Vorträge über das Hohelied
Kapitel 3,1-7
Nun finden wir uns mitten im Hohenliede, und in diesem Abschnitt ‑ so wie ich ihn verstehe ‑ ist es die Absicht des Geistes Gottes, uns die notwendigen Herzensübungen zu zeigen, durch die die Braut gehen muss, um geistlicherweise für den Herrn Jesus passend gemacht zu werden ‑ den König in Seiner künftigen Herrlichkeit.
Wir sehen sogleich, dass ein deutlicher Unterschied zu unserer Stellung besteht. Die eigentlichen Übungen für das Herz des Christen beginnen, wenn wir schon fest mit dem Herrn Jesus verbunden sind. Beim Juden ist es nicht so. In unserem Fall ist es unumschränkte, unermessliche Gnade ‑ Christus erhöht, in der Gegenwart Gottes. Er ist nicht lediglich der König, nicht nur auf Erden, wenn auch erhoben, sondern in neuer und himmlischer Herrlichkeit, über alle Erwartungen und Hoffnungen der alttestamentlichen Offenbarung hinaus. Unsere Beziehung zu Ihm ist ganz einzigartig und viel tieferer Art, denn bei uns handelt es sich ja nicht um ein schon vorher erwähltes Volk, mit dem Er Jahrhunderte hindurch gehandelt hatte und das aufgrund Seiner Liebe zu ihrem Vater Abraham gesegnet war.
Nichts Derartiges ist in der Handlungsweise Gottes mit Seiner Versammlung zu finden. Da ist es einzig und allein die Gnade, die Gott uns im Blick auf die Person Christi zuwendet; und dann werden hier Menschen gesammelt, völlig unabhängig von irgendeiner früheren Verbindung mit Gott. So ist es jedoch nicht mit dem Juden. Selbst jetzt, so wird uns gesagt, wird er um seiner Väter willen geliebt. Wir wissen, sie sind „Feinde hinsichtlich des Evangeliums“ (Röm 11), aber „Geliebte um der Väter willen“. Da sehen wir die Grundlage. Obwohl sie gezwungen sein werden anzuerkennen, dass sie alles verloren haben und nur aus Gnade gesegnet werden können, waren sie doch einmal in dieser Stellung. Wir können nichts Derartiges geltend machen. Wir haben wirklich nichts außer dem, was die Gnade uns zuteil werden lässt; frisch und rein und klar lässt sie es uns von Christus zukommen, und es dient zu Seinem Preis.
Jemand, der noch nicht die richtige Stellung des Christen einnimmt, mag Herzensübungen durchzumachen haben; mancher mag sich selbst unter das Gesetz stellen. Unsere völlige Kraftlosigkeit wird uns vielleicht bewusst. Es mag solche Entdeckungen geben, aber ich würde sie nicht als das betrachten, was ich die normalen Übungen des Herzens eines Christen nennen möchte. Für ein Herz, das noch nicht zur Ruhe gekommen ist, sind sie sehr heilsam; aber ein Christ im eigentlichen Sinn des Wortes ist einer, der nicht nur aus Gott geboren ist, und sich nun an Seine Gnade und Güte klammert; ein Christ ist zur Ruhe gekommen. Er hat Frieden mit Gott. Es mag Christen geben, die sich in einem recht ungewöhnlichen Zustand befinden; wenn wir aber an „den Christen“ denken, dann geht es nicht mehr darum. In Bezug auf eine bestimmte Seele kann uns das sehr beschäftigen ‑ um sie in eine wirklich gesunde und der Wahrheit gemäße Stellung zu bringen , aber wenn wir von einem Christen sprechen, meinen wir einen, wie Gott ihn Sich denkt. Wenn er diesen Gedanken nicht entspricht, müssen wir die Hindernisse wegzuräumen suchen; man sollte versuchen, das, was von Gott ist, zu fördern, den Glauben zu stärken und mit Hilfe des Wortes Gottes alles Hindernde wegzuräumen und zu bekämpfen. Das ist alles richtig, aber streng genommen befindet sich niemand in einer gesunden christlichen Stellung, bevor er nicht wirklich in Christus Ruhe gefunden hat und weiß, dass er eine neue Schöpfung ist ‑, dass all das Alte gerichtet und vor Gott hinweg getan ist und er nun deshalb in friedvoller Gemeinschaft mit dem Herrn wandelt. Niemand kann die richtige Stellung eines Christen einnehmen, wenn das noch nicht bei Ihm der Fall ist.
Nun ist es aber klar, dass das bei der Braut hier ganz anders ist. Von der Versammlung im Neuen Testament wird stets angenommen, dass sie in diesem Zustand ist. Es kann ‑natürlich ‑ und wir wissen, dass es so ist ‑ Dinge geben, die dem, was man die Theorie der Versammlung oder die eines Christen nennen kann, ganz zuwiderlaufen. Das ist jedoch nicht Gottes Plan. Die Braut im Hohenliede entspricht noch nicht den Gedanken, die Gott über sie hat, und so kommt es zu den Übungen, durch welche sie gehen muss, um geistlich für den König in Seiner Herrlichkeit passend zu sein. Und wir sehen sie hier im Finstern. „Auf meinem Lager in den Nächten suchte ich, den meine Seele liebt“. Ein bemerkenswerter Zustand. Es ist genau das, was wir in Jesaja 50 haben ‑ in Finsternis wandeln, ohne ein Licht zu sehen. Aber das Vertrauen, die Zuversicht ist da ‑ ja, mehr als das: ihre Liebe zieht sie zu Christus.
Das Wesentliche in diesem Buch ist tatsächlich, dass ihre Gefühle gebildet werden und sie, die solche Empfindungen (was sind sie aber gegenüber den Seinen?) ‑ echte, wahre Zuneigungen zu dem wiederkehrenden König hat, Vertrauen in Seine Liebe gewinnt, die ihre weit übersteigt. Sie hat dies umso mehr nötig, als sie zurückschauen und erkennen muss, dass sie „schwarz“ war ‑ nicht nur „anmutig“, sondern „schwarz“. Sie muss sehen, was sie durchgemacht hat und warum das so war; wo das fehlt, fehlt es an Wahrhaftigkeit, und es kommt nicht zu einer geistlichen Gesundung. Denn ohne Wahrheit gibt es weder jetzt für den Christen, noch bald für den Juden oder für irgendeine andere Seele dauerhaften Segen, Wahrheit im Innern muss stets vorhanden sein, d. h. das Bekennen dessen, was wir in Gottes Augen wirklich sind und was wir vor Ihm getan haben. Zwischen Gott und unserer Seele muss alles klar sein. Und das spürt sie sehr bald. Trotz alles dessen, was sie gewesen ist oder noch ist, lernt sie staunend Seine Liebe kennen. Mag sie auch nicht den Reichtum des himmlischen Teils erreichen, das uns geworden ist, so ist diese Liebe doch kostbar und herrlich und wahrhaft göttlich.
Also: „Auf meinem Lager in den Nächten“. Da mag es diese Dunkelheit geben. Er ist nicht gekommen, und es geht nicht darum, ob er nicht doch da sei. Diese Bilder zeigen uns sehr anschaulich, was sie durchlebt. „ich suchte ihn, den meine Seele liebt“ ‑ denn nun fürchtet sie sich nicht mehr, es einzugestehen. „Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Ich will doch aufstehen und in der Stadt umhergehen, auf den Straßen und auf den Plätzen'. Als ob man Christus dort finden könnte. Nein. Er kommt hier ja nicht durch breite Wege oder Straßen:
Er kommt von der Wüste her. Sie weiß und wird es wissen, dass der Herr sich mit Israel in ihren Umständen, aus denen sie kommen müssen, einsmacht. Das ist jedoch nicht der Ort, wo wir den Herrn wissen.
Wir wissen den Herrn an einem völlig anderen Platz: im Himmel. Das ist für uns Sein eigentlicher Aufenthaltsort und unser Weg, Ihn kennen zu lernen. Aber sie sieht Ihn in der Erwartung und wird zu gleicher Zeit gebildet durch ein immer tieferes Vertrautwerden mit Seiner Liebe, bevor Er kommt.
Ich suchte ihn und fand ihn nicht“. Und das ist kein Wunder; denn sie suchte Ihn nicht in der rechten Weise, nicht am rechten Platz. „Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen“ ‑ die Hüter der Ordnung, aber was konnten sie ihr sagen? Was konnten sie tun? „Habt ihr den gesehen, den meine Seele liebt?“, denn jetzt gibt sie es zu. Sie hat nicht nur diese Liebe, sondern gesteht sie ihnen auch ‑ wenn es auch kaum der passende Ort zu sein scheint. Aber sie tut es eben. „Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich ergriff ihn und ließ ihn nicht, bis ich ihn gebracht hatte in das Haus meiner Mutter und in das Gemach meiner Gebärerin“. Hier erfasst ihre Seele Sein Kommen in Verbindung mit einer erneuerten Beziehung zu Israel.
In all diesen Bildern liegt eine große Kraft. Die Mutter ist nach der Schrift stets Israel, nicht die Versammlung. Die Versammlung wird nie als die „Mutter“ angesehen. Von wem sollte sie auch die Mutter sein? Doch nicht von sich selbst, d. i. von den Christen? Das ist nicht denkbar. Die Versammlung ist nicht die Mutter von Christen, und noch viel weniger ist sie die Mutter des Herrn. Und da erkennen wir plötzlich, wie wichtig es ist, die Beziehungen so zu sehen, wie Gott sie in Seinem Wort entfaltet. Die Mutter ist, wie ich sagte, immer Israel. Die Braut, das Weib ist die Versammlung. Wir finden auch hier eine Braut, aber wir werden sehen, dass da doch ein Unterschied besteht. Wir dürfen die beiden nicht verwechseln. Wir dürfen nicht denken, „Mutter“ und „Braut“ ‑sei dasselbe; und gerade das zeigt die große, schreckliche Blindheit in den Gedanken der Menschen, dass der größere Teil der Christenheit die Mutter im Hohenlied und die Braut als identisch ansieht. Und nicht nur das; sie stecken so in der Finsternis, dass sie meinen, beide seien die Jungfrau Maria.
Ich weiß im ganzen Heidentum nichts, was entwürdigender war und von größerer Finsternis zeugt, als der katholische Aberglaube. Man wundert sich, dass das bei Menschen möglich ist, die die Bibel in Händen haben ‑ selbst das Neue Testament ‑ und, denken wir daran, bei gelehrten und äußerst fähigen Männern, von denen möglicherweise auch einige sogar zu Gott bekehrt sind; denn ich möchte dies nicht leugnen. Und doch ist es eine klare und eindeutige Tatsache, die mich die Erfahrung gelehrt hat, dass dies die Täuschungen sind, die gegenwärtig die Seelen gefangen nehmen und bestricken ‑ noch mehr: Täuschungen, in die Seelen aus einem gewissen Verlangen und einer Sehnsucht nach etwas Besserem, was sie im üblichen Protestantismus nicht finden, verfallen. Was für eine Gnade ist es doch, geliebte Brüder, die Wahrheit und das Wort Seiner Wahrheit zu besitzen!
Wie schön und tröstlich ist es dann für unsere Seelen, wenn wir das 12. Kapitel der Offenbarung betrachten und entdecken, dass ein Buch, das auf den ersten Blick nicht ein Schlüssel zu anderen Teilen der Heiligen Schrift zu sein schien, es doch ist. Die meisten Leute glauben wohl, man brauche einen Schlüssel für die Offenbarung. Tatsächlich ist das Wort Gottes wundervoll zusammen gewoben, und die einzelnen Bücher ergänzen sich gegenseitig in ganz überraschender Weise; so entdecken wir im 1. Buch Mose einen Schlüssel zur Offenbarung, wie auch in der Offenbarung sehr oft einen Schlüssel zum 1. Buch Mose. Und das ist für uns sehr ermutigend; denn Gott ist es ja, der Sein Volk dazu erziehen will, keine Lieblingsbücher zu haben, was stets eine gefährliche Angelegenheit ist. Ob es nun um Menschen oder das Wort Gottes geht, es ist eine große Sache, etwas zu benutzen, ohne es gleichzeitig zu missbrauchen ‑ etwas Großes, offen zu sein für alles, was Gott zu Seiner eigenen Ehre und zum Segen Seines Volkes benutzt.
Nun, das 12. Kapitel der Offenbarung macht die Sache vollkommen klar, denn da haben wir das Weib, und zwar in bemerkenswerter Herrlichkeit: „bekleidet mit der Sonne, und der Mond war unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen Was für ein Weib ist das nun?
Ich brauche wohl nicht auf die Antwort einzugehen, die bei dieser Frage immer so leicht hingeworfen wird: Oh, das ist natürlich die Versammlung. Das stimmt nicht; es ist nicht die Versammlung (Kirche). Denn ihr seht, wie das Weib dort einen männlichen Sohn“ gebiert; und wer ist dieser „männliche Sohn“? Da besteht gar kein Zweifel. Der männliche Sohn, „der alle Nationen weiden soll mit eiserner Rute“ ‑ kann da jemand noch fragen, wer das ist? Es ist Christus und niemand sonst. Christus ist der männliche Sohn, bekleidet mit Macht. Von daher erkennen wir auch sofort, wer das Weib ist; denn immer ist es Christus, durch den die Wahrheit über jede Person und jede Sache ans Licht kommt.
Ich kann Ihn mit dem Zustand meiner eigenen Seele in Verbindung bringen oder auch mit dem Zustand irgendeiner anderen Seele irgendwo. In dem Augenblick, wo man Christus einführt, hat man die Wahrheit. Indem ich den Herrn einbeziehe, lerne ich meinen eigenen Zustand kennen, sehe ich, ob mein Zustand gut oder schlecht ist. Und so erfahren wir stets, wen oder was wir vor uns haben, wenn wir Christus hineinbringen. Wenn wir das bei jenem Kapitel tun, erkennen wir in dem männlichen Sohn Christus; und das Weib ist Seine Mutter. Wer ist sie? Nicht die Versammlung. Die Versammlung ist nicht die Mutter von Christus. Israel, „aus welchem, dem Fleische nach, der Christus ist“, ist die Mutter, wie der Apostel Paulus in Römer 9 lehrt. Und wir erkennen, dass das, was Paulus in Römer 9 so vortrefflich sagt, dasselbe ist, was Johannes symbolhaft in Offenbarung 12 lehrt. Wenn wir nämlich zur Versammlung kommen, haben wir etwas anderes: die Braut, das Weib des Lammes. Ja, das ist die Versammlung. ‑Und dann finden wir noch ein anderes Weib (ich sage das nur nebenbei), die weder das eine noch das andere ist. Sie gibt vor, die Versammlung zu sein, ist aber die Gegenkirche (Antikirche). Genau wie es einen Mann geben wird, der der Antichrist sein wird, so gibt es auch ein Weib, welches die Antikirche ist. Das ist Babylon; Rom ist das große Zentrum von Babylon.
Dann ist also die Bedeutung hier ganz klar: Dieses Weib im Hohenlied verbindet in seiner geistlichen Umarmung, wenn ich so sagen darf, den Einen, den sie liebt ‑ ganz eindeutig der wiederkehrende König ‑ mit dem Haus ihrer Mutter ‑dem „Gemach meiner Gebärerin“.
„Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hindinnen des Feldes, dass ihr nicht wecket noch aufwecket die Liebe, bis es ihr gefällt“! Ich habe die Bedeutung dieser Worte, die dann und wann in dem Buche erscheinen, bereits dargelegt. Sie stehen immer am Beginn einer neuen Schau der Verhältnisse und des Herrn, wie sie von dem Herzen Jerusalems vorweggenommen wird; denn hier müssen wir daran denken, dass Jerusalem die erwählte Braut sein soll ‑ das Jerusalem, das sein wird. Nicht das Jerusalem droben, auch nicht das Jerusalem, das jetzt besteht, sondern das Jerusalem, das sein wird ‑ aus Gott geboren, so wie das Jerusalem droben in Christus eine große neue Schöpfung ist. Aber hier geht es um das Jerusalem, das die auserwählte Braut des Königs sein wird, wenn Er wieder in diese Welt kommt.
„Wer ist sie“? heißt es dann. „Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, wie Rauchsäulen, durchduftet von Myrrhe und Weihrauch, von allerlei Gewürzpulver des Krämers? Siehe da, Salomons Tragbett.“ Klarer kann es gar nicht sein. Salomo ist nicht ein Bild von Christus in Seiner Beziehung zur Versammlung. David mag es sein. Ich sage nicht, dass er es immer ist, aber er war es doch in hervorragender Weise, weil er auf jeden Fall mehr von den Leiden des Herrn kannte und mit der Verwerfung in einer Weise einsgemacht war, wie es bei Salomo nie der Fall war. Salomo kannte nie etwas anderes als Herrlichkeit, er war der Mann des Friedens. Alles, was Salomo betraf, war glänzend und herrlich; und es ist ganz klar, dass dieser Eine, nach dem sie ausschaut, nicht einer ist, der durch Leiden geht.