Nehemia - die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem
Nehemia 11-13
In diesen Kapiteln finden wir das Volk immer noch eifrig und gehorsam. Der Tag der Erweckung dauert an. Die Frische des Morgens hat noch keineswegs nachgelassen, obwohl der Tag schon weiter vorgerückt ist.
Das 11. Kapitel beginnt mit einem traurigen Beweis von dem niedrigen Zustand Jerusalems. Die Stadt selbst legt Zeugnis wider sich ab, dass sie nicht so ist, wie der Herr sie in den Tagen der kommenden Herrlichkeit haben will. Sie ist nicht „ersehnt“, eher ist sie „verlassen“. Das Volk strömt ihr nicht zu. Sie kann nicht umherblicken, wie sie es in den Tagen des Reiches tun wird, und sich wundern über die Menge ihrer Kinder. Bis jetzt rühmt sich niemand, dass er in ihr geboren sei, noch sagt jemand, dass alle seine Quellen in ihr seien (vgl. Ps 87). Auch kann sie noch nicht von sich sagen, dass ihr der Raum zu eng sei wegen der Menge derer, die in ihr wohnen (vgl. Jes 49,17–21). Ihr Zustand in diesem Kapitel hat von allem diesen nichts aufzuweisen. Sie ist Schuldnerin jedem gegenüber, der freiwillig oder durch das Los bestimmt seine Wohnung in ihr nimmt.
Welch ein Zeugnis ist das von ihrem niedrigen Zustand! Welch ein Beweis dafür, dass eine Wiederherstellung noch nicht die Herrlichkeit ist! (Und welch ein Zeugnis gibt die Christenheit von der Tatsache, dass Reformation nicht Herrlichkeit ist!) Jerusalem ist noch zertreten, die Zeiten der Nationen sind noch nicht erfüllt. Noch hat die Tochter Zion sich nicht erhoben, um den Staub von sich abzuschütteln und sich mit ihrer Macht und ihren Prachtgewändern zu bekleiden (vgl. Jes 52,1.2).
Immerhin, Jerusalem muss bewohnt werden, es muss Bürger in seinen Mauern haben. Das Land muss sein Volk haben, denn nicht mehr lange, so soll der Messias unter ihnen wandeln. Die Stadt muss ihre Einwohner haben, denn ihr König wird bald erscheinen. Diesen Zweck hatte die Rückkehr von Babel, und diesen Zweck das Bevölkern Jerusalems.
Im 12. Kapitel ist aufs Neue von der Mauer die Rede, von der Jerusalem jetzt ganz umgeben ist. Und dass die Mauer, wenn einmal vorhanden, auch eingeweiht wird, ist durchaus am Platz. Schon oft war bei ähnlichen Anlässen ein öffentliches Fest gefeiert worden. Denken wir nur an das Hinaufbringen der Bundeslade in den Tagen Davids, an die Einweihung des Tempels zur Zeit Salomos, an die Grundsteinlegung des Tempels in den Tagen Serubbabels, sowie endlich an die Vollendung dieses zweiten Hauses. Und nun, in den Zeiten Nehemias, feiert das Volk mit Freuden die Einweihung der Mauer, die die Stadt umschließt.
Aber während das sich so verhält und so weit auch ganz in Ordnung ist, möchte ich doch fragen: Was ist eigentlich diese Mauer? Ist sie nicht ein weiteres Zeugnis von der Erniedrigung Jerusalems? In den kommenden Tagen ihrer Macht und Schönheit, wenn Jerusalem die Stadt des Reiches, der Mittelpunkt der Welt, das Heiligtum und der Palast des großen Königs von Israel und der Erde ist, dann wird „Rettung“ ihre Mauer sein. Gott wird dann Rettung zu Mauern und zum Bollwerk setzen (Jes 26,1). Der Herr selbst wird, ihren Bergen gleich, rings um sie her sein (Ps 125,2). Ihre Mauern werden Rettung und ihre Tore Ruhm genannt werden (Jes 60,18). Die Stimme des Geistes in dem Propheten Sacharja, die um jene Zeit kaum verhallt sein konnte, hatte den schönen Ausspruch getan: „Als offene Stadt wird Jerusalem bewohnt werden wegen der Menge von Menschen und Vieh in seiner Mitte. Und ich, spricht der HERR, werde ihm ringsum eine feurige Mauer sein und werde zur Herrlichkeit sein in seiner Mitte“ (Sach 2,8.9).
Wie unendlich groß ist doch der Unterschied! Unter Nehemias Augen trägt Jerusalem die Zeichen seiner Schande, während wir in den Propheten lesen, dass es zur höchsten Ehre und Auszeichnung auf Erden bestimmt ist. Was muss ein Mann wie Nehemia hierbei gefühlt haben! Und doch setzt er seinen Dienst fort, aufrichtig, unverzagt und geduldig. Ein schöner Geist der Hingebung drückt sich darin aus. Nehemia arbeitet, und er arbeitet in würdiger Weise, wenn auch von äußeren Feinden bedrängt und im Inneren von einem niedrigen Zustand umgeben. Als einen solchen Diener Christi sehen wir Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus.
Auch wir sollten solche Diener sein. Die Christenheit, in deren Mitte wir leben, ist so weit entfernt von der Kirche, wie wir sie in den Briefen dargestellt finden, wie das Jerusalem, das Nehemia sah, von der in den Propheten beschriebenen Stadt. Aber Nehemia diente in seiner Mitte, und das sollten auch wir tun vor den Augen und inmitten der Christenheit. Denn für den treuen Diener ist nicht der Schauplatz des Dienstes, sondern der Wille des Herrn maßgebend.
Obwohl wir also Israel wiederhergestellt, das Land bevölkert und die Stadt wieder bewohnt finden, ist das doch nicht das Reich. Die Kinder Israel müssen noch ernster Prüfung und Sichtung unterzogen werden, und der Tag der Gnade, des Heils und der Herrlichkeit, der verheißene Tag des Reichs, ist noch fern. Aber der Glaube muss in Übung sein, und der Gehorsam hat seine Aufgabe zu lernen und auszuführen.
Demgemäß finden wir zu Beginn des 13. Kapitels das Buch Gottes immer noch offen. Denn wie schon einmal erwähnt, ist ein Tag der Erweckung sicher auch ein Tag der „geöffneten Bibel“. Doch das Volk muss jetzt etwas Neues lernen. Es nimmt zu an Verständnis und an Einsicht in die göttlichen Grundsätze. Ein anderes Blatt des Buches liegt jetzt vor ihm aufgeschlagen. Bis dahin hatte die Schrift „Trost“ für die Zurückgekehrten, von jetzt an wird sie von „Ausharren“ zu ihnen reden. Bisher hatte sie ihnen „auf der Flöte gespielt“, von jetzt an wird sie ihnen „Klagelieder singen“ (Mt 11,17). Die Freude des Festes des Posaunenhalls und die noch reichere Freude des Laubhüttenfestes war ihnen offenbart worden, und sie hatten im Gehorsam darauf geantwortet. Sie hatten zu dem Flötenspiel „getanzt“. Jetzt aber wartet auf sie eine schmerzliche Übung durch das Buch. Sie lesen darin, „dass kein Ammoniter und Moabiter in die Versammlung Gottes kommen sollte in Ewigkeit“.
Das war erschreckend. Alle hatten bis dahin friedlich nebeneinander gelebt. Nicht nur bei den Festesfreuden, sondern auch bei dem Bekenntnis waren sie zusammen gewesen. Die „Kinder der Fremde“ waren entfernt worden, aber das „Mischvolk“ scheint nicht beachtet worden zu sein. Nun aber musste auf das in 5. Mose 23 gefundene Gebot hin diese ernste Trennung vollzogen werden, geradeso wie man nach 3. Mose 23 die Freude des Laubhüttenfestes genossen hatte.
Doch war dies umso mehr geeignet, den Geist des Gehorsams in jenen schönen Tagen des Wiederauflebens auf die Probe zu stellen. Und das Volk besteht die Probe und antwortet auf die Forderung des Wortes Gottes in gesegneter Weise. Wir lesen: „Und es geschah, als sie das Gesetz hörten, da sonderten sie alles Mischvolk von Israel ab“ (Kap. 13,3). Das war in der Tat Gehorsam: Sie taten, was die Schrift vorschrieb, was das Wort lehrte - was für einen Dienst oder was für eine Pflicht es auch immer auferlegte oder was für Opfer es auch immer erforderte.
Dann aber findet sich Böses, und zwar an so hoher Stelle, dass das Volk es anscheinend nicht erreichen kann. Doch es muss selbst da erreicht werden, denn ein Tag der Erweckung und der neuen Kraft von Gott muss ein Tag des Gehorsams sein. Während der ganzen Zeit hatte ein Ammoniter im Haus des HERRN gewohnt. Das ging über alles Maß hinaus. Nicht nur befand sich der Mann, wie das Mischvolk, in der Versammlung - nein, er wohnte im Tempel, und das durch Vermittlung des Hohenpriesters selbst.
Nehemia hielt sich zu der Zeit, da dieses Böse geschehen war, nicht in Jerusalem auf. Aber bei seiner Rückkehr musste er mit demselben handeln, so wie das Volk in seinem Maß bereits mit dem Mischvolk gehandelt hatte. Denn die Forderungen von 5. Mose 23 sollen Beachtung finden, selbst wenn der höchste Beamte in der Gemeinde bestraft werden muss. Eljaschib ist bedeutungslos für Nehemia, wenn Moses spricht. Denn dieser besitzt die Autorität Gottes, während jener sie nur über sich anzuerkennen hat. Das ist durchaus ein Mahnungswort auch für die Christenheit, die ihren Eljaschib über Moses gesetzt hat. Wenn sie nur Ohren hätte, zu hören!
Aber so stand es nicht mit dem treuen Mann Nehemia. Bei ihm war „der Stuhl Moses“ der oberste Stuhl. Die Schrift beurteilt jeden, während sie selbst von niemandem beurteilt werden darf. Weder der Hohepriester in Israel, noch die kirchliche Überlieferung, noch das sogenannte geistliche Amt, noch irgend etwas anderes in der Christenheit, so althergebracht und liebgewonnen es auch sein mag, darf ein Jota oder ein Pünktchen von dem Wort beiseite setzen. Der Herr sagt selbst: „Die Schrift kann nicht aufgelöst werden“ (Joh 10,35). Wer darf ihr also widersprechen? Gott wird sein Wort erfüllen. An uns ist es, sein Wort zu beobachten. Der Herr wolle dies allen seinen Heiligen tief ins Herz schreiben.
In den Kapiteln 11 und 12 haben wir Zeichen des Niedergangs in Jerusalem wahrgenommen. Wir begegnen ihnen auch noch im 13. Kapitel, und zwar in der Entheiligung des Sabbats und in den Verbindungen mit den Töchtern der Unbeschnittenen. Das ist mehr als Niedrigkeit in den äußeren Umständen; es ist sittlicher Niedergang. Die Befreiung aus der Gefangenschaft und die Wiederbevölkerung der Stadt haben das Volk nicht berechtigt, den Gruß zu empfangen, der in den Tagen des kommenden Reiches von den Lippen einer bewundernden Welt ertönen wird: „Der HERR segne dich, du Wohnung der Gerechtigkeit, du heiliger Berg!“ (Jer 31,23).
Aber ich wiederhole: Trotz diesem allen sehen wir Nehemia im Dienst. Und das ist ein ermunternder Anblick. Es liegt eine große sittliche Würde in dieser Treue im Dienst, mögen wir Proben davon finden, wo und in wem wir wollen.
Auch das Volk ist, mit dem noch immer geöffneten Buch vor sich, ein erbaulicher Anblick, den wir uns nicht entgehen lassen sollten. Sie waren nicht wählerisch im Blick auf das Gesetz. Sie wollten ein Volk sein, für das es kein vernachlässigtes Gebot, keine unbeachtete Seite im Buch Gottes gab. Nicht ein Laut sollte dem Ohr verloren gehen, und wenn er auch nur aus der Ferne gehört wurde.
Wer von uns kommt ihnen darin gleich? Wie sehr neigen wir dazu, uns unsere Abschnitte der Belehrung selbst zu wählen, anstatt zu leben „von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht“! Ist es nicht so? Hören wir nicht lieber von dem Laubhüttenfest und seiner Freude, oder von dem Schall der Posaunen am Tag des Neumondes, als von den ernsten Belehrungen des Wortes, wenn es über Reinigung und Selbstgericht, oder über die Trennung von ungerechtfertigten Verbindungen zu uns redet? Wählen wir gern solche Abschnitte? Oder schlagen wir die Seite des Buches, die von derartigen Dingen redet, lieber um? Ich glaube, wir kennen alle die Versuchung, mit dem römischen Landpfleger zu sagen: „Für jetzt geh hin; wenn ich aber gelegene Zeit habe, werde ich dich rufen lassen“ (Apg 24,25). Der Kreis ist so gesellig, das Herz fühlt sich so behaglich; ach, nein! Gebote wie die in 5. Mose 23,4 sind für den Augenblick unausführbar. Vielleicht später einmal!
Wir dürfen in der Tat sagen, dass alle diese Teile der Schrift, diese treuen Männer Esra und Nehemia, samt den zurückgekehrten Gefangenen, der eingehenden Aufmerksamkeit und der Bewunderung unserer Seelen wert sind. Wie hat der Geist Gottes in den Auserwählten jener Tage gewirkt, und wie belehrt Er uns in unseren Tagen durch das, was Er von ihnen aufgezeichnet hat!
Wir sahen ferner, dass die Tage unter Serubbabel, Esra und Nehemia Zeiten der Erweckung waren. Solche Zeiten waren schon früher da gewesen in Israel, so unter Samuel, David, Josaphat, Hiskia und Jesaja. Und sie sind wieder und wieder in den Tagen der Christenheit vorgekommen. Sie mögen manchmal auch eine unerwartete und vielleicht nie da gewesene Gestalt annehmen. Es ist die Eigentümlichkeit des Lebens, zuzeiten außergewöhnliche Züge anzunehmen und über seine gewöhnlichen Regeln und Maße hinaus zu wirken. Denn Leben ist gewissermaßen eine freie Sache mit einer ihm innewohnenden, eigentümlichen Kraft. Aber obwohl das so ist, müssen wir doch alle Kundgebungen desselben an dem Wort Gottes prüfen. „Zum Gesetz und zum Zeugnis!“ (Jes 8,20). Wenn etwas diese Probe nicht aushält, so ist es nicht das Überquellen des Lebens, mag es auch noch so schön und hinreißend erscheinen. Es muss verworfen werden mit all seinen einnehmenden Begleiterscheinungen.
„Jedem, der hat, wird gegeben werden“ (Lk 19,26). Gehorsam einer Belehrung gegenüber ist der gewisse und sichere Weg zur Aufdeckung einer anderen. „Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen ...“ (Joh 7,17). Hierbei liegt uns jedoch die Versuchung nahe, zurückhaltend zu sein - aus Furcht, das, was wir noch zu lernen haben, möchte sich als beschämend für uns erweisen, wie geschrieben steht: „Wer Erkenntnis mehrt, mehrt Kummer“ (Pred 1,18). Daher zeigen manche von uns eine große Neigung, auf halbem Weg stehen zu bleiben. Aber das ist ebenso gut Ungehorsam, wie das Nichtbeachten eines gelesenen und verstandenen Wortes. Das Buch Gottes aus Furcht vor dem schließen, was es uns etwa noch lehren könnte, ist sicherlich deutlicher Ungehorsam.