sich erlauben kann, selbst gnadenvoll zu sein. Es zeigt sich nirgendwo ein schmerzlicherer Mangel hierin als in jener Art von Aufsässigkeit, die so leicht an der geringsten Spur von Furcht oder Ängstlichkeit bei anderen Anstoß nimmt. Wenn jemand vor jeder Art von Untersuchung durch die Geschwister zurückschreckt, zeugt dies sicherlich von nichts anderem als der Wirksamkeit des Ichs in ihm. Stände Christus vor unserer Seele, würden wir uns beugen, so wie jener gesegnete Mann, der von Gott mit unvergleichlich kostbareren Zeichen seiner Gunst berufen wurde als irgendjemand sonst, nämlich Saulus von Tarsus. Doch der Herr nahm das Misstrauen der Versammlung zur Kenntnis und wusste, wie Er das Herz seines Knechtes ermutigen konnte. Unter den Geschwistern in Jerusalem befand sich ein „guter Mann und voll Heiligen Geistes“ (Apg 11,24), von dem wir schon viel Schönes gehört haben und noch hören werden (wenn auch nicht völlig ungetrübt, denn er war ein Mensch). Nichtsdestoweniger, als ein „guter Mann und voll Heiligen Geistes“ ging er Saulus nach, als andere sich noch zurückhielten, und brachte ihn zu den Aposteln, indem er ihnen erklärte, „wie er [Saulus] auf dem Wege den Herrn gesehen habe, und dass derselbe zu ihm geredet, und wie er in Damaskus freimütig im Namen Jesu gesprochen habe. Und er ging mit ihnen aus und ein in Jerusalem“ (V. 27–28). Die Gnade schenkt der Gnade leicht Glauben, versteht die Wege des Herrn und zerstreut Misstrauen. Es ist schön zu sehen, wie der Herr auf diese Weise in einer an sich einmaligen Lebensgeschichte, die anscheinend völlig jenseits jeder normalen christlichen Erfahrung und aller christlicher Erfordernisse liegt, in seinem gesegneten Wort für die tagtäglichen Schwierigkeiten Vorsorge trifft, durch die Gläubige in Zeiten der Schwachheit wie die unseren zu gehen haben.
Nach diesem wunderbaren Wirken Gottes hatte die Kirche (Versammlung) Frieden. Ich sage: „Die Kirche.“ Ich denke nicht, dass jemand bezweifeln müsste, dass dies der richtige Ausdruck im Originaltext von Vers 31 ist 1. Der übliche Text und fast alle Übersetzungen geben hier „die Kirchen (Versammlungen)“. Ich glaube jedoch, dass dies ein falscher Ausdruck ist, der sich hier eingeschlichen hat, weil das Bewusstsein von der Einheit der Versammlung so schnell vergessen wurde. Daher verstehen die Menschen im Allgemeinen nicht, dass es sich in Judäa, Galiläa und Samaria um ein und dieselbe Kirche handelt. Es ist natürlich einfacher, die Einheit der christlichen Versammlung in einer Stadt zu sehen, selbst wenn diese so groß war wie die von Jerusalem, wo die Gläubigen sich in nicht wenigen verschiedenen Örtlichkeiten oder Räumen getroffen haben müssen. Auch eine Kirche, die nicht nur eine Stadt, sondern eine ganze Provinz oder ein Land umfasst, ist dem Menschen einsichtig. Größere Schwierigkeiten hat er aber mit der Vorstellung, dass sie in all den mannigfaltigen und unterschiedlichen Distrikten immer noch eine Einheit bildet. Der Wechsel im Bibeltext ist wohl ein Hinweis darauf, dass letztere Vorstellung für die Abschreiber der Apostelgeschichte zu hoch war. Die Schreibweise, die von den besten und ältesten Autoritäten gestützt wird, ist der Singular (Einzahl). Sie spricht nicht von „Versammlungen“, sondern von „der Versammlung“. „So hatte denn die Versammlung durch ganz Judäa und Galiläa und Samaria hin Frieden.“ Zweifellos bestanden in diesen Gegenden Versammlungen. Dennoch bildeten sie zusammen ein und dieselbe Versammlung und nicht verschiedene Körperschaften.
Das Ende des Kapitels zeigt uns Petrus' Reise. Er besuchte die umliegenden Landstriche. Selbst der Dienst des Petrus blieb nicht länger auf Jerusalem beschränkt, auch wenn er nicht zu einem so ausgedehnten Wirkungskreis berufen war wie Paulus. So durchzog er also „allenthalben“ das Land Palästina und kam zu den Heiligen nach Lydda hinab, wo ihn die Menschen der Landschaft Saron kennen lernten. In Joppe wirkte er dann ein noch eindrucksvolleres Wunder des Herrn als das der Heilung des schon seit Jahren gelähmten Äneas, indem er die tote Tabitha auferweckte. Zu diesen beiden Ereignissen möchte ich nur noch bemerken, wie die Gnade sie zu einer Ausbreitung des Zeugnisses gebrauchte. „Es sahen ihn alle, die zu Lydda und Saron wohnten, welche sich zum Herrn bekehrten“ (V. 35). „Es wurde aber durch ganz Joppe hin kund, und viele glaubten an den Herrn“ (V. 42). Jetzt sollte indessen ein viel weitergehender Schritt erfolgen. Diesen leitete der Herr mit der nötigen Feierlichkeit ein, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden.
Fußnoten
- 1 Siehe Fußnote und „bearb. nicht-revid. Elberfelder Neues Testament“ von 1996. (Übs.)