Die Zerstreuten unter den Nationen
Kapitel 8-10
Das Buch Esther schließt mit der Befreiung der Juden gerade in dem Augenblick, als das Verderben über sie hereinzubrechen drohte, sowie mit ihrer Erhöhung im Reiche und der Beschreibung ihrer Freudenfeier.
Welch ein geheimnisvolles Wirken der Hand Gottes haben wir in allem bisher Gesehenen wahrgenommen! Der Amalekiter, der große Widersacher, wird in der Stunde seiner stolzesten Erhebung zu Boden geschmettert, und sein Andenken wird gänzlich ausgetilgt; während der Jude, sein ersehntes und erwartetes Opfer, Befreiung aus aller Gefahr findet, als nur noch ein Schritt zwischen ihm und dem Tode war, worauf er zu Gunst und Ehren emporsteigt und seinen Platz unmittelbar neben dem Throne erhält.
Welch eine Geschichte! müssen wir wieder und wieder ausrufen. Wahr in allen ihren einzelnen Umständen, und zugleich von vorbildlicher Bedeutung, weil sie uns auf die letzten Tage der Geschichte der Juden und der ganzen Erde hin, auf jene Tage, von denen die Propheten immer wieder geredet haben, die Tage des Zusammenbruchs des Menschen der Erde und der Erhöhung des Volkes Gottes in Gottes Königreich.
Mordokai, anstatt wie bisher im Tore des Hofes zu stehen, tritt jetzt vor den König und erhält dessen Fingerring, das Zeichen von Amt und Gewalt. So erhält auch der Jude am Ende dieses Zeitalters seinen neuen Platz. Die ganze Schrift bereitet uns darauf vor, und hier sehen wir es bildlich dargestellt. Hiermit enden die geschichtlichen Schriften des Alten Testaments, und hiermit endet auch, vorbildlich, die Geschichte der Erde.
Die Hauptcharakterzüge in der Geschichte Israels, wie wir sie in den Propheten dargestellt finden, sind folgende:
1. Gegenwärtige Verwerfung der jüdischen Nation und Verbergen des Angesichts Gottes ihr gegenüber, verbunden mit ihrer durch die göttliche Vorsehung bewirkten Erhaltung inmitten der Völker der Erde.
2. Gegenwärtige Auswahl eines Überrestes und am Ende jene Buße, welche Israel, als Nation, ins Reich bringen wird.
3. Gericht ihrer Widersacher und Bedränger, Hand in Hand mit der Niederwerfung ihres großen ungläubigen Feindes.
4. Befreiung, Erhöhung und Segnung Israels in den Tagen des Reiches, wobei das Volk wieder die Führerschaft unter den Nationen in die Hand nehmen wird.
Diese vier Punkte, die zu den großen, von den Propheten behandelten Gegenständen gehören, finden wir auch in dem kleinen Buche Esther. Ich wiederhole deshalb: Dieser letzte alttestamentliche Bericht von dem Volke Israel versinnbildlicht und verbürgt ihre gegenwärtige Bewahrung während der ganzen Dauer der Herrschaft der Nationen, sowie ihre Herrlichkeit in den letzten Tagen, wenn das Gericht an ihren Feinden vollzogen werden wird.
Verschiedene besondere Züge des kommenden Tausendjährigen Reiches finden sich gleicherweise hier dargestellt. Die Furcht vor den Juden fällt auf ihre Feinde, auf alle, welche um sie her wohnten, so daß diese von jedem Versuch, ihnen Schaden zuzufügen, abgehalten werden. Diese Erscheinung war in der Blütezeit des Volkes wahrgenommen worden, und sie ist durch die Propheten vorhergesagt als daß dereinstige Teil Israels. Susan, die Hauptstadt der heidnischen Welt in jenen Tagen, jauchzt über die Erhöhung des Juden; ebenso wird, wie alle prophetischen Schriften uns sagen, die ganze Welt fröhlich sein unter dem Schatten des Thrones Israels zur Zeit des zukünftigen Reiches. Viele von dem Volke des Landes wurden Juden; dasselbe lesen wir wieder und wieder als der Zukunft vorbehalten in den Propheten. So heißt es z. B. in Jes 2,3: „Viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und laßt uns hinaufziehen zum Berge Jehovas, zum Hause des Gottes Jakobs! Und Er wird uns belehren aus Seinen Wegen, und wir wollen wandeln in Seinen Pfaden. Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen, und das Wort Jehovas von Jerusalem.“ Der Thron, welcher den Juden erhöht und seinen Bedrücker zu Fall gebracht hat, übt eine allumfassende Herrschaft aus, indem er dem Lande und den Inseln des Meeres eine Abgabe auferlegt; so wird auch der König in Zion „herrschen von Meer zu Meer, und vom Strome bis an die Enden der Erde“.
Hier, in unserem Buche, möchte ich noch hinzufügen, stellt Ahasveros die Macht oder die königliche Autorität auf Erden dar. Der Thron, auf welchem er saß, war damals der erste unter den Nationen. Er verkörpert gleichsam „die Macht“ und stellt so, in einem schwachen Vorbilde, die Macht dar, welche in den zukünftigen Tagen des Reiches von einem göttlichen Haupte ausgeübt werden wird. Freilich entfaltete sich diese Macht in der Hand des Persers zuerst im Bösen, indem sie die gottlosen Plänen Hamans diente; aber hernach erhöhte sie den Gerechten. Jedenfalls stellt Ahasveros, wie gesagt, die Macht, die königliche Autorität auf Erden, dar. Wie Salomo in Jerusalem, so hat auch er persönlich Böses verübt. Wohl mag er Reue darüber empfunden haben, aber immerhin waren seine persönlichen Wege zwischen böse und gut geteilt. Nichtsdestoweniger finden wir in ihm in allgemeiner bildlicher Weise die Darstellung der Macht, und so ist er ein Schatten von Christo auf dem Throne der Herrlichkeit, jenem Thron, der die Welt in Gerechtigkeit richten wird.
Alles das ist voll vorbildlicher Schönheit und Bedeutung. Die Tage des Ahasveros und des Mordokai waren Tage Salomos und Tage der Prophezeiung, welche auf die Zeit des kommenden Tausendjährigen Reiches, der Herrschafts Gottes auf Erden und unter den Nationen, hinwiesen. Sie waren die Tagen Josephs in Ägypten vergleichbar. Mordokai in Persien nahm eine ähnliche Stellung ein wie Joseph in Ägypten. So enthält denn das erste wie das letzte geschichtliche Buch des Alten Testaments diese verschiedenen, aber verwandten Berichte von dem, was kommen wird zur Zeit des Endes und des Gerichts über die Reiche der Nationen.
Die Tage der Purim verherrlichen alles dieses. Sie feiern den Triumph nach dem Siege, die Freude des Reiches nach der Errichtung desselben. Die Juden legte es sich auf, dem Worte Mordokais und Esthers gemäß, den 14. und 15. Tag des zwölften Monats, des Monats Adar, zu Tagen des Gastmahls und der Freude zu machen, weil sie an diesen Tagen Ruhe erlangt hatten vor ihren Feinden und ihre Trauer sich in Freude, Glanz und Ehre verwandelt hatte. Die Purimtage erinnern uns an das Passah; sie verherrlichten die Befreiung vom Lande der Perser, wie das Passah die Befreiung vom Lande Ägypten darstellte. Oder, wenn man es lieber so will, die Purim waren ein zweiter Sang am Roten Meere, oder ein zweites Lied der Debora und des Barak nach der Vernichtung des Kanaaniters – eine kleine Probe von dem Gesang, der an dem gläsernen Meer erschallen wird (Off 15), oder wiederrum, wenn man es lieber so will, von der Freude Israels in den zukünftigen Tagen des Reiches, wenn sie Wasser schöpfen werden aus den Quellen des Heils. (vgl. Jes 12) die Psalm 124 und 126, welche für die zukünftigen Tage der Herrlichkeit und Freude Israels zuvor bereitet sind, atmen denselben Geist, der Israels in den Tagen Mordokais und Esthers beseelt haben muß.
Es ist lieblich und ermunternd, alles dieses zu verfolgen, diese immer wiederkehrenden vorbildlichen Erzählungen zu lesen, während wir noch auf dem Wege sind und auf den vollen Chor ewiger Harmonieen in Gegenwart der Herrlichkeit warten. Die Kirche in ihrem Kindesalter, wie wir sie in Apostelgeschichte 4 dargestellt finden, nimmt in diesem Geist Bezug auf den zweiten Psalm, geschaffen wie er ist für den Tag, an welchem Gottes König auf dem Berge Zion sitzen wird, nachdem der Feind seinen Untergang gefunden hat und die Könige der Erde gelernt haben, sich vor Ihm niederzuwerfen. Gott hat Wohlgefallen an Seinen Werken. „Denn du hast alle Dinge erschaffen, und deines Willens wegen waren sie und sind sie erschaffen worden“, singen die vierundzwanzig Ältesten in Offenbarung 4. Er erhält daher die Werke Seiner Hände, als ihr Schöpfer. Er hat Wohlgefallen an den Ratschlüssen Seiner Gnade und Weisheit. Deshalb hat Er bis zu diesem Tage das Volk der Juden erhalten, und Er wird es erhalten, bis die Frucht Seiner Ratschlüsse in Seinem Reiche in die Erscheinung treten wird. Sein Reich wird sich auf den Ruinen und dem Gericht der Nationen aufbauen, und Christi Welt, „der zukünftige Erdkreis“, wird glänzen in Herrlichkeit und Reinheit und Segnung, nachdem die „gegenwärtige böse Welt“ zusammengefallen und hinweggetan sein wird.
Von diesem zukünftigen Reich, dem Tausendjährigen Zeitalter, haben die Propheten in der mannigfaltigsten Weise gesprochen; es ist aber auch von Anfang an in allen möglichen Arten von Vorbildern und ganzen oder teilweisen Abschattungen, in geschichtlichen Bruchstücken und dergleichen, dargestellt worden, so wie wir es z. B. hier am Schluß des Buches Esther erblickt haben. Verordnungen, Prophezeiungen und Geschichten – aller haben dazu auf ihre Art und Weise beitragen müssen:
Schon ehe die vor der Flut lebenden Heiligen diesen Schauplatz verließen, redete der Geist der Prophezeiung durch Lamech und rief ihnen ein die Erde betreffendes Verheißungswort zu: Zu seiner Zeit sollte Tröstung statt Fluch auf ihr sein. (s. 1. Mose 5)
In Noah, dem Menschen der neuen Welt, erblicken wir eine bildliche Erläuterung dieser Prophezeiung: nach dem Gericht durch die Flut ersteht die Erde gleichsam wieder in neuer, oder in Auferstehungs-Gestalt; ein Pfand, ein Vorbild von der Tausendjährigen Zeit, liegt also vor uns.
Das Land Ägypten unter der Regierung Josephs ist ein ähnliches Bild.
Unter dem Gesetz finden wir Schatten von derselben Tausendjährigen Ruhe in dem wöchentlichen Sabbath, dem jährlichen Laubhüttenfest und in dem alle fünfzig Jahre wiederkehrenden Jubeljahre.
Auch jene leider nur so kurz währende Zeit, wo die Stämme Israels in den Tagen Josuas ins Land einzogen und hier als ein beschnittenes Volk das Passah feierten und dann ungesäuerte Kuchen von dem Erzeugnis des Landes aßen, zeugt, wenn auch in anderer Form, von demselben glücklichen Geheimnis. (vgl. Josua 5)
Später redete die blühende Regierung Salomos in ausgedehnterer Form, voll und reich, von dem gleichen Geheimnis.
Ja, was ich noch erwähnen möchte, selbst die Begegnung Jethros mit dem befreiten Israel am Berge Gottes, in den Tagen ihrer Wüstenreise, war, obwohl in anderer Gestalt, ein Vorbild von demselben zukünftigen Tage der Herrlichkeit. (vgl. 2. Mose 18)
Und so haben wir hier, in den Tagen der Zerstreuung, die nämliche Sache vor uns.
Prophezeiungen auf Prophezeiungen begleiten diese Verordnungen und diese Geschichten. Nicht nur durch viele, sondern auch durch ganz verschiedenartige Zeugnisse wird uns die Wahrheit von dem Reich, das noch errichtet, und von der Herrlichkeit, die noch geoffenbart werden soll, bestätigt. Immer wieder werden wir auf die großen und herrlichen Ausgänge der Ratschlüsse Gottes hingewiesen, auf jenen Vorsatz, der seine Erfüllung finden wird „in der Verwaltung der Fülle der Zeiten“.
Das Neue Testament gibt uns ähnliche bildliche Erläuterungen und Verheißungen. Die Verklärung ist eine davon. Die „Wiedergeburt“ in Mt 19,28 weist ebenfalls darauf hin. Die ersten Geschehnisse in der Offenbarung sind bahnbrechend für das, was da kommen soll; und am Ende des Buches sehen wir das Reich der Herrlichkeit vor unseren Augen erscheinen, wenn die heilige Stadt vom Himmel herabkommt, „die Herrlichkeit Gottes habend“, und wenn dann die Nationen, welche dem Tausendjährigen Reiche angehören, in ihrem Lichte wandeln.
So finden wir denn, daß das Ende des Buches Esther in Verbindung steht mit Dingen aus dem allerersten Anfang bis zum letzten Ende der Zeiten, und zwar durch „das ganze Buch“ hindurch, in all den Handlungen und Aussprüchen Gottes im Fortschreiten der Geschichte dieser Welt. Das ist wunderbar. Welch ein Zeugnis ist es für die Schriften, die das Wort Gottes ausmachen! Welch ein Beweis von dem Wehen desselben Geistes in allen seinen Teilen! Wie redet es zu uns von dem Gott, der „von Anfang an das Ende verkündet, und von alters her was noch nicht geschehen ist“! (Jes 46,10) Auch wir, teurer Leser, haben unseren besonderen Platz in den Gedanken Gottes und nehmen eine Stelle ein in Seinem großen Ratschluß.