Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Gott erleuchtet
1. Mose 41,17-36
Der Pharao erzählt seinen Traum, und zwar, wie wir schon sahen, ausführlicher und anschaulicher, als wir ihn vorher gehört haben (vergl. Vers 19.21). Und dennoch, wie bedurfte Joseph jetzt der Weisheit und Erleuchtung von oben, um eine solche Offenbarung Gottes - ohne viel Zeit zum Nachsinnen, so, wie er da stand - richtig und zuverlässig zu deuten! Es mag heilsam für uns sein, uns einmal in diese bedeutsamen Augenblicke im Leben des jungen Mannes hineinzuversetzen.
Denn bedeutsame Augenblicke waren es, schlechthin entscheidend für Joseph. Der große Wendepunkt seines Lebens war da, und eine Ahnung davon wird ihm gekommen sein. Plötzlich und unerwartet sah er sich vor eine Aufgabe gestellt, die nicht nur schwierig, sondern auch überaus verantwortungsvoll war, - von deren richtiger Erfüllung nicht nur sein ferneres Schicksal, sondern auch die Ehre seines Gottes abhing! Und nehmen wir selbst an, dass Joseph dies alles nicht so deutlich empfand - waren nicht schon die äußeren Umstände dazu angetan, den dreißigjährigen „hebräischen Jüngling“ in Furcht zu setzen? Angesichts des mächtigsten Herrschers der damaligen Welt - angesichts eines Mannes, bei dem ein einziger Wink der Hand über Leben und Tod entschied, fürchtet er nichts; auch der plötzliche Wechsel des Schauplatzes zwischen Kerker und Palast, auch die Anwesenheit des glänzenden Hofstaats (vergl. Vers 37.38) beirren ihn nicht: über den Umständen stehend, frei von Menschen, völlig da für Gott! So steht Joseph da, in der Ruhe und Besonnenheit eines Mannes, der in der Schule Gottes gereift war, - wahrhaft geübt, „auf den Herrn zu vertrauen mit seinem ganzen Herzen und sich nicht zu stützen auf seinen Verstand“ (Spr 3,5).
„Und Joseph sprach zum Pharao: Der Traum des Pharao ist einer; was Gott tun will, hat Er dem Pharao kundgetan“ (Vers 25). Das war unzweideutig und klar. So wiederholt er nachher noch einmal (Vers 28), und so hatte er von vornherein gesagt, ehe er noch den Traum gehört hatte: „Gott wird antworten, was dem Pharao zur Rettung ist“ (Vers 16). So schwierig und folgenschwer seine Aufgabe auch war, bedeutete sie doch ein großes, wunderbares Vorrecht; oder sollte es kein Vorrecht sein, mit so jungen Jahren ein Vermittler der göttlichen Gedanken, ein Zeuge Gottes zu sein?
Dieses Zeugnis richtete sich an ein Land, das einem ernsten Gericht entgegenging. Mit ganzem Ernst stellt er sogleich fest: „Es werden sieben Jahre der Hungersnot sein“ (Vers 27). Die von dem gefürchteten Ostwind versengten Ähren wiesen darauf hin (Vers 6.23.27). So sollte es später dem Weinstock des Hauses Israel ergehen (Hes 17,10; 19,12); „ein Ostwind wird kommen, ein Wind des Herrn, von der Wüste heraufsteigend“, und Brunnen und Quell werden versiegen (Hos 13,15; vergl. 2. Kön 19,26; Ps 129,6.7; Jes 9,18 ff.). Und wie oft wird Hungersnot zu einem Mittel göttlichen Gerichts! „Sieben Jahre Hungersnot“ werden später auch dem David angedroht, und Ähnliches finden wir in den Tagen Elias und Elisas (2. Sam 24,13; 1. Kön 17,1 ff.; 2. Kön 8,1 ff.). „Ich werde den Hunger über euch häufen und euch den Stab des Brotes zerbrechen“, ruft der Herr über Juda aus. „Darum werden in deiner Mitte Väter ihre Kinder essen; und Kinder werden ihre Väter essen“ (Hes 5,10.16). Hungersnot - welch ein furchtbares Wort! Noch am Ende der Tage wird es eine der mancherlei Geißeln Gottes sein: „Es werden Hungersnöte und Seuchen sein und Erdbeben an verschiedenen Orten“ (Mt 24,7).
Auf die sieben Jahre „großen Überflusses im ganzen Lande Ägypten“ also folgen sieben Jahre der Hungersnot, und wie das Aussehen der mageren Kühe sich nicht verändert hatte (Vers 21), so wird auch dann „aller Überfluss im Land Ägypten vergessen sein, und die Hungersnot wird das Land verzehren. Und man wird nichts mehr von dem Überfluss im Land wegen dieser Hungersnot danach, denn sie wird sehr schwer sein“ (Vers 30.31). - Wird es nicht ebenso bei dem größten Gericht, jener großen, endlosen „Hungersnot“ sein, bei der ewigen Verdammnis?
Was half es dem reichen Mann an dem Ort der Qual, dass er „sein Gutes völlig empfangen hatte in seinem Leben“? (Lk 16,25). So wird es allen ergehen, die ihr Glück und ihre Befriedigung in diesem Leben, in den Freuden dieser Welt, gesucht und nicht bedacht haben, dass „den sieben Jahren des Überflusses“ einmal „sieben Jahre der Hungersnot“ folgen werden. Wie viel besser war Lazarus daran, der erst Mangel hatte und dann ewiges Glück, wie viel glücklicher sind alle die, die, statt des vergänglichen irdischen das himmlische Teil erwählt haben! War ihr Weg hienieden auch Selbstverleugnung und Verzicht, so werden sie droben gleich Lazarus „getröstet“ werden; die Wasser der Trübsal werden dort für sie zu Wein, und der „gute Wein“ kommt zuletzt: Gott wird an den Seinen „in den kommenden Zeitaltern den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade in Güte erweisen in Christo Jesu“ (Joh 2,10; Eph 2,7). Welche Reihenfolge die bessere ist, kann nicht fraglich sein; wie töricht doch, dass viele Menschen so sorglos den sichtbaren Dingen verfallen sind und der kommenden „Hungersnot“ nicht achten! Und doch ist sie nicht weniger klar bezeugt, als damals die „sehr schwere Hungersnot“ in Ägypten.
„Und die zweimalige Wiederholung des Traumes an den Pharao bedeutet, dass die Sache von Seiten Gottes fest beschlossen ist, und dass Gott eilt, sie zu tun“ (Vers 32). Ich wiederhole: Welch ein Glück für den Pharao und Ägyptenland, ja für die gesamte damalige Welt, einen Joseph zu besitzen! Mit welcher Klarheit deutet er den Traum, und auch über die Kraft eines doppelten Zeugnisses ist er unterwiesen (vergl. 5. Mo 19,15). Und doch handelte es sich nicht in erster Linie um Ägypten und die Welt, sondern um die Brüder Josephs. Wichtige Ereignisse standen bevor, durch die der Herr Seine Gedanken über Sein Volk zur Ausführung bringen wollte, und so erwählte Er sich einen Mann, den Er in diese Dinge einführen konnte. „Denn der Herr, Herr, tut nichts, es sei denn, dass er sein Geheimnis seinen Knechten, den Propheten, offenbart habe“ (Amos 3,7). Und ebenso lesen wir: „Das Geheimnis des Herrn ist für die, die ihn fürchten“ (Ps 25,14). Auch bei Joseph war „die Furcht des Herrn der Weisheit Anfang“ (Ps 111,10).
Denn Gott erwählt nicht nur, sondern bereitet auch zu; der Bewährung in der Öffentlichkeit geht eine solche im Verborgenen voraus. Ehe David angesichts der Schlachtreihen Israels mit fünf glatten Steinen dem Schwert des Riesen gegenübertrat, hatte er bei den Schafen seines Vaters den Löwen und den Bären erschlagen. Ehe Joseph im Palast des Königs die Träume deutete, hatte er es in der Verborgenheit des Kerkers zwei armen Mitgefangenen gegenüber getan. So von Gott erleuchtet, geht er nun über die ihm gestellte Aufgabe hinaus, indem er auch den Weg zeigt, dem kommenden Gericht zu entgehen, „damit das Land nicht vertilgt werde durch die Hungersnot“ (Vers 33-36).