Esra - die Rückkehr der Gefangenen nach Jerusalem
Kapitel 7-10
Seit dem in den vorigen Kapiteln Erzählten sind ungefähr sechzig Jahre verflossen. Ein neues Geschlecht ist aufgestanden, und wir hören von einem zweiten Auszug aus Babel.
Die letzte Hälfte des Buches Esra teilt uns die Geschichte Esras selbst mit. Sie besteht aus zwei Teilen; der erste umfasst seine Reise von Babel (Kap. 7 und 8), der zweite berichtet von seinem Werk in Jerusalem (Kap. 9 und 10).
In allem, was wir von ihm hören, finden wir in ihm in hervorragender Weise einen Mann Gottes. Er befindet sich in gewöhnlichen Verhältnissen. Kein Wunder zeichnet sein Vorgehen aus, keine Entfaltung von Herrlichkeit oder Macht begleitet es; auch hören wir nichts von einer göttlichen Inspiration, wie in dem Falle der Propheten Haggai und Sacharja bei Erfüllung ihrer Aufgabe. Alles ist sozusagen gewöhnlich; Esras Hilfsquellen sind dieselben, die uns heute zur Verfügung stehen: das Wort und die Gegenwart Gottes. Aber er benutzte diese Quellen in guter und durchaus treuer Weise. Ehe er an sein Werk ging, richtete er sein Herz darauf, den Herrn zu suchen; er hatte die Satzungen des HERRN erforscht und einen reichen Gewinn davon gehabt, wie ein jeder von uns ihn von dem treuen Lesen des Wortes haben kann. Und von dem Augenblick an, da er zu handeln beginnt, bis zur Vollendung seines Werkes sehen wir ihn in inniger Gemeinschaft und im Verkehr mit dem Herrn. Er führt das Wort Gottes aus, durch jede Schwierigkeit und jedes Hindernis hindurch.
Es ist ein verhältnismäßig kleiner Überrest, den er von Babel nach Jerusalem hinaufführt; aber wir finden einen Geist der Treue und des Gehorsams bei ihm in Übung, der ungewöhnlich ist.
Beim Beginn der Reise ist Esra sorgfältig darauf bedacht, die Heiligkeit der heiligen Dinge zu wahren. In gleichem Geist hatte der Priester Jojada einst gehandelt, als er dem jungen Joas zum Königtum verhalf. Er wollte die Reinheit des Hauses Gottes nicht den scheinbaren Anforderungen der Zeit opfern. (vgl. 2. Chr 23) So will auch Esra hier, bei der Zurückführung seines Überrestes nach Jerusalem, die Heiligkeit der Geräte des Tempels keinem Hindernis, keiner Schwierigkeit seiner Tage zum Opfer bringen. Er wartet ruhig auf die Leviten, die zum Tragen derselben berufen waren, obwohl ihn dies einen Aufenthalt von zwölf Tagen an den Ufern des Flusses Ahawa kostet. In allem diesem steht er weit über dem König David. David hatte in einer Stunde, wo er über die reichen Hilfsquellen eines Königreiches verfügen konnte, das Buch Gottes nicht offen vor sich gehabt, sondern voreilig, wie bereits erwähnt, die Lade Gottes auf einen neuen Wagen gesetzt. Esra erscheint dagegen als ein Mann, der das Wort Gottes beständig vor Augen hat, und der, obwohl mit Davids Eifer begabt, sich doch ernstlich vor dessen Voreiligkeit und Nachlässigkeit hütet. (vgl. 1. Chr 13)
Es ist ein köstliches Ding, einen Heiligen inmitten schwieriger Umstände, wobei ihm nur die gewöhnlichen Hilfsquellen zu Gebote stehen, sich so vor Gott bewegen und so seinen Dienst und seine Pflichten erfüllen zu sehen.
Auch ist Esra ein Mann, der keinen Schritt rückwärts tut. Er hatte sich dem König von Persien gegenüber des Gottes Israels gerühmt, und jetzt, beim Beginn einer gefährlichen Reise, will er ihn nicht um Hilfe bitten und so das Bekenntnis seiner Lippen Lügen strafen. Er will lieber durch Fasten von Gott Macht und Hilfe erlangen, als durch Bitten von dem König.
So vereinigten sich kostbaren Tugenden in diesem teuren Mann Gottes. Sein Tun und seine Gesinnung sind von gleicher Schönheit. Er benutzte Gottes Wort und Gottes Gegenwart. Als ein kundiger Schriftgelehrter war er viel im verborgenen Umgang mit dem Herrn. Daheim ein fleißiger, tiefgehender Forscher, draußen ein energischer, praktischer und sich selbst verleugnender Mann. Er wollte nicht hinter seinem Gewissen zurückbleiben oder, mit anderen Worten, das Wort Gottes irgendeiner Schwierigkeit oder einem Hindernis zum Opfer bringen. Und wenn sein Bekenntnis für einen Augenblick über seinen Glauben hinausging und er sich nicht ganz dem Platz, auf den er gestellt war, gewachsen fühlte, so wartete er einfach, bis Gott sein Herz gestärkt hatte, und gab nicht furchtsam sein Bekenntnis preis.
Dabei waren, wie bereits gesagt, die Umstände, in denen er sich befand, so gewöhnlich, wie heute die unsrigen nur sein mögen. Außer Gottes Wort und Gegenwart besaß er nichts. Er konnte auch nicht, wie einer der Propheten, durch den Heiligen Geist sagen: „So spricht der HERR“; die Gnade Gottes wirkte einfach in der Kraft des Geistes in einem Heiligen, um ihn durch das Wort zu neuem Dienst zu erwecken, ist in der Tat beschämend für uns. Denn wie wenig sind unsere Herzen, im Vergleich zu Esra, in dem Geist ernsten Dienstes und verborgener Gemeinschaft geübt wie er!
Esra und seine Gefährten erreichen, ohne unterwegs von irgendeinem Missgeschick oder einem Verlust getroffen zu werden, Jerusalem. Die gute Hand ihres Gottes war über ihnen und erwies sich als genügend, ohne Heeresmacht von Seiten des Königs. Die Schätze wurden alle so in dem Tempel abgeliefert, wie sie am Fluss Ahawa gewogen und gezählt worden waren. Alles, was zu Noahs Zeiten in die Arche einging, kam auch wieder sicher und gesund daraus hervor. Nicht ein Körnlein fällt von solchen Schätzen zu irgendwelcher Zeit zu Boden. So kamen auch alle wohlbehalten in Jerusalem an, die Chaldäa verlassen hatten.
Wenn Esra sich jetzt in Jerusalem umsah, so erblickte er etwas, worauf er nur wenig vorbereitet war. Der Anblick war geradezu überwältigend. Es war schnell bergab gegangen mit den zurückgekehrten Gefangenen, und das Verderben war weit vorgeschritten. Welch eine Probe für den Geist eines solchen Mannes! Sie ließ indes bei Esra nur eine Liebe zu Tage treten, die der Liebe Christi ähnlich war: er weinte über die Sünden anderer Menschen. Wiederum für manchen von uns, wenn nicht für uns alle, eine Ursache zur Beschämung und Demütigung!
Ach! Israel hatte sich von neuem mit der Tochter eines fremden Gottes verbunden. Der heilige Same hatte sich mit dem Volk des Landes vermischt. Der Jude hatte sich mit dem Heiden verschwägert.
Soll bei einer Einrichtung auf die Länge Reinheit erhalten bleiben, so muss eine belebende Kraft wieder und wieder in Tätigkeit treten, und neue Absonderungen zu Gott und Seiner Wahrheit müssen unter der Einwirkung jener belebenden Kraft stattfinden. So war es auch jetzt in Jerusalem.
Indes mag es gut sein, hier einen Augenblick still zu stehen, um einige hierher gehörende göttliche Grundsätze etwas näher zu beleuchten. Als die Sünde kam und das Geschöpf samt der Schöpfung durch sie befleckt wurde, musste der HERR, Gott, ein Zeugnis dafür aufrichten, dass jetzt ein Bruch bestand zwischen Ihm und dem, was das makellose Werk Seiner Hände und die Darstellung Seiner Herrlichkeiten gewesen war. Die Verordnung über rein und unrein tat im Anfang diesen Dienst. (Vgl. 1. Mo 8,20)
In den ferneren Wegen Gottes finden wir zwei andere Verfahren ähnlichen Charakters: ich meine Seine Gerichte und Seine Berufungen. Er entfernte durch das Gericht am Tag der Flut die Befleckung von Seiner Schöpfung, in der Absicht, die Erde zum Schauplatz Seiner Gegenwart und Regierung in der neuen oder nachsündflutlichen Welt zu machen. Aber als jene Welt sich gleich der alten wieder befleckte, unterschied Er zwischen rein und unrein dadurch, dass Er Abraham zu Seiner Erkenntnis und zu einem Wandel mit Ihm, getrennt von der Welt, berief. Das sind Beispiele davon, wie Gott seitdem immer gehandelt hat, und wie Er noch heute handelt und stets handeln wird.
Absonderung vom Bösen ist der Grundsatz der Gemeinschaft mit Gott. Sicherlich sind die Wahrheit, die Erkenntnis Gottes, sowie das Leben in Christus die eigentliche Grundlage, das Mittel oder das Geheimnis der Gemeinschaft, aber ohne Absonderung vom Bösen ist jede Gemeinschaft mit Gott unmöglich. Wenn wir dem Hochgelobten nahen wollen, so muss es in einer Verfassung geschehen, die Seiner Gegenwart angemessen ist.
Esra entdeckt bald, dass die Zurückgekehrten alles das vergessen hatten. Sie hatten sich mit dem Volk des Landes vermischt. Sie waren wieder in das Böse verstrickt, von welchem die Berufung Gottes sie abgesondert hatte. Sie waren befleckt. Esra macht sich an das Werk der Wiederherstellung, und er tut das in demselben Geist, in dem er sich bemüht hatte, bezüglich seiner eigenen Person vor und während seiner Reise für Gott dazustehen. Das ist etwas, das wir ganz besonders an Esra zu beachten haben. Er war persönlich ebenso sehr ein Heiliger Gottes, wie er ein begabtes und gefülltes Gefäß war. Dies tritt bei ihm mehr ans Licht, als bei irgendeinem der Männer, die vor ihm unter den Kindern der Gefangenschaft gedient hatten. Er war ein Gefäß, das sich in Wahrheit für den Gebrauch des Hausherrn gereinigt hatte. Die Wiederherstellung in Jerusalem wird mit dem gleichen Eifer ausgeführt, wie die Reise von Babel nach Kanaan; und der Segen Gottes begleitet Esras Tun.
Kein Wunder geschieht, keine Herrlichkeit erscheint, keine außergewöhnliche Kraft kommt zur Entfaltung; nichts ist vorhanden, was über das gewöhnliche Maß oder die üblichen Hilfsquellen hinausginge. Der Dienst wird dem geschriebenen Wort gemäß ausgeübt zur Verherrlichung des Gottes Israels und im Geist der Anbetung und Gemeinschaft. Er ist ein Muster davon, woraus der Dienst heute bei uns besteht oder, wie wir wohl hinzufügen müssen, bestehen sollte. Esra fragt nicht danach, was unter den vorliegenden Umständen tunlich erscheinen könnte, er weicht vor keiner Schwierigkeit zurück und scheut auch weder Arbeit noch Mühe. Er hält die göttlichen Grundsätze aufrecht und bringt das Wort Gottes durch jedes Hindernis hindurch zur Ausführung.
Ich frage: Ist es für die Heiligen unserer Tage nicht erbaulich, die Geschichte der zurückgekehrten Gefangenen zu lesen? Sie enthält eine Fülle von Belehrung, Ermunterung und Warnung für uns, nebst manchem anderen, was uns zum Selbstgericht und zur Demütigung Anlass geben kann.